Das gehörte Wort … „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann – Hörbuch-Besprechung

Was wäre treffender als im Halloween-Monat einen Schauerroman zu besprechen? In diesem Fall als Hörbuch. Eigentlich stand E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“ als Empfehlung meines Liebsten auf meiner Liste der Bücher für 2019, um eine weitere Wissenslücke zu schließen. Tatsächlich kannte ich Hoffmann bisher nur vom Namen her, habe aber noch nie etwas von ihm gelesen. Dann aber stolperte ich auf Spotify über die inzwischen reichlich gefüllte Bibliothek an Reclam-Hörbüchern, darin auch „Der Sandmann“ und konnte nicht anders.

Der Sandmann kommt. Als Nathanael noch ein Kind ist, erzählt man ihm, dass der Sandmann die Augen der Kinder holt, die nicht ins Bett gehen wollen. Nachts hört er Schritte, jemand schleicht durch das Haus seiner Familie. Der Sandmann kommt. Und der Sandmann wird schuld am Tod von Nathanels Vater sein. Nur, dass der Sandmann und Nathanaels Vater alchemistische Experimente durchgeführt haben und der Sandmann in Wirklichkeit der Anwalt Coppelius ist und nach dem Tod von Nathanaels Vater spurlos verschwindet. Jahre später ist Nathanael Student und glaubt, dass er Coppelius gesehen hat und dieser sich als ein Wetterglas­händler namens Coppola ausgibt. Der Sandmann ist wieder da.

Aber ist er wieder da? Nathanael berichtet in Briefen seiner Verlobten Clara und seinem Freund Lothar, Claras Bruder, von seinem Verdacht. Die beiden, insbesondere Clara, ermahnen ihn jedoch keine haltlosen Verdächtigungen anzustellen und sich nicht in seinem Kindheitstrauma zu verlieren. Das bringt Nathanael anfangs zur Vernunft, aber seine Kindheitserlebnisse sitzen tief. Nebenbei ereignen sich in Nathanaels Umfeld einige Vorfälle, die schon fast zuviel Zufall sind, bspw. dass seine Wohnung niederbrennt. Oder ist der Terror nur in Nathanaels Kopf? Er macht außerdem Bekanntschaft mit der Tochter seines Professors, Olimpia, und ist sehr angetan von ihr. Lothar und Clara scheinen vergessen und Nathanael in den Kreisen seiner neuen Freunde und der melancholischen Olimpia gefangen und seinen Gedanken überlassen bis es zum Twist in der Geschichte kommt.

Twist ist vielleicht zuviel gesagt. Anhand der Atmosphäre und Andeutungen ahnt der aufgeschlossene Leser bzw. Hörer, das etwas an den feinen Kreisen in denen Nathanael wandelt nicht stimmt und dass er sich mal lieber an seine Clara und Lothar gehalten hätte. Und die Auflösung hat eben doch das eine oder andere mit dem Sandmann-Kindheitstrauma Nathanaels zutum. Dabei ist das alles nach heutigen Maßstäben gar nicht bis wenig schaurig. Allerdings offenbart sich gegen Ende ein Hauch Science-Fiction, wo man ihn gar nicht erwartet hätte und sogar eine Art grotesker Humor und Tragik. Damit ist Der Sandmann v.A. am Anfang und in seinen letzten Kapiteln überraschend ideenreich und stimmungsvoll, wenn auch nicht so gruselig, dass es einem kalt den Rücken runterläuft. Es sind mehr die Ideen Hoffmanns, die hier beeindrucken und weniger Fähigkeit, Mittel oder Stil mit dem er erzählt: Alchemismus grenzend an Science-Fiction und der menschliche Verstand, der scheinbar voll bodenloser Abgründe ist. Einerseits mit grausamen Ideen, andererseits mit lähmenden Ängsten. Vielleicht ist Der Sandmann nicht nach meinen Maßstäben gruselig, aber Hoffmanns fortschrittliche Geschichte in jedem Fall ein Meisterwerk – nicht nur, wenn man bedenkt, dass die Geschichte 1816 veröffentlicht wurde.

Das Hörbuch ist mit einer Laufzeit von gerademal eineinhalb Stunden kurzweilig und gut und solide gesprochen. Man kann es mit Leichtigkeit folgen, aber um die Geschichte doch noch etwas schauriger zu gestalten und mehr Atmosphäre zu geben, wäre eine entsprechende Geräuschkulisse oder leichte Hintergrundmusik hilfreich gewesen. Bei Hörbüchern ist das sicherlich immer eine Diskussion wert. Ist Musik nicht zuviel Ablenkung? Verfälschung des Ergebnisses? Meistens treibt es eventuell die Kosten nach oben, etc. Aber es wäre bestimmt echt gut gewesen mit ein bisschen Score. So oder so ist es aber sehr cool, dass man das Hörbuch kostenfrei auf Spotify hören kann und ich habe schon das eine oder andere für das nächste Mal vorgemerkt.

Für eine 200 Jahre alte Geschichte hat E.T.A. Hoffmann da einige sehr spannende Ideen vorgelegt. Manche gehen auch ein bisschen in satirisch-einfältige und groteske in Hinblick auf die Gesellschaft. Taucht man tiefer in die Geschichte und Biografie Hoffmanns, steckt vielleicht auch etwas Hohn auf die Klassik drin. Hoffmann selber scheint eher der Romantik und Sturm-und-Drang zuzuordnen zu sein. Mensch, Begriffe, die mich v.A. an die Schulzeit erinnern. Tatsächlich fand er dort aber keine Erwähnung. In letzter Zeit frage ich mich immer wie entschieden wird und wer entscheidet, was im Schulstoff hinten runterfällt? Oder wie ich an Namen wie E.T.A. Hoffmann und Stefan Zweig bisher vorbeigekommen bin? Auch Stefan Zweig ist Stoff, den ich demnächst aufholen möchte. Wo habt ihr auf der literarischen Landkarte einen blinden Fleck – oder besser gesagt einen, dessen ihr euch bewusst seid? Habt ihr Empfehlungen für schaurige Hörbücher für mich? Und Plattformen wo man außerdem kostenlos Hörbücher hören kann? Habt ihr auch schon mal in die Reclam Hörbücher reingehört?

5 Antworten

  1. Falls du noch zusätzliches Hörmaterial zu Halloween suchst und auch Hörspielen nicht abgeneigt bist, kann ich die Reihe „Gruselkabinett“ sehr empfehlen. Hier werden Klassiker der Schauerliteratur als hochkarätiger Hörspiele umgesetzt, darunter u.a. auch „Der Sandmann“ sowie diverse Werke von Lovecraft (eine nicht mehr ganz aktuelle Liste samt meiner Meinung findet sich hier ;): https://hemator.wordpress.com/2016/10/09/lovecraft-im-gruselkabinett/). Die meisten Folgen finden sich ebenfalls auf Spotify.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Uuuuh danke für den Tipp 😀 Das klingt großartig und ganz nach meinem Geschmack. Habe es schon auf Spotify gesucht und gefunden und deinen Artikel werde ich mir gleich auch nochmal anschauen. Von wem sonst hätte ich Tipps für schaurige Lektüre erwarten können? 😉

  2. Hm, das klingt wirklich gar nicht schlicht. Positiv überrascht bin ich von der Mischung aus Schauerliteratur, Komik und Science Fiction.

    Auf meinem Blog hatte ich es ja auch schon geschrieben: Von Hoffmann habe ich bisher nie etwas gelesen. Von Zweig übrigens auch nicht.

    In meiner Schulzeit wurden leider viele große Autoren vernachlässigt, so z.B. auch Orwell, Huxley und Mary Shelley. Selbst von Shakespeare hatten wir nur ein Sonett im Englischunterricht gelesen. Bücher von Thomas Mann oder Brecht hatten wir nur grob behandelt (sprich: die Lehrerin ließ uns aufschreiben, wovon das Buch handelt und warum es so vermeintlich bedeutend sein soll, tatsächlich gelesen haben wir aber nur jeweils ein, zwei Kapitel). Stattdessen gab es Goethe in Endlosschleife, recht viel Schiller (den ich wiederum sehr schätzen gelernt habe) und ein wenig Fontane.

    Ein bisschen finde ich es schade, dadurch wenige Klassiker zu kennen und staune auch manchmal, was für großartige Klassiker aus dem nicht deutschsprachigen Raum andere Blogger in der Schule lasen. Gleichzeitig bin ich aber auch froh darüber. Denn Schullektüre wurde spätestens nach der dritten Interpretation immer nervig und öde – umso mehr, da die Lehrerin, die ich die meisten Jahre in Deutsch hatte, den Stoff schlecht vermittelte. Nun kann ich all die Klassiker der Weltliteratur ohne Zwang oder negative Assoziationen entdecken. Abgesehen davon bin ich nach wie vor überzeugt, dass man als Jugendliche*r kaum bzw. nur schwer Zugang zu den meisten Werken finden KANN, da man noch zu wenige politische und gesellschaftliche Erfahrungen gemacht hat, um „hinter den Text“ zu schauen und seine Relevanz zu erkennen oder den Inhalt ins große Ganze einordnen zu können.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Exakt dasselbe bei mir! Der Fokus lag auch bei uns sehr eindeutig auf deutschen Autoren und Dichtern und es war auch gängig schlichtweg aufzuschreiben, worum es in einigen Werken ging. Goethe, Schiller und Fontane (Effie Briest! seufz …) waren auch bei uns der Stoff, der übermäßig lange besprochen wurde. Eine Zeit lang auch Heinrich Heine, wobei da bei mir leider sehr wenig hängen geblieben ist. Postmoderne, Literatur- und Einflüsse aus dem Ausland gab es nur, wenn es um Shakespeare oder Philosophen ging. Das hat mich damals schon genervt und automatisch wirkte alles andere „exotisch“ und gleich viel interessanter. Obwohl ich einige gute Deutschlehrer hatte und auch andere Lehrer, die sich bemüht haben über den Tellerrand zu schauen und uns dabei mitzunehmen. Aber sie konnten eben nicht raushauen, was der Lehrplan gänzlich außen vor gelassen hat. Dabei gäbe es soviel Interessantes zu entdecken! Der Englisch-LK hat bei uns bspw. „Der Herr der Fliegen“ gelesen.

      Aber ich stimme dir auch zu was die Erreichbarkeit als junger Mensch betrifft. Auch ich war für vieles damals noch nicht so empfänglich wie ich es wohl heute wäre, wo ich freiwillig zu Klassikern greife. Wo ich überlege, dass ich doch gern nochmal „Den Schimmelreiter“ lesen wollte oder neulich Kafkas „Die Verwandlung“ gelesen habe – als ich das im Buchclub erzählt habe, dachten einige der anderen eher genervt an das Buch zurück, das bei ihnen Schullektüre war. Vermittlung ist wohl das A und O und man erreicht als Lehrer bestimmt auch nicht jeden gleichermaßen… schwierig. Und ein bisschen „Drive“ muss vielleicht auch von innen kommen.

  3. […] ging es auch bei Miss Booleana zu, die sich sehr angetan von E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“ zeigt. Wer es lieber etwas humorvoller, aber nicht minder außergewöhnlich mag, denen empfiehlt […]

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