ausgelesen: Nele Pollatschek „Kleine Probleme“

Es gibt wohl keinen besseren Zeitpunkt den Roman Kleine Probleme dann zu lesen, wann er spielt. Nämlich an Silvester. Oder kurz danach, an Neujahr. Wenn das Wort Vorsatz durch die Köpfe geistert und man sich noch nicht sicher ist – soll man das? Will man das? „Dieses Jahr wird alles anders! Alles, was letztes Jahr nicht wurde, wuppe ich!“ Das Buch passt deswegen so gut, weil es von einem handelt, der an Silvester realisiert, was er alles hat schleifen lassen und eine Liste all dieser kleinen Probleme macht, die er noch heute lösen will. Lars, so heißt er, will an diesem Tag noch Dinge erledigen wie das Bett seiner Tochter aufbauen, einen Nudelsalat machen, die Steuererklärung erledigen, aber auch sein Lebenswerk schreiben und die Beziehung zu seiner Frau kitten. Viele kleine Probleme sind dann plötzlich groß. Viel für einen Tag, oder?

Die Prämisse macht Lars und das Buch sehr nahbar. Wer hat nicht auch schon mal auf das Ende des Tages, der Woche, des Jahres geschaut und gehofft es wäre noch etwas länger? Wurde sich plötzlich der nicht erledigten To-dos, Lebensziele und Herzenswünsche bewusst? Des Ich-müsste-ja-eigentlich-auch-mal? Ob Lars dann noch so nahbar wirkt, wenn man ihn und seinen üblichen Prokrastinations-Schtick einige Seiten über erlebt hat, müssen Lesende für sich selber entscheiden. Autor[1] Nele Pollatschek zeichnet Lars als einen liebenswert verplanten Kerl, der den ganzen Tag vor sich hinfabuliert, aber nicht anpackt. Er ist die personifizierte Prokrastination. Statt ein Geschenk einzupacken, packt er die halbe Küche ein. Statt das Bett zusammenzubauen, denkt er sich lustige Namen für all die Schrauben aus. Würde er diese Fantasie in sein Lebenswerk stecken, könnte das schon fertig sein. Man möchte sagen „mach hinne, Lars!“ Dabei gibt es Hinweise, dass nicht nur ich als Lesende so denke, sondern auch Lars Umfeld und Lars selber.

„Und die Welt denkt dann vielleicht, man sei faul, dabei ist man den ganzen Tag schwer damit beschäftigt, nicht hinzusehen.“

p. 52

So nach und nach realisiert man in der Abwesenheit von Lars Frau und Kind und anhand der sich türmenden, leeren Fünf-Minuten-Terrinen, dass Lars nun schon etwas länger auf sich gestellt ist. Auch seine mentale Gesundheit ist etwas mitgenommen. Er reflektiert viel das Kennenlernen, die Veränderungen in ihrer der Beziehungen und sich selbst. Dass Nicht-Sehen, der Dinge, die mal im Haushalt gemacht werden müssten und die dann am Ende seine Frau macht, obwohl er es ist, der den ganzen Tag zuhause ist. Und das geht (jetzt erst? oder schon länger?) nicht spurlos an ihm vorbei. Doch fehlt ihm das Handwerkszeug, um aus diesem Teufelskreis herauszukommen. Vielleicht läuft nun aber doch alles anders?

Zumindest ist das Buch die Hoffnung darauf. Es lässt aber vieles offen und versucht gar nicht die Lösung anzubieten. Kleine Probleme ist ein reines Echo, kein Selbsthilferatgeber. Das Buch ist das vom Satz „ich kenne das Gefühl“ begleitete, freundschaftliche Schulterklopfen. Mit etwas Fantasie und gutem Willen ist es die bloße Hoffnung, dass Ändern möglich ist. Ich mag es nicht zu besprechen und zu schreiben „man sollte nicht mehr davon erwarten“, aber man sollte nicht mehr davon erwarten als das ironische Augenzwinkern, mit dem Pollatschek von den kleinen und großen Problemen erzählt. Das Buch versucht nicht Lars mentale Gesundheit auseinanderzunehmen oder zu fragen, ob es fair ist, dass seine Frau all den Quatsch macht. Es zeigt uns viel mehr das menschliche hinter dem planlosen, das liebenswerte an dem (nicht nur von Erfolg gekrönten) Unterfangen von Lars seine Todoliste an Silvester abzuhaken.

Dabei fängt Pollatschek eventuell Lars sprunghafte Hektik ein, indem die Gedankenwelt in Bandwurmsätzen Ausdruck findet (Spekulation). Stellenweise fühlt es sich an als ob man Lars Gedanken folgt oder als ob er uns entschuldigend und in Mundart schnell hintereinander all die Begründungen für die Prokrastination liefern will. Dem ist nicht immer leicht zu folgen, wenn sich die Aufzählungen über eine halbe Seite erstrecken.

„Wir haben ihr das Bett zum vierzehnten Geburtstag gekauft, bei einem großen schwedischen Möbelhaus, das sich auf Korea reimt, aber nicht sehr gut. Den Abbau ihres alten Kinderbetts hatte ich noch geschafft, ich hatte es sogar auf die Straße getragen für den Sperrmüll, aber das neue Bett, ich muss es wirklich nicht normal erklären, es lag immer noch in zwei Pappkartons in Linas Schrank, wie so ein pochendes Herz unter den Dielen.“

p. 29

Auch hätte ich das Aufbauen des Bettes nicht in der ausufernden Länge gebraucht. Das machte es ab irgendeinem Punkt auch nicht mehr witziger, wenn die Schräubchen „Plümel“ oder „Nitzen“ (oder so ähnlich) genannt werden. Das größte Problem hatte ich dann aber wohl mit der weglaufenden Zeit, die für Lars sicherlich tatsächlich ein Problem ist, die aber v.A. auch dem Buch wegläuft, wenn die letzten Todos und Kapitel in wenigen Absätzen rausgehustet sind, wofür Lars anfangs noch deutlich mehr Seiten brauchte.

Es gibt allerdings zwischen all diesen Bandwürmen aus Lars Kopfwelt auch Situationen und Ausdrücke seiner Verzweiflung, die berühren und die sehr schön komponiert sind. Wenn er beispielsweise schafft ein Rechteck in der Wohnung sauber zu machen und aufzuräumen. Ein Rechteck, dass „in Ordnung“ ist. Er setzt sich hinein und sagt „Lars ist in Ordnung“. Ein Ausdruck dessen wie sehr er selber gern anders wäre, wie sehr er sich wünscht dass alles gut wäre.

Kleine Probleme war nicht mein Buch. Der Protagonist hat meine Geduld sehr strapaziert. Aber nahbar ist es.

Zwei Hinweise zur Hörbuchversion. Wir lasen das Buch in unserem Buchclub und unter den Hörbüch-Hörer:innen gab es zwei Lager. Diejenigen, denen es egal war, dass das Buch von einer Frau (Nele Pollatschek selber) gesprochen wurde und diejenigen, die das total rausgerissen hat. Das gibt ich eine interessante Diskussion, an der ich aber nicht teilnehmen kann, da ich die Printversion gelesen habe. Ist euch als Hörer:innen sowas wichtig? Erwähnenswert ist auch, dass es in der Printversion ein Nachwort bzw. eine Danksagung gibt, die zur Handlung beiträgt. Das beantwortet einige offene Fragen über den Protagonisten und ob es in manchen Belangen von Lars ein Happy-End gibt. Scheinbar ist es aber nicht Teil der Hörversion, da sich keine der Hörbuch-Hörer:innen daran erinnern konnten. Ist es tatsächlich nicht Teil der Hörversion, waren wir uns alle einig, ist das ein Verlust.

„Ich hievte mich hoch und rannte los.“

p. 188

Fazit

Nahbares Buch, das sich aber nicht als Löser „kleiner Probleme“ verspricht.

Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-86971-240-6, Galiani Verlag

[1] Nele Pollatschek möchte im generischen Maskulinum angesprochen werden. Quelle

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

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