Netzgeflüster: Twitter ist vorbei. Was nun?

Twitter ist jetzt „X“. Zwar leitet die URL von „twitter.com“ noch nicht zu „x.com“ um, aber auf der Webseite thront schon ein großes X. Wer die App noch nicht aktualisiert hat, darf Larry (den blauen Vogel – das bisherige Twitter-Logo) noch eine Weile sehen. Irgendwann wird aber sicherlich der Update-Zwang kommen. Wohin mit all unseren Gefühlen? Und unserem Netzgut? Ist das jetzt der perfekte Zeitpunkt für den Wechsel? Und wenn ja, wohin?

Kurzer Rückblick der jüngsten Ereignisse

Am 23. Juli verkündete Elon Musk, dass Twitter zu X rebranded wird. Wie so oft folgten seinen hemdsärmeligen und unsensiblen Ankündigungen schnell und unüberlegt Taten. Seitdem kennt der Blödsinn keine Grenzen. Von an Witz und Wahn grenzenden Behauptungen (das Logo wäre Art déco) bis hin zur störenden, geschmacklosen und schnell abmontierten X-Leuchtreklame am Twitter HQ – es ist eine Farce. Das X sieht dubios aus und erinnert vom Namen her eher an eine Porno-Plattform. Überall werden Witze gerissen, ob tweeten jetzt x-en heißt. Viel schlimmer ist aber wohl den schleichenden Verfall eines Stück Webkulturs hin zum Hobby-Projekt eines einzelnen Mannes mit zu viel Geld zu beobachten. Wer sich über die wirtschaftliche Inkonsistenz und die ständig wechselnden Pläne und Benamungen auf dem Laufenden halten will, denen empfehle ich den Podcast Haken dran. Darin wird offen gelegt wie erzwungen der Wandel von Twitter zu X ist und wie wenig gut die Strategie durchdacht ist. Falls man überhaupt von Strategie sprechen kann. Versucht nur mal „X“ zu vertaggen. Es widerspricht jeglichem guten Marketing und Web-Strategien.

despair

Ein Stück Web-Kultur geht verloren

Das 2006 gegründete soziale Netzwerk diente dem Austausch von Kurznachrichten. Der Funktionsumfang erweiterte sich, der Kreativität der Nutzenden waren keine Grenzen gesetzt. Außer die der AGBs. Durch Content-Moderation wurden sicherlich nicht alle rechten, diskriminierenden oder volksverhetzenden Inhalte und sonstigen Probleme gelöst, aber es gab zumindest eine Instanz innerhalb von Twitter. Und die traute sich immerhin den einstigen Präsidenten der USA wegen Desinformation und Hetze zu bannen (Donald Trump). Das war schon Applaus wert. Auf Twitter fanden sich Nachrichtendienste, Personen des öffentlichen Lebens, ganze Fandoms und Bots, die einem mit kleinerem Content ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Sowas muss sich auch finanzieren, denn Twitter war zumindest großflächig kostenfrei für Normalsterbliche. Welche ernstzunehmende Firma will nun noch auf „X“ Werbung schalten oder sich dort präsentieren?

Tweets, tweeten, twittern, retweet, die Bedeutung des Hashtags – die Begriffe und der blaue Vogel gehörten zum Kulturgut. Inspirierten warnende Black Mirror-Episoden, gaben aber auch Menschen ein Supportnetzwerk. Twitter konnte alles sein: toxisch, aber auch ein Platz, an den zumindest ich dank meiner Timeline gern zurückgekehrt bin. Manches mag auch schon vor Elon Musk nicht mehr funktioniert haben. So ließ der Algorithmus auch mich für andere durchaus verschwinden, während ich in meiner Timeline andere vermisste. Das Rebranding zu X macht alles nur noch schlimmer und tut gar verdammenswertes wie Erasure. In dem Kontext hier bedeutet es das Auslöschen einiger in den allgemeinen Wortschatz aufgenommenen Begriffe, einer Marke und radiert eine ganze Community aus. Well done, Elon Musk. Not.

Rich White Men Stuff

Zwar wusste das Forbes Magazin erst im Mai 2023 davon, aber die dokumentierten Bestrebungen Elon Musks eine „Everything App“ zu veröffentlichen, gehen viel weiter zurück, bis in die 2000er Jahre. Es gibt eine Menge Gründe, warum seine bisherigen Bestrebungen scheiterten. Viele davon haben mit dem schwammigen Begriff Entrepreneurship zutun und wie das eigentlich aussieht, wenn man von IT keine Ahnung hat. Was Musk nun gelegen kam, war Twitter zu kaufen und damit eine bestehende Nutzergemeinschaft. Es ist aber viel mehr als das: Musk kauft Twitter, rebranded es zu seinem persönlichen Wunschtraum einer Everything App und spart damit Jahre der Nutzungsanalysen, Strategie und Entwicklungszeit. Jahre der Arbeit von Softwareentwickelnden, Designer:innen und an Management. Dass er oben genannte Begriffe für seine persönliche Vision nutzt ist der echte, besch****** Rich White Men Stuff.

Veränderung und Wandel mag dazu gehören, aber „X“ wirkt v.A. wie eins: ein Vanity-Projekt, was immer mehr seinen Wünschen folgt und immer weniger dem, was die Gemeinschaft fordert und braucht. Pure Egozentrik. Das Abschaffen einer ernstzunehmenden Verifizierung gegen Verifizierung gegen Bezahlung spielt in so viele Bad Practices und Probleme unserer Gesellschaft. Geld regiert die Welt und Geld regelt auf X inzwischen damit sogar Identität, Priorisierung und Status. Schließlich werden X Premium Nutzende (bis vor Kurzem noch Twitter Blue, also „Behakte“) sogar weiter oben in den Antworten angezeigt als andere. Wer scrollt schon bis nach ganzen unten zu uns Normalsterblichen? Praktischerweise kann man den Status, ob man Zahl-Kunde ist verstecken. Wer will schon bei all der schlechten Publicity für Zahlkunden von X gehalten werden?

Ist das eine App, die ich unterstützen kann? Auch aus IT-Sicht ist so vieles einfach nur falsch. Eine Everything App birgt mehr Probleme als Vorteile. Das Vorteil kann nur Bequemlichkeit sein. Wer würde alles über eine App regeln wollen? Das ist einfach, aber unsicher. Will ich meine Handynummer und Bankverbindung in derselben App durch das www schicken, mit der ich mir lustige Videos anschaue? Auf derselben Plattform eines reichen, weißen Mannes, der sich einfach kauft, was was er will und zu dem macht, was er will anstatt es aufzubauen? Der den einfachen Weg geht, der nur unverschämt Reichen n Prozent der Welt offen steht? Des personifizierten Größenwahns und Unsensibilität? Der seine Mitarbeiter:innen zum Selbstzweck Überstunden an Thanksgiving machen lässt und batchweise kündigt? Ich zähle nur die Tage bis es zu Datenskandalen kommt, die größer sind als die bisherigen Inkonsistenzen der X-Oberfläche und des Marketings. Stoff zum nachdenken. Und Konsequenzen ziehen.

Ksenia Kudelkina

Wohin jetzt mit uns?

Als Musk Twitter übernahm, sprachen viele über die offensichtliche Alternative Mastodon. Auch ich habe dazu ein paar Zeilen verfasst und bin dort zu finden. Wie ihr aber (derzeit) an dem Datum meiner Posts dort seht, hat es mich nicht lange auf Mastodon gehalten. Was mir fehlte war einfach meine Timeline und ein bisschen mehr Design und angenehmere Usability. Es war zu leicht das wohlig-altbekannte zurückzuholen und doch wieder eher auf Twitter reinzuschauen. Für beide Plattformen war keine Zeit. Es ist auch denke ich nicht realistisch eine App als hundertprozentigen Ersatz für eine andere anzusehen. Mastodon hat aber sicherlich mit dem Fediverse einen anderen und in vielen Belangen wünschenswerten Ansatz. Aber ist nicht Twitter.

Andere Apps sind im Gespräch. BlueSky bedarf bisher Einladungen, um sie nutzen zu können und man hört überraschend wenig davon. Threads hingegen (früher auch unter dem Namen Barcelona beworben) stammt aus dem Hause Meta (Stichwort Zuckerberg, Facebook, Instagram) und wurde als wahrscheinlichste und erfolgreichste Gegenoffensive zu X gehandelt. (Wir erinnern uns, da war was mit Cage Fight.) Zu dumm nur, dass europäische Nutzer:innen gerade noch ausgesperrt sind. Das sendet ja mal eine schwierige Botschaft. Man könnte schließlich annehmen, dass Meta damit Erfahrung hat wie so eine DSGVO funktioniert. Was bleibt? Personal Blogging. 🙂

Es ist die Möglichkeit zu deinem eigenem Regelwerk (ok, DSGVO und öffentliches Recht haben da was dazu zu sagen) deine Inhalt zu veröffentlichen und zu gestalten. Die Wahrscheinlichkeit, dass dir das einer unter dem Hintern wegkauft sind nicht so groß. Schließlich kannst du deine Inhalte nehmen, sie gehören nämlich dir, und sie wo anders wieder veröffentlichen. Backup sei Dank. Dummerweise scheint (fast) keiner mehr Zeit zu haben Blogs zu lesen oder zu schreiben. Aber ich liebe es. Da hilft nur Prioritäten setzen. Ich kündige hiermit an, dass ich nach dem Ende unserer laufenden Leserunde zu Station Eleven auf X beginne meine Aktivität dort einzustellen. Wir lesen uns weiter hier, auf Mastodon und ggf. auch auf einer anderen Plattform, so es klare Gewinner gibt, deren AGBs mir passen. See you. 😉

Mit welchen Gefühlen beobachtet ihr die Plattform formerly known as Twitter? Welche Alternative peilt ihr an? Oder ist der Twitxit euer allgemeiner Ausstieg aus Microblogging-Plattformen? Lasst mich wissen, wo ich euch finde, falls ich euch nicht mehr auf Twit … ähm … X suche.

Netzgeflüster ist eine Kategorie meines Blogs in der ich mich immer zwischen dem 10. und 15. eines jedes Monats Themen aus IT, Forschung, Netzwelt und Internet widme genauso wie Spaß rund um die Arbeit mit Bits und Bytes. 🙂

4 Antworten

  1. Mir geht’s ähnlich und ich hatte mir zu Beginn unserer Leserunden schon Fragen gestellt wie: „Sollen wir das wirklich hierüber laufen lassen? Gäbe es jetzt schon geeignete Alternativen und wenn ja, welche?“

    Ich hatte die Hoffnung, dass Musk das Interesse an seinem neuen Spielzeug schnell verliert oder ihm Grenzen gesetzt werden (allein diese Kündigungen sind rechtlich echt brenzlig-zumindest wären sie das hierzulande, in den USA natürlich nicht).
    Aber alles geht immer mehr den Bach runter und wenn ich Twitter/X öffne, aktualisiert die App entweder gar nicht oder es ist seit dem letzten Öffnen (vor 12h) kaum was passiert. So macht es keinen Spaß.

    Von der ethischen Vertretbarkeit, jemanden wie Musk indirekt zu unterstützen durch Content und Daten abgesehen.

    Nichtzuletzt wird X zu einem Raum der old angry white men werden mit Hetze, Fake und Radikalisierung an der Tagesordnung, nachdem Content Moderation gestrichen wurde und der Digital Services Act von Musk quasi ignoriert bzw. abgelehnt wird.

    Ich hätte gern eine Alternative für den direkten Austausch mit anderen, der so nicht auf Blogs, Insta oder Podcasts möglich ist. Aber vielleicht ist das alles trotzdem eine kleine Wiederbelebung der Blogs.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Die Wiederbelebung der Blogs wäre schon mal ein fantastischer Anlass. Denn wie oben beschrieben haben wir hier schließlich etwas, das wir selber administrieren. Das bietet nicht mal das Fediverse (Mastodon, etc.), wenn man nicht Inhaber:in der Instanz ist.

      Ich sehe immer noch nicht, dass sich ein klarer Gewinner unter den Plattformen hervortut. Nachdem ich Mastodon und BlueSky anschaue, setze ich irgendwie mehr Hoffnungen auf Threads, was nicht mal abwertend gemeint ist. Man vergleicht halt zwangsläufig mit dem „alten Twitter“ und was einem auf den anderen Plattformen fehlt.

      Wo findet dann wohl die nächste Leserunde statt? Witzigerweise denke ich da gerade zuerst an einfache Messenger-Apps wie Signal, Threema etc. Mal sehen.

  2. Mich hat Twitter nie interessiert. Ich glaube, ich bin wegen einem einzelnen Youtubekanal dorthin gegangen und im Prinzip brauche ich mein Profil nicht mehr, weil der Kanal tot ist. Es ist nervig, dass man sich nun einloggen muss, um sich die Trends anzusehen. Als Nachrichtenseite war es schon praktisch. Gerade zuletzt im Bezug auf den Iran. Oft sehe ich aber hauptsächlich den gleichen Unsinn wie auf anderen Plattformen.

    Die Idee von der App-für-Alles kannte ich vorher aus China. Ich dachte, er hätte sich WeChat als Vorbild genommen, was mehr Sinn gemacht hätte. Er selbst liebt die USA und es hätte gepasst, wenn er ein Konkurrenzprodukt zu allen chinesischen Marken aufbauen würde. Wenn es also doch wieder Größenwahn war… naja, okay. Hauptsache, er bezahlt seine Angestellten.

    Wozu genau hast du seine Hautfarbe erwähnt?

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Twitter hat für mich früher schon eine Menge Checkboxen abgehakt wie man so schön sagt. Dass es eine gute Echtzeit-Nachrichten-App oder -Timeline sein kann ist einer der Punkte. Ich werde sie tatsächlich noch für bestimmte Anlässe benutzen müssen. Beispielsweise habe ich über keine Plattform so zuverlässig herausgefunden, ob es Havarien oder Demos in meiner Stadt gibt. Das lässt tief blicken (für die Stadt), aber so ist es eben leider. Man kann das natürlich mehr oder wenig vollständig durch Eigeninitiative in anderen Plattformen selber abdecken.

      Seine Hautfarbe habe ich erwähnt, weil es in die gern zitierte Statistik passt, dass überbordend viele Unternehmen von weißen Männern geführt werden. Siehe beispielsweise hier. Einem wie ich finde schrecklichen Befund unserer Zeit, in der Privilegien, Verantwortung und Einfluss extrem ungleichverteilt sind.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert