Während der Hexenverfolgung im 17. Jahrhundert findet sich Ingrid immer wieder zum Träumen hingezogen. Die Realität ist auch nur allzu karg und grausam. Ihr Mann Roland ist Beamter und Hexenjäger, der von einem „schwerwiegenden Fall“ zum nächsten gerufen wird, dabei vergisst er seiner Frau Sicherheit zu geben und Zuneigung zu zeigen. Ingrid blickt auf die Überreste der schauerlichen, letzten Hexenverbrennung und fragt sich: was hat die Frau vor dem Auge der Öffentlichkeit zur Hexe gemacht? Und was bedeutet es für sie, wenn sie ihre Zweifel äußert? In ihren Träumen wiederum nähert sich ihr eine dunkle Gestalt, die ihr Zuspruch gewährt, ihre innersten Sehnsüchte hört und versucht zu verführen. Ist das der Teufel? Immer öfter wird Ingrid in die Träume hinabgezogen – und will sich immer weniger dagegen wehren.
Der Untertitel zum bisher nur auf Englisch und Französisch erhältlichem Somna ist A Bedtime Story und damit ist keinesfalls gemeint, dass es eine kinderfreundliche Gutenacht-Geschichte ist, wie man vom Inhalt her schon vermuten kann. Viel mehr ist es ein erotisch aufgeladenes Schauermärchen, das im Fährwasser von beispielsweise The VVitch schwimmt. Die Passagen, die sich in Ingrids Träumen abspielen, werden dabei von der unvergleichlichen Tula Lotay gezeichnet und koloriert. Sie sind überirdisch schön, realistisch bis surreal-mystisch, erotisch und die Szenen verlaufen oft ineinander. Vieles ist wie durch den Weichzeichner geschickt und hilft gerade so dem Eindruck von Träumen. Becky Cloonan wiederum widmet sich mit ihrem Artwork und den individuellen Stärken ihres Zeichenstil der Realität von Ingrid in einem Dorf, in dem jede kleinste „Unchristlichkeit“ oder Widerspruch gegen die Autoritäten als mögliches Werk des Teufels betrachtet wird. Die Passagen sind schnörkellos und in typischer Ästhetik amerikanischer Comics. Gegen Ende aber scheint sich diese klare Einteilung aufzulösen, einander zu verschwimmen. Was ist wahr? Was ist Traum?
Somna spielt anhand von Ingrids Geschichte mit mehreren Themen. Zum Einen der Brandmarkung jeglichen Ausdrucks von persönlichen Sehnsüchten als Teufelswerk. So sucht Ingrid sexuelle Erfüllung in ihren Träumen – nicht mal das soll ihr gestattet sein. Natürlich gerät sie trotzdem ins Visier der örtlichen Sittenwächter. Deren Machtmissbrauch und Selbstjustiz ist gemäß der Hexenverfolgung des Mittelalters wie zu erwarten schwer zu hinterfragen ohne nicht vermeintliche Schuld auf sich zu laden. Die Schauprozesse sind eine Farce. Einiges an Somna mag daher vorhersehbar erscheinen und die Charakterzeichnung der männlichen Figuren ist erwartungsgemäß einseitig. Es ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, wenn man so will. Durch das Verwischen von Realität und Traum bekommt Somna die Erzählebene, die den Comic eigentlich so faszinierend macht und ihm vielleicht gerade deswegen den Eisner Award eingebracht hat. Vor Allem auch, weil es kein Male Gaze ist, der hier Ingrid inszeniert und ihre Lust und ihre Tragödie schildert, sondern Stimmen und Visionen von Frauen.
Fazit
Wunderbares Artwork in einer Geschichte, die obwohl spannend erzählt, wenig Überraschungen bereithält
Besprochene Ausgabe: ISBN 978-1962265010, DSTLRY Media
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
Schreibe einen Kommentar