Netzgeflüster: analoge vs. digitale Retro (Scrum-Web-Tools im Vergleich)

Corona bringt uns alle in eine ungewohnte Lage. Für viele Unternehmen und Projekte ist verteiltes Arbeiten normalerweise kein Thema, weil Präsenz erwünscht oder sogar notwendig ist. Aber (fast) alle Büroarbeiter haben an und für sich die Möglichkeit ihre Arbeit auch aus dem Home Office zu verrichten. Mobile Hardware und VPNs sei Dank können Firmennetze auch von zuhause aus erreichbar sein. In Zeiten von Krisen entdeckt der Mensch nicht selten seine Wandlungsfähigkeit und plötzlich ist da Platz für echte Innovationen wo vorher schlichte Gewohnheit war. Was bedeutet das aber für Teams? Telkos, Webmeetings, Videokonferenzen aus dem Home Office – wer das noch nicht praktiziert hat, wird das der Tage wohl mehr bekommen als einem lieb ist. Wie verhält sich das aber mit den empfindlichsten Meetings, dem Feedback geben und Lösungen erarbeiten so wie man das im Scrum Vorgehensmodell bei Retros(pektiven) versucht? Im Laufe meines Berufslebens habe ich schon einige Ansätze zu Retros gesehen: analog, digital, Mittelding – was klappt, was nicht!?

Analog vs Digital

Das Vorgehensmodell von Scrum betrachtet es als optimal, dass ein Team zusammensitzt. Das ist einer der wenigen Punkte, die ich an der Methodik etwas überholt finde. Es ist selten der Fall und auch nicht zwingend notwendig, dass ein Team tagtäglich eine Arbeitsumgebung teilt. Aber es ist schon etwas wahres dran: ein verteiltes Team bringt ein paar mehr Herausforderungen mit sich. Ich war die meiste Zeit in Teams beschäftigt, in denen nicht alle ein Büro teilen und habe daher öfter als Entwickler in digitalen Retros gesessen oder als Scrum Master selber welche durchgeführt. Es gibt Tools, die ermöglichen einem digital die Retro-Punkte zu sammeln, sodass jeder die Ergebnisse sieht, die Gelegenheit bekommt seine Anmerkungen loszuwerden etc. Man muss sich dazu allerdings zusätzlich zusammentelefonieren und jeder an einem Laptop sitzen. Dadurch, dass man dem anderen nicht immer ins Gesicht sehen kann (auch trotz Webcam ein Hindernis), können aber schnell Missverständnisse entstehen oder eine wichtige Botschaft im Digitalen untergehen. Dass sich die Kollegen an ihren Laptops nebenbei auch mit etwas anderem beschäftigen und ablenken könnten, ist noch eine weitere Gefahr. Kurzum: es gibt schon einen Grund, warum auch in einer Retro alle in einem Raum sitzen sollten.

Versammelt man für eine „normale, analoge Retro“ die Mannschaft an ein Whiteboard und sie müssen aktiv etwas tun, dann hat auch die Aufmerksamkeit eine andere Qualität. Wenn sich also die Gelegenheit bietet, dass sich mal alle zusammenfinden, dann nutze ich die Gelegenheit immer für eine Analog-Retro, auch wenn die Aufarbeitung und Vorbereitung für mich als Scrum Master dann meistens aufwendiger ist. Fotos machen, von den Fotos etwaige Aktionen abschreiben, etc. Alternativ kann man die auch auf Flip Charts unterbringen und spart sich das abgeschreibe, muss aber dafür Flips und Stifte schleppen. Und wie wir wissen: es malen nie alle Stifte. u_u Ein paar Ideen für analoge Retros gab es schon mal hier. Seine Vor- und Nachteile haben sie alle, ob analog, digital oder irgendwas dazwischen.

Ksenia Kudelkina

Tipps für digitale Retros

Es gibt eine Menge Tools auf dem Markt, die eine Web-Oberfläche und Funktionalitäten anbieten, die genau das tun, was eine analoge Retro vom Grundgedanken her tut. Sowohl FunRetro, als auch Parabol und TeamRetro ermöglichen es, dass Nutzer anonym und verdeckt Anmerkungen machen, diese später aufgedeckt und diskutiert werden können und dass man daraus Aktionen für die Zukunft entwickelt. Nur das wie und Look-And-Feel ist anders. Wie die Tabelle unten zeigt, sind die Merkmale gerade dieser drei Dienste sehr ähnlich. Zwei von ihnen habe ich bereits benutzt, TeamRetro erst jetzt im Zuge der Recherche kennen gelernt. Während FunRetro eine recht lang laufende Pilotphase hatte, in der man frei Sessions eröffnen konnte, ist es inzwischen kostenpflichtig. Parabol ist ein erstaunlich starkes Tool mit vielen zusätzlichen, schönen Features. So gibt es beispielsweise bei Beginn eines Meetings eine „Social Check-in“-Phase, in der man die Anwesenheit prüft und währenddessen eine Frage gestellt bekommt. Sowas in der Art wie „Was ist das kurioseste, dass man derzeit in deinem Kühlschrank findet?“ Ein schöner Ice-Breaker. Außerdem bietet es ein Dashboard wo das Team die aktuellen Aktionen sammeln kann und einen Corporate Login für etwaige SSO-Alternativen. Bei dem Umfang und angenehmen Look-and-Feel ist fraglich wie lange das Tool kostenfrei bleibt.

FunRetro Parabol TeamRetro
kostenfrei? nein ja nein
Anonyme Anmerkungen möglich? ja ja ja
Können Anmerkungen gemerged werden? ja ja nein
Login erforderlich? ja ja ja
Kann man dort Teams anlegen? ? ja ?
Gibt es mehrere Templates für Retros? Customizable? ja (freies Anlegen von Kategorien) ja (Auswahl aus Templates) ja (freies Anlegen von Kategorien)

Leider kann ich quasi keine Screenhots hier teilen ohne Informationen aus Teams preiszugeben oder alles wegzublurren, was interessant wäre. Weswegen ich darauf verzichten muss. Viele Tools bieten aber eine Demo auf ihren Webseiten an (hier beispielsweise die von TeamRetro). Wo wir aber gerade bei sensitiven Daten sind: kommen wir doch mal zu den Nachteilen solcher Dienste neben dem oben beschriebenen Aufmerksamkeits-Problem. Man muss sich stets fragen, ob es ok ist seine Anmerkungen in das Tool zu kippen. Schließlich können die Anmerkungen des Teams sensitive, projekt- und businessspezifische Daten enthalten. Verlinkt mit einem Login von einer Firmenadresse (PSI!) kann das schon „Firmengeheimnisse“ wie Kooperationen verraten oder simpel „Tratsch“ beinhalten. Und der landet dann auf dem Server eines anderen Unternehmens. Es muss also dringend vorher abgeklärt werden, ob der Einsatz eines solchen Dienstes mit den Firmenrichtlinien vereinbar ist.

Das betrifft nicht nur Online-Dienste dieser Façon, sondern auch allgemein Kollaborations-Tools wie beispielsweise Mural. Im Zweifelsfall tut es gar ein Dokument, dass mehrere Leute gleichzeitig bearbeiten können oder gar ein Screensharing in dem der Scrum Master, die Punkte auf dem digitalen Papier sammelt, wenn alle diese Tools keine Option darstellen. Es geht also auch einfacher, aber dafür sicherer oder „geheimer“.

Gibt es auch einen Mittelweg?

Tatsächlich durfte ich an sowas auch schon mal teilnehmen und kann daher sagen: ja es gibt den Mittelweg. Will man das Ding mit Zettelchen und Anmerkungen durchziehen, dann kann man beispielsweise auch schlicht eine Kamera auf das Flipchart oder Whiteboard werfen und für die Teilnehmer, die nicht im Raum sein können die Anmerkungen digital durchgeben lassen und dann selber aufschreiben und anpinnen. Das erfordert aber gute Technik und viel gegenseitiges Verständnis und Geduld. Wie wahrscheinlich immer bei Screensharing, Videokonferenzen oder Telkos. Kurzum: es kann sehr umständlich werden. (Kudos an meine Facilitator, die das damals so souverän gehandled haben, falls sie mitlesen 😉 ) Letzten Endes muss man immer entscheiden, was nützlich, effektiv und auch effizient ist. Und als Scrum Master oder Facilitator des Meetings vorher mal kurz ausprobieren. 😉 In jedem Fall halte ich eine Retro immer für lohnenswert in einem angemessenen Rahmen.

Zu anderen Artikel rund um Scrum und arbeiten in der IT:

Arbeitet ihr in verteilten Teams? Regulär oder wegen der momentanen Umstände? Welche Tools nutzt ihr dabei am meisten? Und macht ihr auch digitale, analoge oder Mittelding-Retros? Wie funktioniert das für euch? Und wie hat die Kontaktsperre sich allgemein auf eure Arbeit ausgewirkt?

Netzgeflüster ist eine Kategorie meines Blogs in der ich mich immer zwischen dem 10. und 15. eines jedes Monats Themen aus IT, Forschung, Netzwelt und Internet widme genauso wie Spaß rund um die Arbeit mit Bits und Bytes. 🙂

2 Antworten

  1. Hallo meine Liebe,

    endlich schaffe ich es mal wieder, ein paar Blogbeiträge zu lesen. Das mit der Retro und den Tools ist bei uns gerade ein sehr aktuelles Thema. Ich denke, deine empfohlenen Tools hier werde ich vielleicht auch mal in die Diskussion mit reinnehmen. Ich kann so viele Punkte deines Beitrags nachvollziehen. Wir arbeiten auch alle verteilt und gerade jetzt im Home-Office hat sich nicht viel verändert, außer, dass ich mein Team vor Ort nicht sehe. Die Kollegen aus dem anderen Standort kenne ich aber eh nur digital. Mir fehlt der persönliche Kontakt tatsächlich. Das Treffen an der Kaffeemaschine. Und der Austausch bei der Einarbeitung. Das ist alles etwas doof über digitale Wege. Home-Office ist aber gut möglich, es ist toll, dass das so schnell bei uns umsetzbar war.
    Und vor allem bin ich total deiner Meinung, dass diese Krise auch viel Raum für Innovation bietet, weil wir alle merken, was möglich ist – denn in der Gewohnheit sträubt sich der Mensch bekanntlich gegen Veränderungen.

    Liebe Grüße,
    Sani

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Hi Sani,

      wahre Worte – ich hoffe auch, dass wir alle von den seltsamen Zeiten lernen und dass man sich wieder für Innovationen öffnet. Mit dem Home Office ist das schon mal ein Schritt. Die technischen Möglichkeiten sind jedenfalls alle da und Tools für Kollaboration gibt es wie Sand am Meer. Offenbar ja auch für Retros 😉
      Vielleicht hilft euch bei der Arbeit nach einem Daily oder ähnlichem „soziale 15 min“mit Webkonferenz und Webcam einzuführen. So machen wir das, um mal auf andere Gedanken zu kommen und weil mancher von uns alleine im HO sitzt und ansonsten zu Zeiten von Kontaktsperre keine Gesichter sieht.

      Viele Grüße

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