ausgelesen: Becky Chambers „The Long Way to a Small, Angry Planet“ (Wayfarers #1)

Ich könnte mir nichts besseres vorstellen, um den Welttag des Buches zu feiern, als den Science-Fiction-Roman einer Autorin. 😊 In Becky Chambers bereits viereinhalb Bücher umfassender Wayfarers-Reihe widmet sich jeder Band anderen Charakteren, die mehr oder weniger mit dem Raumschiff Wayfarer zu tun haben. Die Wayfarer ist eine Tunneling-Einheit. Crew und Schiff „graben“ sozusagen Wurmlöcher, durch die danach schneller durch das All gereist werden kann. Rosemary stößt als neuestes Crew-Mitglied zur Wayfarer hinzu und hat ihre ganz eigene, geheime Vergangenheit mitgebracht. Es ist für sie das erste Mal, dass sie an Bord eines Raumschiffs arbeitet und lebt. Die Einsätze können sowieso gefährlich werden und sind typischerweise lang, schließlich kann die Wayfarer keine Abkürzungen nehmen. Die gibt es erst, nachdem die Wayfarer dort war. Zudem nimmt die Crew rund um Captain Ashby kurz nach Rosemarys Ankunft einen hochdotierten Auftrag an, der sie aber auch durch Gebiet reisen lässt, das bis vor Kurzem noch Schauplatz furchtbarer Kriege war.

„As she woke up in the pod, she remembered three things. First, she was travelling through open space. Second, she was about to start a new job, one she could not screw up. Third, she had bribed a government official into giving her a new identity file. None of this information was new, but it wasn’t pleasant to wake up to.“

p. 1

Durch Rosemarys Augen betrachtet, lernen wir die Crew kennen, die sich aus Individuen verschiedener Spezies zusammensetzt. Captain Ashby ist ein Mensch. Ein sehr korrekter Typ, der sie alle zusammenhält. Dr. Chef ist Arzt und Koch und hat sicherlich auch einen echten Namen, aber den kann rein physikalisch niemand aussprechen. Dr Chef ist ein Grum, nicht humanoid, und gehört einer bedrohten Spezies an. Kizzy und Jenks sind Techniker an Bord der Wayfarer und Menschen. Kizzy ist sehr flippig, mitteilungsbedürftig, sprunghaft und wohl die beste Freundin des kleinwüchsigen Jenks. Der wiederum teilt eine platonische Liebe mit Lovelace (aka „Lovey“), der KI an Bord der Wayfarer. Sissix ist die Pilotin der Wayfarer und gehört der Spezies der Aandrisk an, die man als Reptiloide und Vogelähnliche beschreiben könnte. Corbin ist der Botaniker der Crew und wird relativ früh im Buch beschrieben als „complain first, explain later“ (p.6), er hat also wenig Geduld, wenig Empathie und eckt oft mit seiner Wortwahl an. Ohan ist Navigator der Crew und besteht aus zwei Organismen, die in Symbiose oder viel mehr einer parasitären Beziehung miteinander leben. Daher wird Ohan in der englischen Ausgabe stets mit „they“ adressiert.

Wie man an der langen Erklärung über die Crew vielleicht schon merkt, liegt der Fokus des Buches auf den Charakteren und ihrem Zusammenleben. Mehrere Spezies in einem abgeschlossenen Raum während einer schwierigen Mission – Hort für reichlich Drama? Nein, es funktioniert! Was The Long Way to a Small, Angry Planet zu einem Comfort Read macht. Einem Buch, das man gern in die Hand nimmt, um sich zu erinnern wie Lebewesen miteinander umgehen können und sollten: mit Respekt für die Bedürfnisse aller Individuen. Kapitel widmen sich jeweils den einzelnen Charakteren aus Ich-Perspektive und im Laufe der Zeit lernen wir einiges über ihre Spezies, ihre Vergangenheit und ihre Beziehungen untereinander. Wegbegleiter:innen, die hier als Nebencharaktere auftreten, werden die Hauptpersonen in anderen Büchern der Wayfarers-Reihe.

Aber selbst in dem harmonischen Umfeld gibt es Konflikte, die einiges an Fingerspitzengefühl benötigen. Beispielsweise die parasitäre Bindung, die Ohan langsam aber sicher das Leben kostet. Es ist gesellschaftliche Science-Fiction, wenn sich die Crew der Wayfarer fragen muss, ob sie sich einmischen soll. Einerseits verletzen sie damit Ohans Kultur und Glaube, andererseits würde es Ohans Leben retten. Auch die Betrachtung von KI mit Bewusstsein als Lebewesen hinkt. Während die Crew Lovey beispielsweise als vollwertiges Crew-Mitglied betrachtet, tun das längst nicht alle. Lovey und Jenks fragen sich mehrmals ob es für ihre Liebe einen „nächsten, konsequenten“ Schritt gibt.

