ausgelesen: Bernhard Schlink „Olga“

Olga Rinke wächst in Armut im deutschen Kaiserreich auf. Nach dem Tod ihrer Eltern wohnt sie bei ihrer Großmutter väterlicherseits, die Olgas Mutter nie schätzte, genauso wie deren Herkunft und den slawischen Namen „Olga“. Sie will, dass das Mädchen den Namen ablegt und von nun an einen guten deutschen Namen annimmt. Edeltraud, Hildegard oder Helga. Aber Olga weigert sich. Die Großmutter hält sie von da an für undankbar und schwierig. Olga hat aber einfach ein Verständnis für Treue, Loyalität, ihre Herkunft. Sie ist wissensdurstig und diszipliniert. Sie gibt nicht viel auf Schulen für höhere Töchter – sie haben eh nicht das Geld dafür. Aber sie möchte Bildung, lesen, lernen. Genauso untypisch wie sie für ihre Zeit und die Gesellschaft, in die sie hineingeboren wurde, ist Herbert. Der Junge will so schnell so weit so viel – will rennen, bevor er laufen kann. Beide verlieben sich ineinander, aber dass was sie vom Leben wollen, steht im krassen Gegensatz zueinander. Olga erkämpft sich eine gute Ausbildung und wird Lehrerin, während Herbert Soldat und Abenteurer wird und dass manchmal ohne Sinn und Verstand. Er macht sie zu einer Wartenden bis er seine Träume ausgeträumt hat und so erlebt der Zuschauer wie sich Olga durch den ersten, zweiten Weltkrieg und die Zeit danach schlägt.

In einem Interview auf der Leipziger Buchmesse 2018 gab Bernhard Schlink an, dass die Idee für Herbert zuerst da war. Es gab ein reales Vorbild für den Abenteurer. Dann aber stellte sich Schlink die Frage: wie ist es wohl mit so einem Mann zu leben? Und ich bin sehr dankbar, dass letzten Endes Olga die Protagonistin dieser Geschichte geworden ist. Man verzeihe mir, aber: es gab schon genug Geschichten über Männer die zu hoch hinauswollen. So wird Olga zu Herberts Gegenpol. Beide wollen viel und erarbeiten es sich hart. Während es aber Herbert für die Erfüllung seiner Träume in ferne Länder zieht, möchte Olga Lehrerin sein. Ihre Lebensmodelle, wie man im fancy Neudeutsch sagen würde, passen nicht zueinander. Olga entscheidet sich aber bewusst dagegen Herbert zu knebeln oder mit ihm zu gehen. Auch wenn sie dafür einsam ist. Dass macht sie zu einer ungewöhnlich starken Frau, die ihrer Zeit voraus ist. Was man schon alleine daran schmerzlich merkt mit wieviel Feuereifer sie sich eine Ausbildung ermöglicht.

„Was willst du mit der Unendlichkeit, wenn du sie erreichst?“ (Olga an Herbert) p. 33

Olga ist allerdings noch viel mehr. Sie wird zu einer Kritikerin deutscher Allmachtsfantasien. Herbert und viele andere rennen in ihr Unglück, weil sie das Bild des tapferen, deutschen, großen Mannes verkörpern wollen. Megalomanisch ziehen sie von einer Katastrophe in die nächste. Solange Deutschland drauf steht, ist alles in bester Ordnung. Im Laufe der Geschichte wird sie mehrmals sagen, dass alle immer zu groß denken und dieser Fluch der Deutschen wird sie bis in ihren Tod begleiten. Bis dahin macht Olga eine Menge durch. Zwei Kriege, Krankheiten und vor Allem wird sie von den Menschen enttäuscht, die nicht soviel Bodenständigkeit beweisen wie sie. Denis Scheck hat in Druckfrisch Schlinks Buch kritisiert. Zerrissen möchte ich fast sagen. Schlink wäre ein „biederer Chronist deutscher Geschichte“. Ziemlich frech. So bieder kann es nicht sein, wenn Olga so fasziniert, dass ich das Buch nicht aus der Hand legen konnte. Olgas aufrüttelnde Fragen sind heute noch aktuell. Egal ob zwischen Frauen und Männern oder einfach zwischen denen, die zurückgelassen werden und denen, die im Stich lassen:

„Schnee und Eis, Waffen und Krieg – dem fühlt Ihr Männer Euch gewachsen, aber nicht den Fragen einer Frau.“ p. 298

Schlinks Buch, erschienen bei Diogenes in einer handlichen, kleinen Ausgabe, ist extrem kurzweilig. Olgas Lebensgeschichte wird in kurzen Kapiteln prägnant erzählt. Es mag nicht wahnsinnig mit Metaphern und sprachlichen Bildern ausgeschmückt sein und Fans historischer Romane haben die Geschichte der starken, wartenden Frau, sicherlich schon so oft gelesen wie die des Abenteurers, der sich übernimmt. Aber von dieser starken Frau zu lesen, die ihrer Zeit mindestens ein halbes Jahrzehnt voraus ist, macht v.A. dank der Fähigkeit Schlinks Spaß, in nur wenigen Sätzen ein Bild seiner Charaktere und des Zeitgeschehens zu zeichnen. Zeit ist förmlich kein Maß – es fliegt nur so an einem vorbei wie es sich angefühlt haben muss damals zu leben. Und dann kommt der Kniff: was man die ganze Zeit für einen allwissenden Erzähler gehalten hat, stellt sich lange nachdem Olga gegangen ist, als ihr Chronist heraus. Ein Vertrauter, Ferdinand, der die schwarzen Flecken von Olgas und Herberts Geschichte recherchiert. Eine spannende Zeitreise, mit einer starken Protagonistin, die einem glaubhaft das Zeitgefühl vermittelt, als sich Deutschland noch für krankhaft großartig hielt.

„Ich sehe Dich vor mir, wie Du mich anschauen würdest, wenn Du mir zuhörtest. Unsicher, was ich von Dir will, gekränkt, weil Du nichts getan hast, dessen du angeklagt zu werden verdienst, schuldig, weil Du mich nicht so liebst, wie ich Dich liebe, hoffend, dass alles bald wieder gut ist. Du bist ein Kind, Herbert.“ p.235

Fazit

Die beeindruckende Geschichte einer Frau, die früher als alle anderen ein faules Zeitgefühl entlarvt hat

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

2 Antworten

  1. Danke für das Review. 🙂 Hm, ich weiß nicht ob Biederkeit tatsächlich so schlecht ist, aber sicherlich wollte er mit der Wortwahl auch provozieren. Evtl. ist es doch auch keine unkluge Wortwahl, wenn man ihr eine tiefere Bedeutung zu geben bereit ist. Ich kenne zu wenig von Schlink als dass ich sowas beurteilen kann.
    Manchmal habe ich den Verdacht, dass Entwicklung und Geschichte einem Land eine Persönlichkeit geben könnte, die sich in den Bürgern selbst wiederfindet. Mit meiner schlechten Allgemeinbildung ist es vermessen, aber wenn ich die Geschichte Deutschlands in den letzten 150 Jahren betrachte, dann wirken die Reaktionen so greifbar und verständlich, wie die einer Person und leider zum Teil auch einer unvernünftigen und unmündigen Person.

    Die Zitate die Du gewählt hast, klingen auf jeden Fall nach einem sehr lesenswerten Buch. Gerade „die Deutschen“ sollte wohl eigentlich wissen, dass der Mensch irrt so lang er strebt, aber es ist ja auch immer eine Frage der Alternativen.

  2. Ich freu mich noch immer für dich, dass „Olga“ dich so genauso beeindruckt hat wie das Live-Erlebnis mit Bernhard Schlink. 🙂

    Du weißt ja, dass ich auch schon ewig mit dem Buch liebäugle. Ironischerweise hielten mich aber die meisten bisherigen Besprechungen vom Kauf ab, weil sie mir trotz Begeisterungsstürmen keine Neugier auf die Geschichte machen konnten – viele Schilderungen in Rezensionen klangen für mich so nichtssagend. Aber in den Zeilen spüre ich die Liebe zur Geschichte und kann mir ein so präzises Bild vom Buch machen, fast so, als hätte ich es schon selbst gelesen. Und damit möchte ich dieses schmale Buch nun unbedingt lesen. 🙂

    Außerdem Kompliment für so wunderbare Sätze wie diese:
    „Zeit ist förmlich kein Maß – es fliegt nur so an einem vorbei wie es sich angefühlt haben muss damals zu leben.“
    „Eine spannende Zeitreise, mit einer starken Protagonistin, die einem glaubhaft das Zeitgefühl vermittelt, als sich Deutschland noch für krankhaft großartig hielt.“

    🙂

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