Hin und wieder begegnet einem ein unverfilmbares Buch. In einer Filmbesprechung wurde beispielsweise mal Umberto Ecos Der Name der Rose als „unverfilmbar“ bezeichnet. Da liegt auch schon der Fehler, oder? Total fasziniert von der Selbstsicherheit der Behauptung und wie die Geschichte uns eines besseren belehrte, kam ich zu einem Schluss. Unverfilmbar ist kein Label, das gibt es nur in Abstufungen. Sowas wie schon eher gut verfilmbar oder echt schwierig verfilmbar. Aber unverfilmbar? Mit heutigen Mitteln? Nee, das kriegt man schon alles irgendwie hin. Die Frage ist eben nur wie. Dabei dachte ich viel an die Mittel. An Kulissen, an Animation, CGI und Budget. Aber wenig an die Wirkung und Atmosphäre. Jetzt wurde ich eines besseren belehrt und fand mein unverfilmbares Buch in Douglas Dorsts S. bzw Ship of Theseus nach einer Idee von J.J. Abrams. Hier liegt auch schon die Ironie: nach der Idee eines Filmemachers.
Das Schiff des Theseus
S. thront als großer, geschwungener Buchstabe auf dem Schuber. Es ist der Name des Buches und irgendwie ja doch nicht, denn in dem Schuber steckt das eigentliche Buch mit dem Titel Ship of Theseus, dt.: Schiff des Theseus. Das Buch sieht etwas retro aus und trägt einen Bibliotheks-Code am Buchrücken. In der Innenseite des Buchdeckels steht „book for loan“ und wenn wir durchblättern springen sofort die zahlreichen Anmerkungen an den Seitenrändern in verschiedenen Stiftfarben ins Auge. Außerdem liegen zig andere Materialien zwischen den Seiten des Buches – u.a. Postkarten, Briefe, Zeitungsausschnitte, eine bemalte Serviette. S. ist nicht nur ein Buch, es ist ein Konundrum. Eine Schatzkiste, in der man ewig blättern und sich damit in beliebigen Tiefengraden beschäftigen kann. Als ich neulich darüber twitterte, schrieb mir Ute „Das ist so‘n Buch, da dachte ich immer, dass da alle nur verliebt drin rumblättern aber es niemand wirklich durchliest.“ Ich verstehe auch warum. Es dauert und manchmal ist S. ziemlich anstrengend. Aber man erlebt eine ganze Menge.
Der Roman im Roman, Ship of Theseus, handelt von einem Mann, der ohne Erinnerung in einer Hafenstadt aufwacht. Noch hatte er nicht mal die Gelegenheit etwas über sich rauszubekommen, da wird er bereits shanghait und fristet ein Dasein auf einem surreal wirkenden Schiff. Die Crew macht kaum Anstalten ihm seine Fragen zu beantworten. Die Zeit scheint auf dem Schiff langsamer als an Land zu vergehen. Einer seiner einzigen wenigen Hinweise über sich selber: ein Zettel in seiner Tasche mit einem geschwungen geschriebenen S darauf. Von da an nennt er sich S. und versucht mehr über sich herauszufinden während der gefährlichen Aufträge für die er von der wortkargen Crew an Land gebracht wird. Es scheint alternativenlos. Das Buch wurde von einem Autor namens V.M. Straka geschrieben. Die Bemerkungen am Rand und die Fußnoten im Buch spannen noch zwei weitere Ebenen der Geschichte auf. Die Übersetzerin Strakas, F.X. Caldeira, packt noch eine Menge zusätzliche Informationen über Straka in Vorwort und Fußnoten. Die Bemerkungen der zwei eifrigen Leser:innen an den Seitenrändern, machen zudem klar: nicht alles, was Caldeira schreibt ist wahr. Manches sind versteckte Nachrichten und Codes. In Ship of Theseus passiert wortwörtlich vieles zwischen den Zeilen und an den Rändern vergilbter Seiten.
„What begins at the water shall end there, and what ends there shall once more begin.“
Metafiktion
Die beiden Personen, die das Buch mit all den Randbemerkungen in verschiedenen Farben verziert haben, sind Jen und Eric. Eric ist ein ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter und Literaturwissenschaftsstudent, der vorrangig über Straka forschte. Denn der ist auch eine sagen wir mal umstrittene, historische (fiktive) Persönlichkeit. Er soll Diktatoren gestürzt haben und vielleicht gar nicht existieren. Eventuell stecken ganz andere Autor:innen hinter dem Pseudonym. Aber wer? Vor Allem diese Frage will Eric klären. Zuerst war nur er es, der in der Ausgabe der Universitätsbibliothek seine Anmerkungen hinterlassen hat. Dann fand Jen das Buch. Sie arbeitet in der Uni-Bibliothek und studiert ebenfalls Literaturwissenschaften. Sie stimmt mit ein in den Kanon aus Fachsimpeln, geheime Botschaften Caldeiras dechiffrieren und tauscht Gedanken mit Eric aus, die bald über das Buch hinausgehen. In den Bemerkungen aus Kuli und Marker geht es bald um das Leben, wo sie hin wollen und wohin nicht. Warum Eric von der Uni verwiesen wurde und Jen eine schwierige Beziehung zu ihren Eltern hat. Beide kommen sich durch die Zeilen nahe. Aber möglicherweise liest jemand mit. Wie gefährlich ist es hinter Strakas Identität kommen zu wollen?
Von Metafiktion spricht man, wenn sich Fiktion bewusst selber thematisiert und damit ein künstliches Gefühl von Realität erzeugt. Denn wenn über Fiktion geschrieben wird wie über Realität, verschwimmen die Grenzen. Das geschieht in dem Buch durch die Fußnoten Caldeiras, v.A. aber auch durch die Kommentare Jens und Erics. Damit vereint S./Ship of Theseus mindestens drei verschiedene Ebenen: 1. den Roman im Roman um den Mann auf dem Schiff, 2. der Lebensgeschichte Strakas (wer auch immer das ist) und seiner:ihrer Vertrauten Caldeira, außerdem 3. der Geschichte Jen und Erics. Deren Kommentare sind nochmal ein dichtes Netz aus Handlung, dessen Zeitebenen durch verschiedenfarbige Schrift trennbar sind. Auf Nachfrage kann ich in den Kommentaren gerne die zeitliche Reihenfolge der Farben teilen. Allerdings sehe ich es als Teil des Spaßes selber dahinterzukommen.
Wie von selbst drängt sich die Frage auf: ist das alles les- und erfassbar? Und wie liest man das? Es sind viele Ansätze denkbar. Dass man jede Seite und ihre Fußnoten und Anmerkungen Jen & Erics gleichzeitig liest. Oder dass man zuerst die Kapitel und Fußnoten liest, danach die Bemerkungen. Oder das man erst den ganzen Roman liest und danach die Bemerkungen der Beiden in zeitlich korrekter Reihenfolge. Geschmackssache. Variante 2 hielt ich für am praktischsten, habe mich für diese Variante entschieden und würde das heute wieder tun. Nebenbei machte ich mir Notizen um einen Überblick darüber zu bewahren welche Figuren aus dem Leben des (fiktiven) Straka, Jen und Erics mit den Personen im Roman Ship of Theseus gleichzusetzen sind. Denn auch im Roman gibt es einen Helden (vielleicht Straka), einen Love Interest (vergleichbar mit Caldeira), Verbündete und Bösewichte.
Schwer zu lesen
Damit meine ich nicht mal, dass es schwierig zu lesen ist wegen der ganzen Zeitebenen, sondern tatsächlich, dass das ganze Buch einfach schwer ist. Soll einem nichts aus der Hand fallen, muss man einigermaßen gut zupacken. Gesessen habe ich daran allerdings lange (etwas mehr als einen Monat). Zum Einen durch den reinen Umfang der ineinander gefalteten drei Ebenen. Eigentlich sind es zwei oder drei Bücher, die hier drin stecken. Zum Anderen einfach auch weil meine Augen immer wieder zu den Anmerkungen am Rand wanderten, sodass es lange gedauert hat die Kapitel zu lesen und ich letzten Endes manches doppelt lesen musste. Den Seemannsslang der rauen Crew und Jens Handschrift habe ich nicht immer auf Anhieb entziffern können und durchlief eine Angewöhnungsphase mit langsamer Realisation, dass das hier alles etwas dauern wird.
