Serien-Besprechung: „Violet Evergarden“, der Anime, das World-Building und die Typografie

Bereits 2017 pfiffen die Spatzen von den Dächern, dass Kyoto Animation die gefeierte Light-Novel-Reihe von Akiko Takase namens „Violet Evergarden“ (ヴァイオレット・エヴァーガーデン) als Anime produzieren würde. Und Kyoto Animation steht seit einigen Jahren für Qualität. Nicht zuletzt, weil sie ihre Zeichner/Animatoren nicht per Frame bezahlen, sondern über ein vereinbartes Gehalt. So entsteht nicht der Drang der Quantität und das schlägt sich in der Arbeit nieder. Trotzdem hat mich das Studio bisher mit seinen Stoffen wenig tangiert. Es ist beispielsweise bekannt für „Free!“ und „K-On!“, denen allerdings niemand ihre dynamischen und hoch-qualitativen Visuals streitig machen kann. A Silent Voice war meine erste Begegnung mit dem Studio und ich war begeistert. „Violet Evergarden“, eine der jüngsten Serien des Studios, sorgte dann auch noch für Aufsehen, weil es von Netflix lizensiert wurde, plötzlich länderübergreifend und v.A. sehr ad hoc verfügbar war und nun das Label „A Netflix Original“ trägt. Und der Anime bietet viel Stoff zum drüber sprechen. Review ist spoilerfrei.

„Violet Evergarden – Netflix Trailer (Deutsch)“, via Anime2You (Vimeo)

Jeder Brief ist es wert geschrieben zu werden

„Evergarden“ ist die Familie, in deren Obhut die ehemalige Soldatin Violet übergeben wird, die irgendwo an der Schwelle zwischen Kind und junger Frau steht. Im Krieg hat sie erst kurz zuvor ihre beiden Arme verloren und muss sich an mechanische Prothesen gewöhnen. Ihre sozialen Fähigkeiten sind gelinde gesagt unterentwickelt. Sie versteht das Verhalten und die Gefühle ihres Gegenübers selten. Ihr Major, nach dem sie ständig fragt, hat ihr auf dem Schlachtfeld gesagt, dass er sie liebt. Ein Satz, den sie nicht verstanden hat. Nach dem Krieg gibt es Leute, die sich um sie kümmern und ihr den Weg weisen wollen wie die Familie Evergarden oder Hodgins, ein langjähriger Freund des Majors. Um den Satz „Ich liebe dich“ des Majors verstehen zu lernen, beginnt sie eine Ausbildung als AKORA in Hodgins Firma CH Postal Service, die Briefe für Leute schreiben und zustellen, die dessen nicht mächtig sind aufgrund von Analphabetismus, weil sie es nicht über sich bringen oder gesundheitlich dazu nicht in der Lage sind – neben vielen anderen Gründen, die die Serie präsentiert. Natürlich fällt das gerade Violet sehr schwer und es gibt Wachstumsschmerzen, wenn sie und ihre Umwelt sich aneinander gewöhnen müssen. Aber nach und nach kommt sie der Antwort auf ihre Fragen näher.

Die Welt und Typografie von „Violet Evergarden“

Es wirkt ein wenig wie Luxus, dass einer jemanden zu sich bestellt, der ihm einen Brief schreibt. Aber in der Welt von Violet ticken die Uhren anders. Sie spielt in einer viktorianisch angehauchten Welt, die unserer nicht unähnlich ist. Das digitale Zeitalter ist hier weit entfernt, es gibt keine Emails und sich Ghostwriter zu holen, die einem Briefe schreiben ist nicht ungewöhnlich. Eins der geflügelten Worte der Serie ist Jeder Brief ist es wert geschrieben zu werden und so führt uns die Serie mit verschiedensten Menschen zusammen und thematisiert auch den Krieg und die Länder, die daran beteiligt waren. Lange Zeit sogar ohne Schuldige oder Ursachen zu benennen, was sie leider gegen Ende nicht mehr hält. Das Land, in dem Violet lebt und als AKORA arbeitet, heißt Leidenschaftlich und auch ansonsten finden sich verblüffend viele europäische angehauchte Namen. Die Landschaften variieren von mitteleuropäisch gekrönt mit Palmen bis tropisch bis nordisch-verschneit und decken liebevoll verschiedene Vegetationen, Traditionen, Kleidung und Lebensstile ab. Da hat sich jemand Mühe gegeben!

