ausgelesen: Reinhard Stöckel „Der Lavagänger“

Als Henri Helder die Schuhe seines Großvaters erbt, sind da v.A. erstmal fragen. Was sind das für Schriftzeichen auf den Schuhen? Seine Familie sprach von dem Großvater als der Lavagänger: was meinen sie damit? Ist er wortwörtlich mit ihnen über Lava gegangen? Henri hat Visionen von einem, der Lava in seinen Fußabdrücken hinterlässt und von sich aufreißender Erde, die ihn zu verschlingen droht. Das sind Vorahnungen, denn von den Schuhen weißt er zu dem Zeitpunkt nichts. Die Metapher liegt aber auf der Hand, wenn man sieht wie die Computerisierung schleichend seinen Arbeitsplatz als Eisenbahner überflüssig macht. Seine Frau verlässt ihn – nicht wegen der eingeschlafenen Beziehung, sondern wegen eines Jobs. Und auch nicht wortwörtlich, sondern erstmal nur räumlich. Henris Welt wird etwas eng. Da sind die Geschichten vom Lavagänger eine willkommene, mythische Abwechslung, die ihn dann tatsächlich auf den Spuren des Großvaters um die Welt führt.

Reinhard Stöckl – Der Lavagänger

Henris Orientierungslosigkeit im Leben verschlägt ihn aber zuerst zurück zu seinen Eltern in die ländliche Gegend in der Nähe von Cottbus. Die oder eine ähnliche ist auch das Zuhause des Autors Reinhard Stöckel. Und auch meine! Eine Überraschung, die zumindest mich als Leserin sehr gefreut hat. Meine Wahl-Heimat findet auch noch Erwähnung. Der Bahn sei dank. Denn um Bahnen geht es viel. Die Familie Helder bis hin zu Hans Kaspar Brügg sind nämlich Eisenbahner. Nicht selten geht es um Fahrpläne, Strecken und die Reichsbahn. Eisenbahn ist ein Familien-Ding. Und wer damit wenig anfangen kann, fühlt sich unter Umständen etwas deplatziert zwischen der Eisenbahn-Romantik und dem Heimatgefühl der brandenburgischen Dörfer. Henris Ansichten, sein stillstehendes Leben und die etwas geschwollene Sprache, die ihn (zu) früh als ‚Helden‘ deklariert und mit gefühlt zwanzig Wortspielen pro Satz kleidet, wirkt zu gewollt, wie zuviel heiße Luft. Im Gegensatz zu Hans Kaspar Brüggs exotischer Odyssee (auf die wir an diesem Punkt noch ungeduldig warten müssen), wirkt Henris Rückkehr in die heimatlichen Festsäle regelrecht bieder. Eben wie ein Eisenbahner, der die Strecken in aufregende Teile der Welt aus dem ff kennt, aber nie befährt. Es dauert zu lange bis Henri neugierig wird. Ich hätte fast das erste Mal seit zehn Jahren einem Buch keine Chance mehr gegeben und es weggelegt. Dass bei Henri irgendwann der Knoten platzt und er sich auf die Suche nach der Geschichten hinter den Schuhen begibt, anstatt auf hundert Seiten zu versuchen sie loszuwerden, war mir klar. Aber ich wäre fast nicht bereit gewesen, das mit eigenen Augen zu lesen.

Der Anfang des Romans ist also holprig. Die übernatürlich anmutenden Vorahnungen passen auch nur bedingt zu der Odyssee, die sich im Rest des Romans ausfächert. Auf der Suche nach Informationen zum Verbleib seines Großvaters Hans Kaspar Brügg stellt Henri nach den erwähnten Anfangsschmerzen Nachforschungen an. Zuerst in der eigenen Familie, später führt ihn die Spurensuche über San Francisco und Hawaii. Aber die Reise geht noch weiter. In Rückblicken in Hans Kaspar Brüggs Werdegang zum Lavagänger erlebt der Leser, dass er und seine Schuhe weit herumgekommen sind. Da geht es um die Türkei und Syrien, die Deportation und Hetze gegen die Armernier und die Geschichte einer verhinderten, großen Liebe. Um Australien, ein Königskind, wo man es am wenigstens erwartet und ein Haus mit zwei Müttern. Die Geschichten und ihre Verwicklungen werden regelrecht künstlerisch ineinander verschlungen, die exotischen Schauplätze tun ihr übriges. Und das wohl größte Plus sind die sehr diversen Charaktere mit Spleens und teilweise fantastischen Familiengeschichten. Und das entschuldigt für das nur langsame Fahrt-aufnehmen der Geschichte und entschädigt für das Durchhalten.

Letzten Endes hat sich das Dranbleiben also gelohnt. Auf den letzten hundert Seiten erinnert mich der Roman sogar an Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez, aufgrund der genialen familiären Verstrickungen und Pfade, die sich plötzlich vor den Augen des Lesers auftun. Und es ist immerhin noch menschenmöglich das nachzuvollziehen, im Gegensatz zu Marquez‘ Buch. Allerdings gleicht Der Lavagänger Büchern von Marquez‘ nicht was das sprachliche betrifft. Die Schachtelsätze mit endlos aneinandergereihten sprachlichen Figuren wirken ermüdend, genauso wie die ständige indirekte Rede. Es ist sogar noch weniger als das, es ist direkte Rede mit weggelassenen Anführungszeichen. Darüber kann man hinwegsehen: es ist nicht jedermans Sache. Was aber sicherlich jedem früher oder später durch den Kopf gehen wird ist die Frage: woher weiß Henri das jetzt alles? Oder eben die anderen Erzähler, die Henri aufschlauen? Ganz schlüssig wirkt es nicht immer. Genauso fabelhaft wirkt es wie Henri überall auf der Welt aufgrund seiner Schuhe erkannt wird. Stilistisch ist Reinhard Stöckels Buch sicherlich nicht für jeden etwas. Das ist gut und schlecht. Es heißt Stöckel bedient sich nicht des sprachlichen Einheitsbreis, andererseits kann das auch an der einen oder anderen Stelle suboptimal sein. Aber wie ging das alte  indianische Sprichwort? Bevor du über einen Menschen urteilst, gehe drei Monde lang in seinen Mokassins.

Fazit

Familienroman und Odyssee an wunderbare Schauplätze und in die Geschichte, die künstlerisch verwoben sind, aber durch einen zähen Start ggf den Leser verprellen, bevor man zum wirklich guten Finale kommt. Stilistisch Geschmackssache.

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

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