„It was hard to feel weird in a place where everbody was weird. He took comfort in that.“

p. 109, aus Jenks Perspektive

Es gibt unheimlich viele diskutierenswerte Themen innerhalb des Buches, die das Zusammenleben von Individuen betreffen. Zentrum von ihnen allen ist aber einen Weg zu finden, der alle Seiten respektiert. Etwas, das mir in unseren öffentlichen Debatten um Beziehungen, Geschlechterrollen, genderneutraler Sprache und Selbstbestimmungsrechten fehlt. Die Crew der Wayfarer hat uns da scheinbar einiges voraus, denn sie haben kein Problem mit Gendern, mit Beziehungen unterschiedlicher Art (von hetero-, homo-, bi-, über asexuell, polyamor, you name it…) und dem gegenseitigen Verständnis von Kultur. Sie haben ein gemeinsames Ziel und leben in einem abgeschlossenen Raum. Dass sie miteinander klarkommen müssen und wie man dahinkommt, demonstrieren die Episoden des Buchs – und machen Hoffnung für uns alle? Einzig schwierig finde ich, dass Corbin über lange Strecken von allen mit hochgezogener Augenbraue betrachtet wird – auch wenn er sich nicht mit Ruhm bekleckert. Es stellt die Frage, ob wir Empathie nur für die empfinden wollen oder können, die uns passen und uns auch entgegenkommen. Aber auch das gehört wohl dazu. Die für mein Empfinden schwierigste Debatte ist die um Ohan und inwiefern sich die Crew in seine Belange einmischen darf, selbst wenn es um Ohans Leben geht.

Neben den gesellschaftlichen Aspekten hat sich Chambers auch Gedanken um die Raumfahrt gemacht und beschreibt das Leben der Crew nicht nur als Team in einem Raum, der zufällig durch das All düst. Sie müssen Halt machen, um Vorräte einzukaufen. Sie dehnen den Raum, um durch Sublayer zu springen und es gibt Situationen, die sie alle gefährden, die technisch und physikalisch beschrieben werden. Sicherlich gibt es „härtere“ Science-Fiction, die sich mehr in physikalischen Details verliert, die aber meines Erachtens deswegen nicht besser oder schlechter als The Long Way to a Small, Angry Planet ist. Etwas, dessen sich Chambers annimmt, dass ich noch in keinem Science-Fiction-Buch fand, ist die Erwähnung von Standard Days als standardisierter Zeiteinheit. Ich habe mich oft in Sci-Fi-Büchern gefragt wie die eigentlich insbesondere bei interplanetaren Reisen mit Zeitangaben umgehen wollen. 😉 Eine Aussage, die ich sehr schön angesichts technischer, zeitgenössischer Debatten finde ist übrigens die hier:

“ AI can’t be any smarter than the people who create them.“

p. 71

Chambers webt also in die Erzählung der Crew viele typische Science-Fiction-Motive sehr natürlich ein und das mit einer angenehmen Mischung aus Erklärung oder Erzählung. Trotz all des Lobes ist A Long Way … aber auch ein Buch, in dem wenig passiert. Als ich möchte sagen klassischer Comfort Read hat es zwar einen Rahmen-Konflikt, die Mission durch konfliktbehaftetes Gebiet, der aber quasi nur am Anfang und am Ende des Buches kurz eine Rolle spielt. Das „Dazwischen“ widmet sich den Charakteren und deren Entwicklung. Das ist wichtig und die Charaktere sind sehr liebenswert. Es hat mich beeindruckt wie weit die Gesellschaft gemessen am Mindset der Crew ist. Aber ganz gereicht hat mir das nicht. Teambuilding und -zugehörigkeit, sich gegenseitig beschnuppern, der Besuch fremder Welten, einen Schlag aus der Vergangenheit der einzelnen erfahren – das ist alles sehr schön und vielleicht sogar ein Alleinstellungsmerkmal für das Buch unter der Masse an Science-Fiction-Büchern. Aber es ist eben verhältnismäßig konfliktarm und daher leider nicht sehr spannend. Ich legte das Buch häufig zur Seite und nahm es nicht wieder in die Hand, obwohl ich das Buch, die Autorin, die Charaktere mag.

Wenn dann die tragischen Wendungen kommen, die die Crew betreffen, die uns ans Herz gewachsen ist, dann wirkt das natürlich umso mehr. Soviel dürfte klar sein: dann habe ich das Buch schnell wieder in die Hand nehmen wollen.

„Such a quintessentially Human thing, to express sorrow through apology.“

p. 206, Dr. Chef in Gedanken während eines Gesprächs mit Rosemary

Fazit

Eine Crew, die einem ans Herz wächst. ♥ Das Buch sollte aber nicht mit Abenteurer-Sci-Fi verwechselt werden.

Besprochene Ausgabe: ISBN 978-1-473-61981-4, Hodder & Stoughton Verlag

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

Eine Antwort

  1. Schade, dass dich das Buch nicht 100% abgeholt hat. Ich fand gerade den Fokus auf das Interpersonelle und Philosophisch-Gesellschaftliche und das Fehlen von großen Konflikten und Dramaturgie als wohltuend und natürlich. Für mich war genau das einer der Gründe, wieso ich dieses Buch so sehr mochte und ich hätte all dem noch viel länger folgen können. Aber klar, wenn man etwas mehr Dramaturgie und Spannung sucht, ist The Long Way nicht die passende Lektüre.

    Wirst du auch die Folgebände lesen?
    Ich hab ein paar Mal versucht, Band 2 zu lesen, fand den aber so zäh und das Droppen von Figuren, Begriffen, Orten und Technologien so überbordend und weniger natürlich, dass ich immer schnell das Interesse am Buch verlor.

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