Naht um Naht fügt sich die vielen Eindrücke aus Zeitebenen, Postkarten zwischen den Seiten und Anmerkungen zusammen. Haben noch manche Kommentare Jens und Erics am Rand anfangs keinen Sinn ergeben, werden sie das später tun. Dementsprechend kann man allerdings auch die Zeitebenen Jen und Erics im ersten Drittel schwer auseinanderhalten. Gibt man dem Buch Zeit und schenkt dem Gesamtkonstrukt viel Aufmerksamkeit, ist S. nach hinten raus absolut rund und hat mich sehr gerührt. Aber nicht alles ist gleich stark. Der Dialog der beiden Straka-Fans ist mitreißend, Ship of Theseus ist es nicht immer. Die Identitätssuche des Mannes ohne Gedächtnis ist metaphern- und bilderreich geschrieben. Von einer gewissen Melancholie geprägt, bringt es uns das Konstrukt der Identität näher. Konfrontiert mit all der Gewalt stellt sich die Frage, was es noch für S. bedeutet keine Erinnerung zu haben? Seine Reise wird verlustreich und brutal. Vielleicht wird er immer weniger ein Mensch und mehr eine Sache. Worin liegt dann noch Identität? Das Schiff auf dem er von Auftrag zu Auftrag gelangt ist ein in Form gegossenes Paradox. Tatsächlich ist Schiff des Theseus ein Paradoxon der Philosophie, das die Frage nach Wahrheit und Identität stellt. Tauscht Theseus alle Einzelteile seines Schiffs aus, ist es dann noch dasselbe Schiff? Ist S. ohne Erinnerung noch derselbe? Und ist das überhaupt noch wichtig?
Unverfilmbar?
Offenbar hat Douglas Dorst dieses Konzept aus zwei realweltlichen Fällen abgeleitet. Zum Einen der Frage, ob Shakespear wirklich selbst seine Werke verfasst hat und der Identitätsfrage B. Travens, die bis heute nicht eindeutig geklärt ist (Quelle: The Story of “S”: Talking With J. J. Abrams and Doug Dorst, The New Yorker, November 2013). So faszinierend wie wortreich: nicht immer empfand ich den Roman im Roman als spannend. Aber immer als großartig geschrieben. Jen und Eric funktionieren daneben wunderbar als Auflockerung. Wie vertraute oder zumindest eingeweihte fühlt man sich beim Betrachten ihrer Handschrift. Ein Genre gibt es nicht. Zwischendurch meint man sich in einem Thriller wiederzufinden und Paranoia zu wecken. Denn ja: es sind mehrere Lesarten und jede Menge Theorien denkbar. Nicht nur über Straka! Ist Jen vielleicht nur eine zweite Persona Erics, die sein Kopf erfand um mit seinem Leben und sich selbst besser auszukommen?
Ein einziger Artikel wird all dem nicht gerecht. Aber um den Bogen zum Anfang zu schlagen, muss ich sagen, dass ich das Buch tatsächlich für unverfilmbar halte. Klar kann man das grundsätzlich. Aber nichts davon würde das Gefühl des Entdeckens der Zusammenhänge oder alleine die Haptik des Buches nachvollziehbar oder vergleichsweise nachfühlbar machen. Auch kein ebook (obwohl es das gibt), auch kein Hörbuch. Was es mit einem tut, wenn man das Buch aufschlägt, das einem so feinsinnig und in allen Details vorgaukelt eine große Verschwörung zu sein, dass man es fast glauben möchte. Dass einem fiktive Personen so ans Herz wachsen lässt. Und uns so wehmütig auf die Reise des S. blicken lässt. Wie kann die Antwort auf die Frage nach dem Schiff des Theseus lauten, wenn sie Fiktion in der Fiktion stellt? Vielleicht ist das sogar eine bewusst gewählte Farce. Es bleibt die Botschaft, worauf es wirklich ankommt im Leben. Sei, wer du sein willst. Vergib und dir wird vergeben. Und: wenn du kannst, entscheide dich für die Liebe. Wer übrigens hier bei all dem Inhalt noch nicht genug hat, findet mehr über das Buch zu lesen in dem Blog und dem später aufgetauchten alternativen Ende in einem Tumblr Blog! Warum nicht. Wenn wir schon bis hierhin gekommen sind. Tipp: keine zu langen Pausen beim Lesen machen.
„To be a self rewritten from a lost first draft“ p.126
Fazit
Ein faszinierendes und cleveres Buch, das viel Durchhaltevermögen erfordert, aber mit einer Schatzkiste aus Genres, reichlich Metafiktion und einem Hauch Paranoia belohnt wird.
Besprochene Ausgabe: ISBN 9780857864772, Canon Gates Books
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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