ausgelesen: Scott Hutchins „Eine vorläufige Theorie der Liebe“

Inhalt

Neills Geschichte ist eine Geschichte über Künstliche Intelligenz, Sekten, Sex und Liebe. Neill ist Mitte Dreißig, geschieden und irgendwie orientierungslos. Alle um ihn herum sind irgendwas: Hipster, verheiratet, erfolgreich oder kriminell. Und er? Er kommt klar, aber nach mehr als ‚klar kommen‘ klingt sein Leben nicht. Seine Bekanntschaften sind eher zu Befriedigung seiner Bedürfnisse da. In seinen Job ist er eher zufällig und schicksalhaft geschlittert. Zur Programmierung einer Künstlichen Intelligenz (KI), die den Turing-Test im Rahmen eines Wettbewerbs besteht, wurden Tagebücher gebraucht. Tagebücher, die ein Mensch möglichst viele Jahre seines Lebens konstant geführt hat und die als Vorlage dienen. Eine KI mit Charakter soll es werden. Es findet sich ein Mensch, der Zeit seines Lebens Tagebücher geführt hat: Neills Vater, der Selbstmord beging, als sein Sohn noch auf dem College war. Neill als Nicht-Informatiker arbeitet also an der KI mit, indem er damit chattet und zuvor natürlich die Daten der Tagebücher eingegeben hat. Das ist lange eine mühsame, fruchtlose Arbeit. Reden mit einer Black Box. Nach einigen Versuchen und Änderungen hat Neill aber das Gefühl seinen Vater in den Chats zu erkennen – oder bildet er sich das sein? Und das wirbelt einiges an Staub in Neills Leben auf.

Hintergrund

KI und Informatik hat tatsächlich einen großen Anteil an der Geschichte, ist aber stets leicht verständlich und nicht komplett realitätsfern. Es wird zwar manchmal mit Begriffen um sich geworfen die der Realität entstammen (Turing-Test, OCC-Theorie, regelbasierende Systeme …), dabei findet der Autor aber ein gutes Mittelmaß. Er erwähnt gerade genug, um den Durst der IT-Jünger zu stillen, aber nicht zuviel, um nervig zu werden. Hilfreich ist dabei natürlich auch, dass Neills Sinnsuche im Privatleben viel Raum in der Erzählung einnimmt. Da kommt bei mir doch direkt Neugier auf, ob der Autor im IT-Umfeld arbeitet. Das tut er nicht. Ich dachte immer, dass es eine große Einstiegshürde wäre, über all diese Dinge zu schreiben, wenn man nicht vom Fach ist. Tatsächlich kam Hutchins die Idee zum Roman, als er vom Turing-Test hörte, darüber recherchierte und sogar selber bei dem erwähnten jährlichen Wettbewerb Juror war.

Inwiefern ergibt aber das IT-Gerede Sinn? Tatsächlich tut es das an vielen Stellen, spart aber aus wieviel Genie es benötigt, um einer KI etwas einzuprogrammieren. Es wirkt etwas zu einfach, wenn das Genie aus Neills Firma schnurstracks umsetzt, dass „Dr. Bassett“ (die KI) Wissensdurst hat und den Antrieb hat Fragen zu stellen. Aber da spricht wahrscheinlich auch nur die Softwareentwicklerin aus mir … . Bei einigen anderen Konstrukten ist wahrscheinlich etwas die Fantasie mit dem Autor durchgegangen. Beispielsweise bei den „Sieben Todsünden“, die Erwähnung finden. Das sind Konstrukte, die sich wie die namensgebenden Todsünden verhalten und beispielsweise bei Suchmaschinen eine Rolle spielen können. Es wird nicht mal genau gesagt was es ist, ein Programm, ein Plugin, eine Library, eine Programmiersprache, ein Algorithmus …? Ich vermute aber, dass sich der Autor da von dem Namen Greedy-Algorithmen hat inspirieren lassen. Übrigens gibt es auf der Seite des Autors tatsächlich einen „Dr. Bassett“ zu bewundern – leider wenig smart.

Meinung

Ich bin positiv überrascht. Eigentlich habe ich nicht erwartet, dass die Themen KI und Liebe vereinbar wären. Klar — in Sci-Fi-Settings ist das schon fast an der Tagesordnung. Aber hier ist die KI in der „Black Box“ und man chattet, um zu kommunizieren. Das ist wesentlich bodenständiger, als es die meisten versuchen und auch realitätsnaher. Und man stelle sich vor wie gut das ineinander greift. Neills Orientierungslosigkeit und die sich plötzlich formende Persönlichkeit seines Vaters. Väter und Mütter sind die Menschen, die man um Rat fragt. Neill selber hat aber eine sehr schlecht aufgearbeitete Beziehung seinem Vater und ist sich nicht einmal sicher, ob er ihn liebt. Das gibt den Unterhaltungen eine gewisse Würze und einen doppelten Boden.

Ansonsten ist das Buch in einem sehr angenehmen Stil geschrieben. Locker, leicht und aktuell. Der Autor greift auf, was viele zu selten tun. Er ist zeitaktuell. Er spricht von Hipstern, vom kalifornischen Lebensgefühl, von Google, Orten und Straßen in und um San Francisco von denen ich noch nie gehört habe und das macht irgendwie Spaß. Neill denkt ziemlich viel über sein Leben nach – aber heult nicht die ganze Zeit rum, um es mal flapsig auszudrücken. Ein weiterer sehr angenehmer Aspekt. Wie sein Versuch eine funktionierende Beziehung mit einer Frau zu führen und die Begegnungen mit „Dr. Bassett“ ineinandergreifen, ist gut konstruiert. Trotzdem bin ich nicht frei von Kritik, auch wenn mir das Buch viel Spaß gemacht hat. Die Nennung der Sekte Pure Encounters war für mich eher eine Spaßbremse und hat mich genervt. Ich wusste ehrlich gesagt nicht, dass in Kalifornien Sekten gut laufen und fand es sehr nervig wie groß das Thema dann doch noch im Buch wird und letztendlich auch noch eine entscheidende Rolle spielt. Für mich wirkte die Handlung ab diesem Punkt etwas zerfasert.

Fazit:

Trotz meiner Kritik eines der wenigen Bücher, das die Brücke zwischen KI und (menschlicher) Selbstfindung so gut hinkriegt. Der IT-Teil ist realistisch, interessant und ohne zuviel Tech-Speak. Der emotionale und dramatische Teil ist in einem gesunden Maß, unverkitscht und irgendwie das Gegenteil von desillusioniert. Wo will ich hin? Kriege ich hin, was die anderen haben? Gibt es Liebe überhaupt? Und (eine Frage, die für KI und Mensch gilt): Wer bin ich?

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

9 Antworten

  1. Klingt nach dieser „leichten“ Kost für zwischendurch und somit keinesfalls uninteressant! Danke, das werde ich mir in Zukunft mal vorknöpfen. 🙂

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Super, dann lass mich in dem Fall wissen wie es dir gefallen hat. 😀

      1. Mads Mikkelsen spielt doch mit. Reicht dir das noch nicht als Antwort? ;D
        Aber ja, wirst dann von mir hören.

  2. Klingt gut… Ich hab ja auch noch einen Büchergutschein…. 😀

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Echt jetzt? XD Lass mich wissen wie es dir gefallen hat, wenn du es gelesen haben solltest. 🙂

  3. Oh, vielen Dank für diesen Tipp. Klingt wirklich interessant. Kommt auf meine Liste, aber ich schätze mal, es wird noch ein wenig dauern. Habe mich gerade an „Anna Karenina“ getraut 😉

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Anna Karenina … puh, ich habe irgendwie das Vorurteil im Kopf, dass das sehr anstrengend ist. XD Wie gefällts dir bisher? Ich würde gern mehr Klassiker lesen, aber dann frage ich mich „Warum quälst du dich eigentlich so – du könntest jetzt auch was entspanntes lesen.“ Wobei natürlich nicht alle Klassiker eine „Qual“ sind …

  4. […] zieht. Wenn es drau­ßen wär­mer wird, darf’s dann auch gerne mal leich­tere Kost sein. Sowas zum Bei­spiel. Oder […]

  5. […] Eine vor­läu­fige Theo­rie der Liebe (Hut­chins, Scott) Mann ist Zeuge wie aus den Tage­bü­chern sei­nes ver­stor­be­nen Vaters eine KI gebaut wird und sucht sei­nen Platz im Leben. Schö­ner Genre-Mix aus Drama, Gefühl und ein biss­chen Künst­li­cher Intel­li­genz. Cool, dass es im Jetzt spielt und nicht in einer hoch­tech­ni­sier­ten Zukunft. […]

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