ausgelesen: Shirley Jackson „The Lottery and other Stories“ (engl. Ausgabe)

Dass ich überhaupt von Shirley Jackson gehört habe, ist der Bücherwurm-Plattform meines Vertrauens zu verdanken. Goodreads. Und Kathrin, die vor einer Weile Shirley Jacksons We have always lived in the castle gelesen hat. Durch das Stöbern auf Goodreads kam ich irgendwann zu Shirley Jacksons The Lottery. Wie, weiß ich nicht mehr. War es eine Liste von schauriger oder besonderer Lektüre? Ein Forumsbeitrag? Hat jemand in einer Review ein Buch mit der Geschichte „The Lottery“ verglichen? Die Wege des WWW sind unergründlich. Shirley Jacksons The Lottery wanderte auf meine To-Read-Liste. Kurze Zeit später schrieb Kathrin über ihre Erlebnisse mit Shirley Jackson und ich realisierte erst dann, dass zwei bekannte Schauerromane, deren Namen auch mir geläufig sind (The Haunting of Hill House, We have always lived in teh castle), von Shirley Jackson stammen. Zumindest eine Bildungslücke, die ich schließen konnte. Jetzt galt es die zweite zu schließen und The Lottery zu lesen, denn der Kurzgeschichte eilt ein gewisser Ruf voraus.

Diese Sache mit den Erwartungen

Letzten Endes entschied ich mich für einen Kurzgeschichtenband, damit ich von Jacksons Werk noch ein bisschen mehr mitbekomme. Dass Penguin Classics eine Ausgabe mit einem stimmungsvollen, schönen Cover hat (wie so oft), nahm mir die Entscheidung ab, ob ich auf Deutsch oder Englisch lese. Ich bin so durchschaubar. Man. Was mich sehr antrieb war der Ruf von The Lottery, aber auch die Erkenntnis, dass ich bisher von frappierend wenigen weiblichen Autoren gelesen habe. Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen. Als ich die ersten Kurzgeschichten las, war ich aber etwas ratlos. Nicht, dass sie nicht gut geschrieben oder interessant gewesen wären. Nein, sie waren kurzweilig, spannend geschrieben und kommen schnell zum Punkt. Die ersten Geschichten in der Ausgabe sind The Intoxicated und The Daemon Lover. Mit dem Vorwissen, dass Shirley Jackson Schauergeschichten geschrieben hat, ging ich an meine erste Shirley-Jackson-Geschichten mit der Erwartung heran, dass diese einen doppelten Boden haben müssten. Einen Mystery-Twist. Gruselig sein müsste. Oder Dystopien, deren moralische Verwicklungen mit die Nackenhaare zu Berge stehen lassen müssten. Tatsächlich las ich die Geschichten aber und war mir vollkommen im Unklaren, ob es in The Daemon Lover jetzt wirklich um einen Geist oder Dämon geht, der eine junge Frau hinters Licht führt oder um einen Mann, der am Tag seiner Hochzeit stiften geht. Bei The Intoxicated ging es mir ähnlich. Es hätte so oder so sein können. Eine normale Begebenheit, eine Unterhaltung wie man sie möglicherweise jeden Tag führt oder ein Ausblick auf eine düstere Zukunft, die schon beschlossen zu sein scheint. Ich war wirklich ratlos wie ich die Geschichten deuten soll und gleichzeitig auch fasziniert, dass beide Möglichkeiten existieren.

