ausgelesen: Theodor Storm „Der Schimmelreiter“

Oder wie ich es ab jetzt (seit eines Typos) heimlich nenne: der Schummelreiter! 😁 Tatsächlich ist das ein (für mich seltener) Reread. Der Schimmelreiter war auch eine meiner Schullektüren und ich habe erfolgreich alles daraus vergessen. Unser Buchclub kommt aber in schöner Regelmäßigkeit darauf zu sprechen wie die Bücher, die uns damals nicht interessierten, nun doch wieder interessant werden. So war das auch für mich mit dem Schimmelreiter. Als ich neulich das erste mal Urlaub an der Nordsee machte und über die Urlaubslektüre nachdachte, war es also ein klarer Fall, was im Koffer landet. TW/CW: Tiertod und Gewalt an Tieren.

War es als wir in der Schule über dieses oder ein anderes Buch sprachen, als uns erklärt wurde, was eine Binnenerzählung ist? So oder so handelt es sich beim Schimmelreiter um eine solche. Denn eigentlich beginnt die Geschichte mit einem namenlosen Erzähler, der nachts auf einem nordfriesischen Deich während ungemütlichen Wetters reitet und dort eine Gestalt sieht, die ihm unbeschreiblich und vielleicht sogar unmenschlich erscheint. Als er in der nächsten Unterkunft davon erzählt, sind sich alle einig: das war der Schimmelreiter. Dabei handelt es sich wohl um eine örtliche Sagengestalt oder einen Aberglauben. Wann immer dieser Schimmelreiter auftaucht, geschieht ein Unglück, sagen sie und sind in Aufruhr versetzt. Einer aus der Gemeinde nimmt aber unseren Namenlosen beiseite und erzählt ihm die wahre Geschichte des Schimmelreiters. Er berichtet davon wie einst ein belesener Junge namens Hauke Haien Deichgraf wurde, sich für Veränderungen einsetzte und versuchte gegen den Aberglauben der Bevölkerung anzukommen.

„‚Ich tat es nicht, Deichgraf‘, sagte er und biss von einer Rolle Kautabak ein Endchen ab, das er sich erst ruhig in den Mund schob; ‚aber der es tat, hat recht getan; soll Euer Deich sich halten, so muss was Lebiges hinein!’“ (p.95)

Theodor Storm hat sich hier, ganz Vertreter des Realismus, den Konflikt zwischen rationaler Denke (vielleicht sogar Wissenschaft) und Aberglaube vorgenommen. Hauke ist ein Mathe-Ass und bemerkt sehr bald, dass es eines neuen Deiches bedarf und der alte nicht ausreichen wird. Aber die Vorbehalte gegen ihn ebben nicht ab. Die Menschen der Gemeinde und er selber scheinen auf keinen gemeinsamen Nenner zu kommen, wenn sie kruden und brutalen Aberglauben vorschieben, wo er mit Sachverstand argumentiert. So ganz von ungefähr kommt die Abneigung gegen ihn aber auch nicht. Hauke sagt es vielleicht nicht direkt, strahlt aber sicherlich aus wie überlegen er sich fühlt.

Theodor Storms Roman "Der Schimmelreiter" liegt auf einem weißen Untergrund. Abgeschnitten steht am linken Rand eine Vase mit roten Zierbeeren. Das Cover des Romans zeigt stürmische See.

Bis das Buch dahinkommt, nimmt es sich einigermaßen viel Zeit, was mir als Schülerin schwerer fiel zu verzeihen als heute. Als sich aber die schaurigen Aspekte und der Aberglaube entfalten, scheint man einer Abwärtsspirale zuzusehen und ahnt bereits furchtbares. Eine Sache, die ich dem Buch immer wieder schwer verzeihen kann ist wie Hauke relativ zu Beginn des Buches eine Katze tötet, die ihn geärgert hat. Jedes Mal frage ich mich, ob es diese Szene brauchte. Allgemein ist eine Triggerwarnung angebracht – das Buch spielt in früheren Zeiten und in früheren Zeiten war einiges anders, derber oder gar schlechter. Es sterben einige Tiere und auch die Diskriminierung von Frauen steht hier an der Tagesordnung. Vorrangig trifft es Elke, die Kindheitsfreundin und spätere Frau Hauke Haiens. Obwohl sie selbst schlau ist und weiß wovon Hauke spricht, wenn er mit seinem Euklid um sich wirft. Dennoch tritt sie maximal als Haushälterin (anfangs) und später als Ehefrau und Mutter auf.

Die Szene mit der Katze aber soll möglicherweise ein Ausdruck von Haukes innerlichem Zorn sein und der Dualität seiner Natur. Im Buch wird das eher als Indikator behandelt, dass Hauke ein Halbstarker ist, der „nun endlich mal einen Job braucht“. Über den Text zwischen den Zeilen hinaus, ist es der Auftakt für den weiteren Verlauf der Geschichte. Wird er später zum Schimmelreiter und ist damit eventuell ein ruheloser Geist (das wird nie ganz beim Namen genannt), dann ergibt es Sinn seinem inneren Zorn Ausdruck zu verleihen. Später jedenfalls rehabilitiert er sich selber und hat Mitgefühl gelernt. Nur die anderen nicht. Vielleicht ist also dieser Schimmelreiter nicht der Bringer des Unglücks, sondern warnt vor dem Unvermeidlichen? Wenn sie ihm schon damals nicht zuhören wollten?

„Wie schwere Luft lag es auf allen; und heimlich sagte man sich, ein Unheil, ein schweres, würde über Nordfriesland kommen.“ (p.116)

Der Schimmelreiter habe ich ähnlich erlebt wie beim ersten Mal lesen. Es ging etwas zu langsam für meinen Geschmack los, entwickelt sich aber mächtig und macht seinen Punkt. Es ist zu recht ein „Klassiker“, auch wenn ich den Begriff etwas schwierig finde wie wir ja wissen. Die Ausgabe von Reclam enthält außerdem editorische Notizen zur Überarbeitung, ein Glossar über die fallenden Begriffe (sehr hilfreich), Skizzen des Deichs und die Originalsagen, auf denen Storm die Geschichte aufbaute. Für meinen ersten Besuch an der Nordsee war es eine passende Lektüre. Schlimmere Stürme blieben dankbarerweise aus.

Fazit

Kurzes Werk mit großer Symbolkraft über den Clash zwischen Rationaler Denke und Aberglaube.

Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-15-020610-2, Reclam

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

4 Antworten

  1. Das war eine der Schullektüren, die mir wirklich gefallen haben.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ich wünschte ich könnte mich noch erinnern wie ich die fand … ich habe dunkel in Erinnerung, dass ich recht angetan war, dass es auch eine Schauergeschichte ist. Aber was ich am Ende darüber dachte, krieg ich nicht mehr zusammen.

  2. Ich habe es nicht in der Schule gelesen, könnte mir aber vorstellen, dass es mir damals gefallen hätte. Habe es Anfang des Jahres gelesen, nach unserem Besuch im Theodor Storm Haus in Husum. Das kann ich im Übrigen auch empfehlen, falls es Dich/Euch da mal hin verschlägt.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ach, das war ja auch erst dieses Jahr mit eurem Besuch in Husum. 🙂 Das passt ja. Das wird gemerkt, danke.

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