Das aber wahrscheinlich auffälligste dürfte die Typografie sein. Die Welt von Violet Evergarden folgt erstens mal Romaji, also im Kern westlicher Schreibweise bzw. einem an das lateinische angelehnte Alphabet, das aber mit einem anderen Font daherkommt, der manchmal an Deutsch, manchmal an das kyrillische oder griechische Alphabet erinnert und in jedem Fall sehr geometrisch und filigran aussieht. Für Typografie-Begeisterte hat das Schriftsystem also einen besonderen Anreiz, aber viel der Detektivarbeit ist im Internet schon getan. Der wahrscheinlich beste Hinweis ist ein Blick auf die Schreibmaschine bzw deren Layout. Angenommen, es handelt sich dabei um ein QWERTY-Layout, kann man sich einiges zusammenpuzzeln. Ob aber auch die Sprache von Violet Evergarden anders ist, gestaltet sich schwer herauszukriegen. Die Serienschaffenden haben sehr auf Kontinuität und Flair geachtet. An Schildern, auf Briefen, überall sieht man die spezielle Schrift und wenn man sich mit den Buchstaben vertraut gemacht hat, kann man einiges entziffern. Anderes bleibt aber, wenn man einen Detailblick wagt, Kauderwelsch bzw. nicht entzifferbar. Es gibt Diskussionen, bspw. bei Reddit, wo geäußert wird, dass es Hawaiisch sein könnte. Der Reddit-User leonlee024 hat sogar den Font recherchiert und zum Download online gestellt und es gibt einen Twitter-Channel, der sich ganz der Analyse der Texte und des Schriftsystems widmet. Hach, Fantum ist was schönes.

Mensch, Maschine oder Puppe

Der Anime macht, wie man den letzten Absätzen entnehmen kann, vieles richtig. Er setzt uns eine komplexe Welt mit einer Geschichte, Flora und Fauna und einer eigenen Sprache bzw. Schrift vor. Er gibt dieser Welt Vegetation und Traditionen. Gleichzeitig wird in der Welt angenehm mit Geschlechterrollen gebrochen, andererseits aber auch abgedroschene Muster neu aufgelegt. So werden die AKORA oftmals als Puppen bezeichnet. Der Hintergrund ist leicht zu erklären. Im Kanon der Serie wird erwähnt, dass ein Wissenschaftler einst eine Auto Memory Doll entwarf, die automatisiert anstelle seiner Frau schrieb. Das Prinzip wurde auf Menschen übertragen, die AKORA. Trotzdem hängt ihnen die Bezeichnung „Puppe“ (Doll) an, nicht zuletzt weil sie hübsche Kleider tragen und Sätze sagen wie „Ich reise überall für sie hin, stets zu ihren Diensten“. Cattleya, eine Kollegin Violets und eine der erfahreneren AKORA, hat auch ein Outfit, das sehr tief blicken lässt. Altbekannte Tropen werden also bedient. Auch bei Violet als ehemalige Kampfmaschine, die das Schlachtfeld niedermetzelt, zerrt die Serie manchmal am Grad ihrer eigenen Glaubwürdigkeit. Und doch ist der Rest der Serie, trotz zarten Einstreuungen von Kitsch, ernst genug, sodass man darüber wegschaut was für ein feuchter Anime-Geek-Traum Violet ist. Erst bei genauerem Hinsehen gegen Ende verbeugt sich die Serie vor Weiblichkeit. Trägt Benedict nicht hochhackige Schuhe? Und wie heißt Hodgins mit Vornamen? Claudia!!?? Vielleicht ist die Welt von Violet Evergarden ja doch über Geschlechterklischees erhaben?

Keine Befehle mehr

Violets Weg in die Selbstständigkeit ist ein steiniger. Als sie ihre Vergangenheit als auf Kampf und Töten abgerichtetes Instrument hinter sich lässt und den Weg verfolgt, in den Gilbert sie sanft gelenkt hat, verzichtet sie auf ein unbekümmertes Leben. Sie trifft auf Menschen, die alles verloren haben, auf hoffnungsvolle Seelen und junge Liebe, auf Sterbende und welche, die zurückbleiben mussten. Und mit dem Empfinden kommt die Erkenntnis, dass sie getötet hat und Leben genommen hat. Die Serie verstört mit ihren Kriegsszenen, wo doch Minuten vorher noch ein Hauch Kitsch war. Der Weg Violets in ein selbstbestimmtes Leben und der Umgang mit Verlust sind aber berührend und geben einem Aufwind die nötigen Schritte zu gehen, auch wenn sie unbequem sind und weh tun. Auf in ein neues Leben, ein eigenes Leben. Vielleicht wird es mal wieder Zeit einen Brief zu schreiben.

(8/10)

Sternchen-8

Das witzige ist, dass ich beim Schauen des ersten Trailers dachte, dass Violet ein Androide bzw. Roboter wäre, der durch die Aufgabe als AKORA versucht Gefühle zu verstehen. Das lag v.A. in Violets Verhalten begründet, das anfangs etwas kalt und emotionslos ist. Aber es klärt sich recht schnell, dass sie ein Mensch ist. Habt ihr die Serie gesehen und teilt ihr den Hype oder seht ihr auch ein paar Makel wie ich? Aber was soll man bei der wunderbaren, mutigen Botschaft der Serie sagen … Episode 1×10 ist einer der schönsten Tränenzieher, die ich seit langem gesehen habe. ;_; Und sagt mal … wann habt ihr zuletzt einen Brief geschrieben?

4 Antworten

  1. Jeder Brief ist es wert geschrieben zu werden, insbesondere wohl diejenigen bei denen mal als einzier Empfänger übrig geblieben ist.
    Ich habe bis jetzt nur einen Trailer von Evergarden gesehen, aber mir gefiel das Motiv mit den mechanischen Armen. Sicherlich ein in letzter Zeit häuftiger anzutreffendes Motiv und auch eines das Anklang findet. Besonders wenn man heranwächst und über sich hinauswachsen muss, konzentriert man sich viel auf sich selbst und instrumentalisiert sich leicht. Der Mensch irrt ja bekanntlich so lang er strebt. Auf der anderen Seite durchdenkt man wohl zumindest abstrakte Dinge leichter und tiefer mit dieser Fokussiertheit.
    Interessant, dass die Macher ebenfalls bei A Silent Voice tätig waren. Danke für den Artikel. 🙂 So, Netflix hat mich wieder.. 😉

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Oh ja, da hast du wohl recht. Auch wenn es sehr traurig klingt, aber das sind wohl Briefe, die es auch wert sind abgeschickt zu werden.

      Ja die mechanischen Arme gibt es auch tatsächlich nicht so selten, ich denke da nur an Fullmetal Alchemist. 🙂 Aber hier ist es wahrscheinlich so „schön“ oder anziehend, weil der Kontrast zur ansonsten so verletzlich wirkenden Violet sehr groß ist. Gute Mischung. Auch allgemein kommt das bei der Figur gut rüber, wenn sie mit ihrem Engelsgesicht, dann so militärisch und kalt-logisch redet.

      Ja das mit dem instrumentalisieren bzw. der Beeinflussbarkeit halte ich bei jüngeren Menschen auch für einfacher. V.A. auch weil sich Meinungen noch nicht gebildet haben, vieles kommt mit Erfahrung und Erfahrung kommt mit der Lebenszeit. Die Serie lässt ja so ein bisschen außen vor wie Violet so eine Kampfmaschine wurde – vielleicht ist es besser das nicht zu erfahren. Aber mehr sollte ich wohl nicht sagen o_o

      Aha 😀 Das hat also schon gereicht, damit dich Netflix wieder für sich gewinnt??

  2. Hey!
    Habe deinen Blog eben zufällig entdeckt.
    Danke für den Serientipp, ich werde auf jeden Fall mal reinschauen, auch wenn ich mit Anime bisher nichts anfangen kann.
    Dennoch reizt mich die Thematik 🙂

    Habe mal ein Abo da gelassen und freue mich auf weitere Beiträge von dir.

    Liebe Grüße,
    Nicci

  3. […] von Kana Akatsuki und Akiko Takase. Kyoto Animation hat die Geschichte ab 2017 zuerst in eine wunderbare Animeserie gegossen, danach in zwei Filme, die aufgrund des Brandanschlags auf das Studio und danach wegen der […]

Schreibe einen Kommentar zu Miss Booleana Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert