Als die kleine Alice einen weißen Hasen sieht, der sprechen kann und wie ein Mensch gekleidet ist, folgt sie ihm in ein seltsames Land. Dort gibt es Tränke, die einen größer oder kleiner machen, allerlei sprechende Tiere und Fabelwesen, alle möglichen widersprüchlichen Menschen und nicht selten Situationen die gefährlich für das Mädchen sind. Wer kennt die Geschichte nicht wie sich Alice der Königin stellt (und sie v.A. in Frage stellt), die so gerne Köpfe abschlagen möchte. Die paradoxen Geschichten und Situationen des Mädchens in einer Welt die so anders ist und unvorhersehbaren Regeln folgt, sind mal ungewöhnlich, mal witzig, scheinen keinem Ziel zu folgen außer der Erkundung des Unbekannten. Eine Ode an die Fantasie. Die Ausgabe von Signet Classics (Penguin / Random House Gruppe) enthält auch den zweiten Teil von Alices Abenteuern, der sie diesmal nicht in den Kaninchenbau schickt, sondern hinter die Spiegel. Die Papierqualität ist mau und etwas unangenehm wie man es von vielen ausländischen Taschenbuch-Ausgaben in kleinem Format kennt. Das Papier ist relativ stark und rau und die Seiten dunkel. Ansonsten kann man aber sehr zufrieden mit der Ausgabe sein, da sie die sehr bekannten Illustrationen von John Tenniel enthält, außerdem ein Vorwort von Martin Gardner und ein Nachwort von Jeffrey Meyers. Beides Wissenschaftler und auf dem Gebiet der Mathematik und Literatur unterwegs, die sich bestens mit Lewis Carroll auskennen und auf verschiedene Facetten seiner Biografie eingehen und in relativ wenig Text sehr viel vermitteln. U.a. auch über versteckte Botschaften in John Tenniels Illustrationen.
Charles Lutwidge Dodgson und die Mädchen
Lewis Carroll war nur sein Pseudonym, unter dem er veröffentlichte. Der echte Name des Mannes hinter den Büchern ist Charles Lutwidge Dodgson. Er hatte sehr viele Interessen und war auf vielen Gebieten bewandert. Er lehrte beispielsweise eine Zeit lang Mathematik und zu seinen Hobbys zählte die Fotografie. Wie auch das Vor- und Nachwort des Buches verraten, war eins seiner Hobbys die Fotografie von Kindern, auch von nackten. Liest man das heutzutage, dann schrillen die Alarmglocken und man denkt an Pädophilie und v.A. auch an ausgelebte Pädophilie, denn wozu sollen sonst Bilder von nackten Kindern dienen? In dem Buch und auch in anderer Literatur über Lewis Carroll hält sich die Meinung, dass er wahrscheinlich pädophile Neigungen hatte, aber diese nie ausgelebt hat. Er hat sicherlich Liebe für Alice Liddell empfunden, der seine Hauptfigur Alice nachempfunden ist. Er traf sich mit den Kindern, schrieb ihnen Briefe und erzählte ihnen seine Geschichten. Von Alice Liddell kam der Anstoß, dass er seine Erzählungen doch aufschreiben sollte. Und er fotografierte sie. Ich möchte wirklich gerne glauben, dass Charles Lutwidge Dodgsons Liebe zu den Kindern eine ehrliche, platonische und vorsichtige war und dass er es nicht ausgenutzt hat, dass Fotos von Kindern in der damaligen Zeit als ’nett‘ und ‚herzlich‘ betrachtet wurden. Denn wie heißt es so schön in dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten. Alice ist in seiner Schilderung ein aufgeschlossenes, intelligentes und höfliches Mädchen, dass sich mit ihren Ansichten durch eine verrückte, fantastische Welt schlägt. Und das ist es. Ihr begegnet einmal ein alternder Ritter, der ziemlich kauzig ist, sie aber doch ein Stück begleitet und beschützt. Eine niedliche Szene. Vielleicht sah er sich als eben das. Den kauzigen Ritter.
Wenn man vorher zuviele Alice-Filme geschaut hat …
… dann kann man sich beim Lesen des Buches schon Mal etwas wundern. Aus Zeichentrickfilmen und der jüngsten Inszenierung durch Tim Burton aus dem Jahr 2010 mit Mia Wasikowska als Alice Kingsleigh, bekommt man einen ganz anderen Eindruck wie Alice ist. Entweder ist sie eine verloren gegangene Seele im Wunderland, die mutig einen Weg nach Hause sucht oder sie ist eine Art Erlöser-Figur, die etwas kann, was sonst niemand kann. Insbesondere durch Tim Burtons jüngste Verfilmung wird das Erlöser-Bild geprägt. Ihre Art, vornehm, höflich, schlau wird da sehr gelobt und ihre Tugenden und ihr gutes Herzen helfen denen um sie herum beispielsweise aus den Fängen der roten Königin. Die Charaktere freunden sich sehr mit Alice an und begleiten sie auf ihrem weg. Aber eigentlich ist Alice in den Büchern sogar ein bisschen aufmüpfig und hinterfragt die wunderliche Welt sehr oft. Mit den Charakteren freundet sich nicht wirklich an, manche sind sogar sehr unfreundlich zu ihr und sie verlässt nicht selten deswegen die Szene. Es ist ein bisschen mehr girl lost in a big big world als alles andere. Die Handlung folgt keinem Ziel und hat keinen roten Faden, alles hat eher einen Anekdoten-Charakter. Sie läuft durch das Wunderland und hat kauzige und paradoxe Dialoge mit beispielsweise dem verrückten Hutmacher oder dem Märzhasen. In Through the Looking-Glass gibt es so etwas wie ein Ziel. Denn die Erzählung ist an ein Schachspiel angelehnt und sie versucht an das andere Ende des Brettes zu kommen und die Königin zu werden. In beiden Fällen ist das erzählte denkbar einfach und die Spannungskurve eigentlich ziemlich dünn.
Was die Geschichte so besonders macht sind aber die Elemente mit denen sie ausstaffiert wurde. Beispielsweise die paradoxen Unterhaltungen, die Welt mit Fabelwesen wie dem Vogel Greif und den Liedern voller Streiche und Fabeln oder auch die verrückten Charaktere wie die Königin, die allen den Kopf abschlagen will und dafür keinen Grund braucht. Die Motive sind zeitlos. So folgt das erste Buch lose dem Kartenspiel, die zweite dem Schachspiel. Kein Wunder – so dachte sich doch Lewis Carroll sogar gerne selber Spiele aus. Man liest das Buch ohne böse Gedanken einfach aus purer Lust an der Fantasie und der Neugier was wohl als nächstes kommt. Neugier. Das was wahrscheinlich auch Alices Antrieb ist. Die Filme haben es aber für nötig gehalten da noch viel mehr reinzuinterpretieren. Tim Burtons Filme haben mit den Büchern offensichtlich ziemlich wenig zutun – der Jabberwocky muss von niemandem bekämpft werden. Überall braucht es ganz viel Drama in den Filmen. Was ich anfangs beim Lesen der Bücher vermisst habe, ist nun nach dem Lesen der Bücher für mich eigentlich überflüssig. Muss man Alice in eine glänzende Rüstung stecken oder sie als verzweifeltes Etwas darstellen, dass den Weg nach Hause sucht? Ein Motiv kann ich dann aber doch verstehen: dass Alice gern dargestellt wird als jemand, der sich in eine Fantasiewelt flüchtet, wo die echte doch manchmal so ernüchternd sein kann. Beispielsweise ist Alice in Tim Burtons Film 2010 ins Wunderland abgedriftet, weil sie mit so anstrengenden Dingen konfrontiert wurde wie den Erwartungen ihrer Familie sich mit einem x-beliebigen Typ zu verloben. Da würde ich auch das Wunderland vorziehen. Und für eine Sache bin ich noch dankbar: dafür das Franz Ferdinand für den 2010er-Film mein Lieblingslied aus den Büchern vertont hat. The Lobster Quadrille.
„Lobster Quadrille – Franz Ferdinand Lyrics“, via Beckycript (Youtube-Channel)
Im Original lesen – eine Hürde?
Dieses Mal fiel meine Wahl mal wieder auf die englische Ausgabe. Undzwar genau aus zwei Gründen. Zum einen habe ich oft über den carrollschen Wortwitz und die Wortspiele gelesen und mich gefragt wie gut sowas in andere als die Originalsprache zu übertragen ist. Da das wahrscheinlich ohne Veränderungen der Wortwahl und sogar der Bedeutung unmöglich ist, sollte es also das Original sein. Und der zweite Grund … das Cover war so schön. Jepp. So bedacht der erste Grund, so simpel der zweite. Natürlich stand ich auch vor der Frage, ob ein im 19. Jahrhundert auf Englisch verfasstes Buch eine Hürde ist. Man denke an die Reime, geschwollene Sprache, altertümliche Begriffe in einer Fremdsprache. Wer aber hin und wieder ohne größere Probleme ein englisches Buch liest oder einen Film auf Englisch sehen kann, wird hier genauso klarkommen. Hin und wieder gibt es Begriffe und Redewendungen, die heute nicht mehr benutzt werden, aber es sind nicht viele. Man versteht den Inhalt auch so. Und die geschwollene Ausdrücke mit jeder Menge Konjunktiv kriegt man auch hin. Ein bisschen spezieller sind Wortneuschöpfungen und unübliche Begriffe, bei denen man sich manchmal fragen muss, ob man jetzt eine Wissenslücke hat, oder ob das echte Wörter sind. Contrariwise für umgekehrt habe ich beispielsweise nie gehört und dachte, dass es eine Wortneuschöpfung für das Buch war, weil es durchaus verständlich ist, ich es aber nie irgendwo anders gehört oder gelesen habe. Stattdessen immer eher contrary, vice versa, reversed oder noch andere. Aber siehe da: es ist ein stinknormales Wort. Bei anderen Wortneuschöpfungen ist es eher offensichtlich: Jabberwocky beispielsweise 😉
Zusammenfassend /TLDR
Alles in Allem ist Alice’s Adventures in Wonderland and Through the Looking Glass eine wunderbare Geschichte, die nicht den ungeschriebenen Regeln typischer Jetztzeit-Romanen folgt. Alice braucht kein Drama, kein Mord und Totschlag – es ist eine fantasievolle und witzige Geschichte, die uns (so wie Alice in den Büchern) aus unserer recht normalen in eine paradoxe voller Fabelwesen entführt. Und das ist eine willkommene Abwechslung. Und wer das möchte, kann sich über die Bücher, die Illustrationen, die echte Alice, den umstrittenen Autor und das Wunderland und die zahlreichen Verfilmungen noch Wissen anlesen bis der Arzt kommt. Denn die Motive sind zahlreich.
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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