Serienlandschaft: „The Handmaid’s Tale“ Season 3 Besprechung

Wie „passend“, dass heute Muttertag ist. Ein 1985 erschienenes Buch mit einer Fortsetzung. Eine Serie mit zwei Staffeln, die den Inhalt des Buches sogar weiterdenkt. Und „The Handmaid’s Tale“ haut mich immer noch um. Was für eine aufrüttelnde Serie. Inzwischen kann man die ersten beiden Staffeln bei Amazon Instant Video als Prime-Kunde frei schauen, was ich euch sehr empfehlen kann (hier gehts zur Besprechung der ersten und zweiten Staffel). Auf die dritte konnte ich nicht mehr warten und die BluRay durfte bei mir zuhause einziehen. Die Angst war aber da: kann die Serie noch mithalten und im Sinne der Vorlage sein, wenn sich bereits die zweite Staffel so weit über den Rand hinauslehnte? Enthält Spoiler für Staffeln eins und zwei.

Meine Tochter, deine Tochter

Irgendwie schrie es in einem gleichzeitig laut „ja“ und „nein“, als June (Elisabeth Moss) im Finale der zweiten Staffel das Baby Nichole in Emilys (Alexis Bledel) Arme drückte und die beiden allein nach Kanada flüchten ließ. Einerseits wäre June die Flucht und mögliche Freiheit mehr als gegönnt, denkt man andererseits an ihr Kind in Gilead – wer wird schon gern zurückgelassen? Und wie vereinbart man das mit seinem Gewissen als diejenige, die zurücklässt? Aber es schreit innerlich in einem, wenn June dann wieder zurück zu den Waterfords geht und die sich eine abenteuerliche Vertuschungsgeschichte ausdenken. Denn: Serena (Yvonne Strahovski) steckt ebenso mittendrin in dem Komplott. Der hat somit Konsequenzen, aber nicht so große wie man bei der Schwere des Vergehens (aus Gilead-Sicht) erwarten würde. Serena hat erheblich mit ihren Schuldgefühlen und dem Verlust von Nichole zu kämpfen, die sie ganz gilead-like als ihr Kind betrachtet. June hingegen hat nun keinen Grund mehr bei den Waterfords zu leben und wird einem neuen Commander zugewiesen – niemand geringerem als Commander Lawrence (Bradley Whitford), der schon Emily half und im Verborgenen nicht gilead-treu lebt. Zusammen sind sie eine explosive Mischung.


„The Handmaid’s Tale: Season 3 Trailer (Official) • A Hulu Original“, via Hulu (Youtube)

Im Herzen Gileads

Was die zweite Staffel vorlebte, setzt die dritte fort. Im Zentrum stehen die Frauenrollen, auch nicht mehr nur die Handmaids, ebenso auch die Strukturen Gileads und das Leben der Flüchtlinge sind ein großes Thema. Serenas eigentliche Herzensangelegenheit und der Wunsch eine Familie zu gründen liegt in Scherben. Was bleibt ist die aus dem Wunsch mutierte Abscheulichkeit namens Gilead – nur ein Kind hat sie immer noch nicht. Auch der Verrat von Fred in der zweiten Staffel wiegt schwer und sorgt dafür, dass sich beide nahezu entzweihen. Gerade die Entwicklung Serenas ist seit der ersten Staffel ein Knackpunkt. Immer wieder hofft man, dass sie sich zum Besseren entwickelt und ihrer Stimme bewusst wird und diese zu etwas anderem als dem Quälen von Handmaids nutzt. In der dritten wird das Spiel leider fortgesetzt. Ein Schritt nach vorn, zwei zurück. Bis etwas erstaunliches passiert.

Abgesehen von Serena wird längst überfällig nun auch mal eine der „Tanten“ fokussiert. In diesem Fall Aunt Lydia (Ann Dowd) – was nach den Geschehnissen in der zweiten Staffel nahe liegt. Sowohl ihr jetzt geschürtes Misstrauen gegen die Handmaids wird ein Thema als auch ein Rückblick in ihr Leben vor Gilead. Und der ist tragisch, menschlich, aufwühlend, leider aufschlussreich. Ebenso wie der Blickwinkel einer Geflüchteten anhand von Emily. „War’s das?“ fragt sie sich als medizinische Untersuchungen abgeschlossen sind. Ja, das war es. Du bist in Freiheit, aber nach all den psychischen und physischen Verbrechen, die an dir begangen wurden, doch nicht frei.

Besonders alptraumhaft ist wohl aber der kleine Ausflug der Waterfords nach Washington D.C., der für Fred zu politischen Zwecken, für Serena zu familiären stattfindet. Ein weiterer Ausdruck dessen wie wenig nah sich die beiden noch sind. Wo einst das politische Zentrum der Vereinigten Staaten war, ist hier nun Gileads Herz. Und das mit einigen prominenten Mahnmalen. Das Washington Monument ist nicht mehr nur ein Obelisk, sondern ein gigantisches Kreuz. Das Lincoln Memorial enthauptet. Gilead lässt sich nicht lumpen. Auch in punkto Prunk der Commanders wird eins draufgesetzt, genauso wie in falscher Frömmigkeit. Wer denkt, dass man den Handmaids nicht noch mehr nehmen kann, hat sich getäuscht und für einen wahrhaft alptraumhaften Moment gesorgt. Es geht also noch schlimmer? Ja, geht es.

Video enthält Spoiler

„The Handmaid’s Tale Season 3 Episode 6 Disturbing Imagery“, via TeamTiny Tech And Pets (Youtube)

Starke Motive und die berühmte Schuldfrage

Was eben schon durchklang ist wie sehr die Motive und Szenen der Staffel mit Metaphern aufgeladen sind. Mit verblüffenden, erschreckenden, gut choreografierten und cinematografierten. Da steht June vor einer Engelsstatue, als ob sie selber Flügel trägt. Da stehen die Waterfords hinter einem Vogelkäfig, als ob sie die Gefangenen wären. In einem System und einer Beziehung aus Lügen gefangen, um den Anschein zu wahren. Da sieht man die gestellten Familienfotos von Commanders und vor dem inneren Auge wie diese hoffentlich in der Kanon-Zukunft absurde Mahnmale in Geschichtsbüchern werden und Menschen sagen: „Seht mal Kinder. Zu sowas waren die Menschen mal fähig.“ Durch die Reise nach Washington wie auch die Situation der Gilead-Flüchtlinge in Kanada ist die Staffel insgesamt politischer. Und der Ton rauer. Gender Traitor. War Criminal. Perpetrator. Endlich nennt es jemand beim Namen.

Das Tacheles-Gerede und die Verfolgung fordert aber einen grausigen Tribut. June radikalisiert sich. Während irgendwo, etliche hunderte Kilometer weiter Emily und Moira (Samira Wiley) reflektieren, was sie in Gilead für Verbrechen verübt haben und ob aus Opfern Täter geworden sind, erleben wir diesen Prozess an June live. Sie riskiert das Leben anderer, manipuliert und mehr. Aber sind solche Taten nur besser, weil sie eine Intention haben? Damit stellt The Handmaid’s Tale eine unbequeme Frage. Dankbarerweise eine, die nicht über Hand nimmt und auch nicht die Verbrechen in Gilead überstrahlt. Aber ebenso erschreckend relevant ist.

Der Wunsch nach einem Ende

Blessed be the fight steht auf der Rückseite des BluRay-Schubers. Und in den (übrigens sehr dürftig geratenen) Extras erwähnt der Produzent Bruce Miller, dass June ein Beispiel dafür ist, dass man in einem Kampf sich selber und andere verletzt und daher nie spurlos gekämpft wird. Es ist damit eine offensichtliche Intention der Staffel zu zeigen was für einen Tanz am (moralischen) Abgrund June tanzt. Auch wenn das abzusehen war, ist es insbesondere in der Mitte der Serie ein schmaler Grad zur Auflösung des Charakters June wie wir ihn kennen. Die Farce wird aber zum gerade richtigen Zeitpunkt abgewehrt. Glücklicherweise wird June durch einen Charakter, der sich sichtlich weiterentwickelt hat und von dem man das nicht zwingend erwartet hätte zur Vernunft gebracht. Auch was andere viel zu oft getriebene Kreisel wie Serenas ständiges Zurückfallen in alte Muster betrifft, bekommt die Serie immer und immer wieder gerade so die Kurve. Und rettet sich selbst davor schlecht(er) zu werden.

Das klingt hart, aber was man bei dem Detailblick auf Kritik vergisst, sind die vielen guten Zutaten und Bestandteile. Es gab Episoden, da saß ich vor Spannung auf der Sofakante. Epische Momente (Stichwort Muffin-Szene) und welche, die mir die Tränen in die Augen trieben („Is this a place where I can wear what I want?“). Mit der Radikalisierung Junes wird ein Tor zu einer enorm schwierigen Frage aufgestoßen, die wie noch nie zuvor zum diskutieren bewegt. „Was braucht es um einen Menschen zu radikalisieren?“ steht da auf der einen Seite und auf der anderen Seite Szenen, die einen geradezu revoluzzer-high machen. Es werden mehr Schicksale gezeigt (Lydia) und ein umso dichteres Bild Gileads gezeichnet. Der Soundtrack und die Cinematografie greift unbeschreiblich gut ineinander. Ob Kate Bushs Cloudbusting, Lesley Gores You Don’t Own Me, Belinda Carlisles Heaven Is A Place On Earth oder gar klassische Töne – die Szenen in denen sie auftreten sind in-your-face, berühren und hallen nach. So wie die ganze Serie. Immer noch. Das Gemecker ist klein. Aber gerade deswegen ist der Wunsch groß: jetzt lasst es bitte bald enden und lasst es gut werden. (8/10)

Sternchen-8

Rückblickend, war ja schon in der ersten Staffel abzusehen, dass die Serie einen etwas anderen Ton als das Buch anschlägt. Was war eure Vermutung wie die Serie auf lange Sicht fortgesetzt wird? Und vor Allem wie lange? Nach dieser Quelle rechnet man nicht damit, dass die vierte Staffel die letzte sein wird, was mich sehr nachdenklich macht. Einerseits hoffe ich, dass wir in der Serie noch Gilead einstürzen sehen, aber bei der Ernsthaftigkeit mit der sie gedreht ist, wird das um dem Realismus gerecht zu werden kaum innerhalb vier Staffeln darstellbar sein. Wie lange kann die Serie noch „gut“ bleiben? Und falls ihr die dritte Staffel schon gesehen habt: ist sie für euch „noch“ gut? Was hat euch überrascht – positiv wie negativ?

Immer zwischen dem 5. und 10. eines jeden Monats mache ich einen kleinen Ausflug in die Serienlandschaft. Ob aktuelle Serien, all-time-favorites, irgendeine TOP-5 oder einfach ein paar zerstreute Gedanken: es ist alles dabei :).

5 Antworten

  1. Ich stecke grade noch mitten in der Staffel und bisher habe ich den Eindruck, dass sich vieles im Kreis dreht. Hoffe doch, das ganze nimmt nochmal etwas an Fahrt auf.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ich schicke mal vorweg: das tut es.
      Aber insbesondere im ersten Drittel hatte ich auch den Eindruck. Und wäre es so geblieben, wäre meine Bewertung deutlich niedriger ausgefallen.

  2. Avatar von Tom Diander
    Tom Diander

    Ich habe die erste Staffel kaum ertragen. Mich haben die ersten Episoden extrem getroffen und ich überlegte sogar, die Serie abzubrechen. Es war so unangenehm und so gar nicht, ab auf Couch, Chipstüte in die Nähe und ab dafür.

    Mir drehte sich eher der Magen um. Um das Gezeigte hallte lange nach. The Handmaids Tale war in der ersten Staffel, eine höchst unangenehme Erfahrung, die ich aber nicht missen möchte. Eine richtig gute Serie mit einer unfassbar genial aufspielenden Elisabeth Moss. Bin seit „Top of the Lake“ ein Fan der Schauspielerin und sie hat es verdient, in Preisen und Auszeichnungen zu baden.

    Staffel 2 war schon nicht mehr ganz so klasse, auch wenn es hier tolle Szenen, eindrucksvolle Momente gibt. Doch zog sich die Handlung wie ein Kaugummi und wurde erst zum Ende wieder spannend.

    Vor der dritten Staffel hatte ich ein bisschen Angst. Wie lange will man die Serie noch melken und ins „Kreative egal“ kicken. Zum Glück ist das Niveau noch immer recht hoch.

    Trotzdem, die dritte Staffel ist langatmig und meiner Meinung nach hätten 6 bis 8 Folgen ausgereicht. Trotzdem gefällt sie mir deutlich besser als Staffel 2 und ich fiebere auch auf einem Happy End hin. Es wäre schön, wenn mit Staffel 4 die Geschichte um June beendet werden könnte. Dann kann man sich der Serienadaption „Der Zeuginnen“ annehmen. 🙂

    Liebe Grüße und danke für deinen schönen Artikel.

    Tom

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Hi Tom,

      Sehr intensiv, oder? Mich schickt auch immer jede Staffel auf die oft-zitierte Achterbahn der Gefühle. Manchmal sitze ich echt auf der Sofakante und will am liebsten fast in den Fernseher springen. Passiert etwas gutes, sei es ein noch so kleiner Sieg der Menschlichkeit, dann jubele ich manchmal laut. 🙂

      Ansonsten geht es mir wie dir – ich war bei Staffel 2 auch ein kleines Mü weniger begeistert und habe schon angefangen zu bangen, dass sie die Qualität halten, hatte aber doch die Hoffnung, dass sie die Kurve kriegen. Wenn ich so lese, dass die vierte Staffel noch nicht mal die letzte sein soll, habe ich den Eindruck, dass ein narrativer oder qualitativer Abstieg nicht wirklich abzuwenden ist.
      Denn die dritte hatte schon wirklich tolle Momente, aber wie oben geschrieben dreht man sich eben doch zu oft im Kreis und verfällt in Muster, die schon x mal Thema der Serie waren. Natürlich ist die menschliche Natur schwer auszutricksen … das mag sein. Aber Zuschauer nicht so leicht 😉
      Von daher ist die Kuh-Metapher wohl angebracht … leider.

      Leider habe ich The Testaments/Die Zeuginnen nicht gelesen, aber das Buch liegt schon hier und ich bin sehr gespannt. Wie hat es dir gefallen?

      Vielen Dank für deinen Kommentar und ebenso liebe Grüße!

      1. Geht mir wie dir. Ich werde auch immer ganz hibbelig, wenn es dann „ausnahmsweise“ was Klitzekleines, positives Lichtblickmäßiges gibt. Ansonsten überwiegen der Schock und die Wut auf das, was ich da ertragen „darf“.

        Wie gerne würde ich Tante Lydia …, Wie unfassbar scheiße kann jemand sein, nur um im nächsten Moment mich doch wieder weich zu kriegen. Einfach großes Kino.

        „Die Zeuginnen“, liest sich leichter und ist auch deutlich unterhaltsamer als „Der Report der Magd“. Dadurch aber nicht weniger kraftvoll und gut. Ich wünsche dir schon mal viel Spaß.

        (Ich werde nen Teufel tun und irgendetwas spoilern.)

        Lg

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