„And other Stories“

Hätte ich vorher nicht gewusst, dass Shirley Jackson einige bekannte Schauergeschichten geschrieben hat, dann hätte ich die Kurzgeschichten aber möglicherweise nie so gedeutet. Da wird einmal wieder klar, dass die menschliche Interpretationsgabe und Anpassungsfähigkeit unsere Meinungen und Empfindungen fast zu einem Fass ohne Boden macht. Spannend. Nach der dritten und vierten Geschichte war ich vollends von Shirley Jackson überzeugt und davon, dass sie eben nicht nur Schauergeschichten geschrieben hat. Stattdessen widmet sie sich den Menschen und der Gesellschaft mit ihren unsichtbaren Regeln und dem abgründigen innerhalb der Köpfe der Menschen. Das Zusammenleben nimmt dabei manchmal groteske Formen an. Die Eigenheiten der Menschen werden entlarvt, wenn sie beispielsweise krampfhaft an den Regeln der Gesellschaft festhalten bis sie diese eigentlich mit Füßen treten und sich von ihrer eigenen Menschlichkeit entfernen. Like mother used to make handelt beispielsweise von einem Gastgeber, der sich sang- und klanglos aus seinem eigenen Heim vertreiben lässt. Trial by combat von einer Frau, die versucht herauszufinden, wer regelmäßig Kleinkram aus ihrem Zimmer entwendet. „Of Course“ handelt einfach von einer Frau, die ihre Nachbarin kennenlernt, die ihr erklärt, dass sie nicht ins Kino gehen. Und auch nicht Radio hören. Und dieses und jenes nicht tun. Und das und das auch nicht. Das würden sie ja niemals tun. Ihr Mann will das nicht. Das entlarvt zum Einen den bedingungslosen Gehorsam, den eine Ehefrau in der Mitte des letzten Jahrhunderts ihrem Mann gegenüberbrachte, selbst wenn sie dessen Ansichten für Schwachsinn hält. Zum Anderen entlarvt es das Misstrauen gegenüber den Medien, allerdings auch die daraus entstehende Engstirnigkeit, wenn man sich nie mit anderen Ansichten auseinandersetzt.

„It isn’t that,“ Mrs Harris said. „We do not go to the movies, any of us.“ (p. 231, „Of Course“)

„Sometimes, she thought, stacking the dishes in the kitchen, sometimes I wonder if men are quite sane, any of them. Maybe they’re all just crazy and every other woman knows it but me, any my mother never told me and my roommate just didn’t mention it and all the other wives think I know … .“ (p. 287, „Got a letter from Jimmy“)

Es gibt viele Geschichte, in denen Jackson in nur wenige Zeilen eine Botschaft presst, die verblüfft und entlarvt. Flower Garden beispielsweise handelt von Rassendiskriminierung und davon, dass eine neue Nachbarin anfangs für ihren gepflegten Garten und ihre Erscheinung bewundert wird. Als sie aber einen Schwarzen anstellt, der Gartenarbeit für sie erledigt, gebrandmarkt und ausgegrenzt wird. „Colloquy“ hingegen handelt von einer Frau, die das was sie in der Zeitung liest entweder schrecklich findet oder anderes wie eine Verschleierung und hanebüchen. Letzten Endes geht sie zum Arzt, weil sie denkt, dass sie selber verrückt sein muss. Denn so seltsam kann die Welt doch nicht geworden sein? Damit sind Shirley Jacksons Geschichten pointenreich und ein Spiegelbild der Gesellschaft, die sich oft selbst ins Aus schießt oder widerspricht. Nicht selten meint man aus ihren Geschichten einen gewissen Zivilisationshorror oder Kleinstadtknatsch herauszuhören, der das friedliche Bild des Vorort-Traums stört. Manchmal schimmert in ihren Geschichten aber auch ein verblüffend surrealistischer Lichtkegel heraus. Beispielsweise wenn in The Tooth eine Frau mit heftigen Zahnschmerzen in die Stadt zu einem Kieferchirurgen reist. Unter dem Einfluss von starken Schmerzmitteln schläft sie immer wieder im Bus oder in Cafés ein bis sie es endlich in den OP schafft. Es wirkt wie eine Odyssee. Sie hat den Eindruck, dass sie aber nur noch aus „Zahn“ besteht. Und als er ihr gezogen wurde und die Odyssee bald beendet ist und sie endlich wieder heim darf, stellt sie fest, dass sie sich beim Blick in den Spiegel nicht mehr erkennt. Selten habe ich eine Geschichte gelesen, die so perfekt zwischen realistisch und surrealistisch wechselt – und v.A. so pointiert, plötzlich und unvermittelt. Angefangen hat alles mit einem Zahn und zum Schluss sind wir beim Thema Identität. Darin ist Shirley Jackson wirklich extrem gut.

„The Lottery“

Natürlich ist die Geschichte, die am bekanntesten ist und auf die auch ich am gespanntesten war, ganz am Ende des Buches. Die nur ca. zehn Seiten haben mich ganz schön lange warten lassen. Aber die haben es in sich und sind nicht umsonst eine der berühmtesten Geschichten von Shirley Jackson. The Lottery erzählt ganz linear und selbstverständlich von einem jährlichen Brauch der Bewohner eines Dörfchens. Sie sammeln sich langsam und stetig zur alljährlichen Lotterie. Erst nach und nach wird dem Zuschauer bewusst, dass es sich dabei um das Auswahlverfahren für ein Menschenopfer handelt. Und die Erkenntnis trifft einen hart. Die Selbstverständlichkeit mit der alle die Lotterie behandeln und darüber sprechen ist verblüffend und grausam, wenn sich das ganze Ausmaß des Brauchs offenbart. Umso zynischer ist die Zeile

„Although the villagers had forgotten the ritual and lost the original black box, they still remembered to use stones.“ (p. 301, „The Lottery“)

Tatsächlich bekam Shirley Jackson erstaunlich viel Gegenwind. Viele Leserbriefe, die sie erhielt, waren nicht unbedingt freundlich formuliert (Quelle). Für ihren Schreibstil spricht, dass die Geschichte für so realistisch gehalten wurde, dass viele Leser nachfragten wo denn das Ritual noch stattfinden würde. Das hinterlässt einen seltsamen Beigeschmack. Was sagt das über die Menschen aus, dass sie es für möglich halten, dass das so oder so ähnlich irgendwo passiert? Oder ist das ein Indiz von Sensationslust?

Über Frauen, die Gesellschaft und ein „Lesegefühl“

Was mich an Jacksons Geschichten sehr begeistert ist, dass sie meistens weibliche Hauptcharaktere haben. Mir ist beim Anfertigen der Starke Frauen in der Literatur Blogparade bewusst geworden, dass ich bisher nicht nur von wenigen Autorinnen Bücher gelesen habe, sondern dass auch die Mehrzahl der Hauptcharaktere aus Büchern, die ich gelesen und gemocht habe, männlich sind. Und das schmeckt mir nicht. Jackson rückt aber die Frauen ins Licht und gibt ihnen eine Stimme. Sie sind es, die den Laden schmeißen und die Doppelmoral ihrer Nachbarn entlarven. Aber sie sind auch ein Spiegelbild der Gesellschaft in der Mitte des 20. Jahrhunderts, wo die Frauen nicht zwingend arbeiten gehen und der Mann die Hosen anhat und bestimmt wo es langgeht. Trotzdem sind die Frauen hier stets die Helden der Geschichte. Neben The Lottery wurde The Tooth schnell zu einer meiner Lieblingsgeschichten der Sammlung. Zwar spielen sie alle in einem gemäßigten, geordneten Umfeld, sprechen aber meisten kleine Alltagsgeschichten an, die uns stirnrunzeln lassen oder manchmal sogar kleinen Alltagshorror. Sie beunruhigen und entlarven die Unschärfe unserer eigenen Moral.

Aber wie das eben so mit Kurzgeschichtensammlungen ist, gibt es da meist auch einige, mit denen man wenig anfangen kann. Es gibt ganze Geschichten der Sammlung, bei denen ich bis jetzt noch nicht weiß, was ich mit denen anfangen soll. Oder sagen wir es mal so: ich kann es erahnen, aber es holt mich nicht ab. Das sind beispielsweise Geschichten wie A fine old firm, Got a letter from Jimmy (trotz des witzigen Zitats, das ich weiter oben eingefügt habe) oder Dorothy and my grandmother and the sailors. Aber das ist etwas, dass man vermutlich mit den meisten Kurzgeschichtensammlungen erlebt. Ein Merkmal von Jacksons Schreibstil ist gleichzeitig Pluspunkt und Makel. Sie schildert sehr nüchtern das erlebte als externer Erzähler, als Beobachter und nur selten die Gedanken ihrer Protagonisten. Dadurch muss man sich manchmal das Geschehen selber zusammenreimen und fragt sich „Was ist denn jetzt passiert?“ Dadurch und weil es die englische Ausgabe ist, fühlt ich mich oftmals an den Englischunterricht erinnert, wo man Kurzgeschichten, die zum Denken anregen und die Lösung nicht auf der Hand liegt, gerne mal vorgelegt bekommt.

Fazit

Ein guter Einstieg in das Werk von Shirley Jackson, das aber keine der Schauergeschichten enthält, sondern mehr satirisch angehauchte Kurzgeschichten.

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

7 Antworten

  1. Aw, das klingt toll! „The Hauting of Hill House“ hatte ich ja eh schon auf meiner Merkliste, aber die Kurzgeschichten hatte ich bisher gar nicht auf dem Schirm. „The Lottery“ klingt verdammt heftig und spannend im Hinblick auf die psychologischen und sozialen Aspekte. Aber auch auf den Rest hast du mich neugierig gemacht – besonders diese Doppel- oder Mehrdeutigkeiten und Unklarheiten reizen mich gerade sehr. … So hüpfen also die Shirley-Jackson-Empfehlungen zurück zu mir. 😀 Meine Wunschliste wird auch nie kürzer … 😉

  2. Die mehrdeutige Erzählweise klingt wirklich sehr spannend. Ich glaube gerne, dass es beunruhigen kann viele Sichtweisen auf etwas in Betracht zu ziehen. 😉

  3. Ich bin ein großer Fan von Shirley Jackson und lese ihre Kurzgeschichten sehr gerne. Ich glaube der Begriff „Schauer/Horror“ passt nicht wirklich, aber wir sind heute wahrscheinlich auch einfach abgehärteter als zu Jacksons Zeiten. Wobei ich „The Lottery“ schon krass fand insbesondere für die damalige Zeit.
    Ein Buch, dass einen sehr überraschenden Einblick in ihr Leben gibt ist ihre Biografie „Life among the Savages“ über ihr Leben als Mutter von vier Kindern in einem ziemlich chaotischen Haus.
    Ich habe vor einer Weile „The Haunting of Hill House“ gelesen und mochte es sehr:
    https://bingereader.org/2015/05/04/the-haunting-of-hill-house-shirley-jackson/

  4. […] Miss Booleana macht Lust auf die Kurzgeschichten von Shirley Jackson. […]

  5. […] erwartet uns Mitte Oktober The Haunting of Hill House auf Netflix, die Umsetzung des gleichnamigen Shirley Jackson Romans. Den habe ich leider nicht geschafft vorher zu lesen, aber das hemmt nicht die Neugier. […]

  6. […] Hill House“ zu schauen, was mich v.A. deswegen lockt, weil es auf einer Literaturvorlage von Shirley Jackson beruht – wohl leider aber nur lose. Ich konnte trotzdem meine Neugier nicht zügeln und […]

  7. […] House“ waberte schon länger um mich herum. Spätestens seitdem ich das erste Mal etwas von Shirley Jackson las. Aber die Netflix-Serie war dann doch irgendwie schneller – und ich fand sie großartig! […]

Schreibe einen Kommentar zu voidpointer Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert