ausgelesen: Mark Twain „Die Abenteuer von Tom Sawyer“

Eigentlich wollte ich Percival Everetts James lesen. Das erzählt die „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“-Abenteuer von Mark Twain neu aus der Sicht eines Charakters, der bei Twain (soweit mir bekannt) eher eine Nebenfigur bleibt: der des schwarzen Jungen James, genannt Jim. Das scheint besonders interessant, weil die Abenteuer von Tom Sawyer wohl auch ein Sinnbild für kindliche Freiheit sind, während Jim ein Sklavenjunge ist und somit das genaue Gegenteil von Tom Sawyer lebt. Ich dachte mir: kann ich Everetts James wirklich wertschätzen oder bewerten, wenn ich die Perspektive Mark Twains nicht kenne? Und so kam ich zu Die Abenteuer von Tom Sawyer, dem wohl ersten Roman, in dem besagter Junge und seine Freunde auftauchen. Jim findet darin nur kurz Erwähnung. Andere Ansprüche, die ich an das Buch stellte waren einfach und erfüllbar. Ich las es zufälligerweise im Sommer und erwartete, dass es sich wie ein Sommerbuch anfühlen sollte. Außerdem sollte es meine Mark Twain Lücke (beginnen zu) schließen.

Die Abenteuer von Tom Sawyer spielt irgendwann im 19. Jahrhundert im fiktiven Städtchen St. Petersburg in Missouri. Im Zentrum steht Tom Sawyer, der nicht so gern in die Schule geht, aber sehr gern Streiche spielt. Im Laufe des Romans lernen wir viele seiner Freunde und der Leute im Ort kennen. Obwohl oftmals in der Metalektüre als Jugendbuch angegeben, steht schon alleine im Vorwort Twains, dass es sich auch an Erwachsene richtet, die sich daran erinnern wollen (oder sollen) wie es war jung zu sein. Dementsprechend kurzweilig sind auch die einzelnen Kapitel gehalten, die mal davon handeln, dass Tom und seine Freunde ausreißen und jetzt Piraten werden wollen. Obwohl sie sehr romantisierte Vorstellungen davon haben, was Piraten so tun. 😉 Es gibt auch übergreifende Handlungen wie beispielsweise die, in der er Zeuge eines Mordes wird. Die darin involvierten Charaktere werden uns bis Ende des Romans immer mal wieder begegnen und sie ist wohl einer der drastischeren und deutlich spannenderen Handlungsbögen.

Insgesamt ist Die Abenteuer von Tom Sawyer trotzdem ein (für erwachsene Leser:innen) sehr unaufgeregter Roman, der eben das Leben von Kindern im Amerika des 19. Jahrhundert wiedergibt. Inklusive allem, was damals eben Gang und gäbe war: Mangelnde Aufklärung und begrenzter Stellenwert von Bildung, kein Auffangnetz durch einen Sozialstaat, Maßregelung und Erziehung mit der Rute, ein sehr einseitiges Frauenbild, Sonntagsschule und Kirche werden groß geschrieben und es gibt Familien, die Sklaven haben. Schwarze Personen werden ganz unverblümt mit dem N-Wort bezeichnet.

Die Streiche der Kinder vermitteln v.A. dann ein Freiheitsgefühl, wenn sie aus all dem ausbrechen, ausreißen, Schabernack treiben. Wovon sie sich aber befreien sind nicht vorrangig die oben genannten, historisch bedingten Umstände, sondern Pflichten, die sie nicht mögen. So war’s halt. Und das erinnert wirklich an Kindheit. Denn wenn wir uns vor etwas versucht haben zu drücken, dann war das auch eher eine lästige Haushaltspflicht. Insofern hat Twain es schon geschafft, dass man einen Hauch von Tom Sawyers Schabernack versteht und sich an die eigene Kindheit erinnert.

Zwischendrin taucht Mark Twain oder eben „eine Erzählstimme“ auf, der manches in einen moralischen Kontext setzt und wertet – aber eben nach damalige Maßstäben, wenn auch annähernd humanistischer Natur, manchmal auch mit etwas Verlachen der Erwachsenen. Für manche Leser:innen mag der Roman damit evtl. tatsächlich die Atmosphäre von „einfacheren“ (aber nicht besseren) Zeiten vermitteln und gut unterhalten. Manche Abenteuer sind schließlich ganz witzig, fühlen sich aber nach diesem einen alten Film an, den man schon drei Mal gesehen und drei Mal vergessen hat. Der Wert des Buches als Unterhaltungsliteratur hängt stark von den Vorlieben der Lesenden ab. Über weite Strecken ist es v.A. eine Art Zeitdokument. Daher würde ich es Kinder nicht lesen lassen ohne gemeinsam darüber zu reden.

Ich erinnere mich, dass es mal vor einer Weile Diskussionen auslöste, dass in Mark Twains Buch oder Büchern rund um Tom Sawyer das N-Wort fällt und dass das unziemlich wäre. (Siehe hierzu u.a. „Bloß nicht das N-Wort“ in Die Zeit, 06.01.2011) Meine paar Cents dazu sind, dass es für mich (wie oben schon fallen gelassen) ein Zeitdokument ist. Fallen in solchen Büchern Rassismen ist das ätzend, keine Frage. Ihre Aussparung finde ich aber bei Zeitdokumenten problematisch genauso wie es problematisch ist die Begriffe unkommentiert stehen zu lassen. In beiden Fällen wünsche ich mir ein Vor- oder Nachwort, das darauf eingeht. Dieses sollte unmissverständlich sein und erklären, warum die Verwendung des Wortes inakzeptabel ist und das alles in den historischen Kontext einordnen. In der Ausgabe, die ich hier bespreche, gibt es ein Nachwort. Auf speziell diesen Aspekt wird aber soweit ich mich erinnere nicht eingegangen. Was mich interessieren würde ist die Perspektive von BIPoC zu dem Thema. Das Wort drin lassen, ja oder nein?

Fazit

Gut zu lesen bei Neugier auf Mark Twain und als Zeitdokument, aber stets mit entsprechendem Bewusstsein für den historischen Kontext und seine gesellschaftlichen Probleme

Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-596-90037-4, Fischer Taschenbuch Verlag

Wie ist eure Sicht auf die Tom Sawyer Bücher und die Frage nach dem N-Wort und Rassismen, die historisch bedingt in das Textgewebe geflossen sind? Ich werde übrigens die Tom Sawyer Bücher nicht weiterlesen, obwohl mir schon zugespielt wurde, dass mindestens der nächste Band lesenswerter ist. Mich hat es einfach nicht genug gefesselt oder interessiert. Darüber hinaus ist dieser Post Teil des Booleantskalenders 2024. Unter dem Link findet ihr alle Türchen, d.h. alle Beiträge aus der Vorweihnachtszeit. 🎄

12 Antworten

  1. Ich habe gerade im Zuge des audible-Angebots Percival Everetts „James“ als Hörbuch begonnen und warte auf die nächste lange Autofahrt (oder Putzaktion), um es zu beenden. Ich habe Tom Sawyer damals zu Schulzeiten gelesen und konnte mich nur noch dunkel erinnern. „James“ kann ich aber trotzdem ausgezeichnet folgen; es ist eine in sich schlüssige Geschichte, in der Tom Sawyer kaum, dafür aber Huckleberry Finn umso häufiger auftaucht. Oftmals ist auch keiner der Jungen dabei; James bekommt sehr viele eigene Kapitel fernab der Jungen. Was für mich hilfreich gewesen wäre, ist, mich (vielleicht über Ibram X. Kendis „Gebrandmarkt. Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika“ hinaus) nochmal mit den europäischen Theorien zur Sklaverei (Locke, Rousseau) zu beschäftigen. Hier schreibt Everett manchmal, als gehörten die Feinheiten zur Allgemeinbildung. Ich muss hier peinlicher weise definitiv mit Wikipedia nachhelfen.
    Ansonsten ist „James“ bisher ziemlich schonungslos in seinen Schilderungen von Rassismus und Gewalt; das finde ich beim Hören fast noch schlimmer als beim Lesen.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Das klingt gut, Jana 😉 Danke für deine Einschätzung. Da kann ich mich nächstes Jahr Mal ruhigen Gewissens „James“ widmen ohne zu viel Saywer/HuckFinn kennen zu müssen. Der Jammer ist, dass ich vorher rumgefragt habe, aber damals war im „Publikum“ nie jemand, der oder die „James“ schon gelesen hatte. Das war quasi zum Erscheinen des Buches .. also als meine Pläne auch noch recht jung waren.

      Das Theorien zur Sklaverei hilfreich sind, hat mich zwar etwas erschrocken, aber ich werde das wohl einfach ignorieren müssen, weil ich das unter Garantie nicht so schnell im Detail schaffe zu lesen. Vielleicht kann ich nebenbei Suchmaschinen befragen und Wikipedia – so wie du. Damit kommt man aber gut durch, oder?

      Und danke auch für die Warnungen über die Schonungslosigkeit. Dann kann ich mir mal Gedanken machen, wann ich das in Angriff nehme. Warnungen aus der Blogosphäre und von Bekannten sind die besten. 🙂

      1. Ich war, was Neuerscheinungen angeht, ein paar Monate lang komplett abgetaucht und habe von „James“ daher erst über eine Empfehlung auf reddit etwas mitbekommen. Ich glaube, Tom Sawyer stand zu Schulzeiten auf einer freiwilligen Leseliste (die war echt gut, da waren u. a. auf Der Hobbit und Star Wars dabei), so hab ich es damals gelesen.

        Mit nebenbei Googlen kommt man definitiv durch! Ich bin zuletzt in so ein classical education rabbithole gefallen und wollte perspektivisch Locke, Voltaire, Rousseau und Kollegen sowieso mal anlesen. Ist eher ein langfristiges Projekt.

        Ja, schau mal, wie du später mit den krasseren Passagen zurecht kommst. Habe auch Mütter erlebt, die ihren Babys im Krankenhaus die blutigsten Thriller vorgelesen haben. (Die Babys sind selig eingeschlafen.) 😀

  2. Sehe die N-Wort-Frage genau wie du. Ich möchte „James“ auch lesen, kenne Mark Twains Geschichten aber nur aus der alten Fernsehserie, überlege daher auch, zumindest das Huckleberry Finn-Buch zu lesen.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Nach dem was die anderen Kommentator:innen hier so geschrieben haben, scheint es ja nicht unbedingt notwendig zu sein Huckleberry-Finn vor „James“ zu lesen. Ich gestehe ich hätte mir das im Nachhinein auch gern geknickt.

  3. Ich habe darüber auch nachgedacht, habe mich aber entschieden erst „James“ zu lesen und dann Mark Twain. Bin mittendrin und ziemlich beeindruckt.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Cool! Das motiviert gleich nochmal mehr „James“ zu lesen!

  4. Schade, dass dir Tom Sawyer nicht gefallen hat – für mich immer noch einer der besten Romane aller Zeiten, aber ich kann deine Punkte auch sehr gut nachvollziehen. Die folgenden Sawyer-Romane lohnen sich aber wirklich nicht, da musste selbst ich als Fan irgendwann abbrechen.

    Soweit ich das sehe, hat sich Everett ja auch „Huckleberry Finn“ als Vorlage genommen. Ich bin auf jeden Fall auf deine Meinung gespannt! Es wäre dann vielleicht eine gute Gelegenheit für mich, um mich mal wieder den Büchern zu widmen.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ah, danke für deine Einschätzung Eugen! Ich hätte mich eh schwer damit getan noch eins der Tom-Sawyer- oder Huckleberry-Finn-Bücher zu lesen oder … muss ich leider gestehen … überhaupt noch irgendwas von Mark Twain. Vielleicht ist das einfach nicht meins. Oder du hast noch einen Tipp für mich? Du bist was Mark Twain betrifft jedenfalls deutlich bewanderter als ich.

      Dass er Huckleberry Finn als Vorlage hatte, konnte ich zu dem Zeitpunkt als das Vorhaben gewachsen ist, leider nirgends eindeutig nachlesen. Da war „James“ gerade erst angekündigt. Die Info kam dann natürlich später, da hatte ich wiederum schon „Tom Sawyer“ hier liegen. Doof gelaufen, aber andererseits auch nicht vollkommen abwegig, zumal es ja auch das erste Buch ist, in dem Huck Finn auftaucht, so wie ich das sehe?

      1. Es kann auch einfach sein, dass dir Twain einfach nicht liegt – er hat einen speziellen Humor, den man mögen muss (und den viele auch mit Arroganz verwechseln), ansonsten wird es mE schwierig. Ich liebe diese Art von Humor, aber es gibt auch gute Gründe, Twain zu kritisieren.

        Huck taucht bei Tom das erste Mal auf, aber er spielt natürlich eine untergeordnete Rolle. „Huckleberry Finn“ zählt nicht ohne Grund zu den großen „Anti-Rassismus-Klassikern“, ist aber in erster Linie ein „Lausbuben-Abenteuer-Roman“ (Wenn auch deutlich ernster als Tom Sawyer).

        Für Twain waren alle Menschen gleich und dieses Credo zieht sich durch sein gesamtes Werk (besonders in seiner Autobiographie wird das deutlich) – die Verwendung des N-Wortes entsprach wohl eher den damaligen Gepflogenheiten denn einer entsprechenden Gesinnung.

        Aber natürlich ist „Huckleberry Finn“ auch ein Kind seiner Zeit. Ein großer Schwachpunkt – mMn der einzige – ist die Figur des Jim (nicht gerade ein Einstein) und da setzt Everett an. Ich glaube, ich werde „James“ bei meinem nächsten Re-Read einplanen, je öfter ich darüber nachdenke, desto interessanter finde ich den Gedanken!

  5. […] der Adaptionen12.12. 🥚 Anime-Besprechung: „Wonder Egg Priority“13.12. 🧒 ausgelesen: Mark Twain „Die Abenteuer von Tom Sawyer“14.12. 🐻 Serien-Besprechung: „The Bear“ Season 315.12. 👩‍💻 […]

  6. […] hatte ich mit Mark Twain. Ich sollte wohl noch irgendwas anderes von ihm lesen als die Abenteuer von Tom Sawyer!? Denn bisher fällt mein Urteil eher aus als „nix für mich“. Vor dem Kafka-Jahr […]

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