Wie schon vor Kurzem angekündigt haben Kathrin, Anette, Alice und ich gerade eine Leserunde am Laufen, die sich Margaret Atwoods „The Handmaid’s Tale“ bzw. „Der Report der Magd“ widmet. Unsere Gedanken könnt ihr auf Twitter unter #AtwoodsTales nachlesen und ich habe den Eindruck, dass wir das bisher ganz gut spoilerfrei hinbekommen haben 😉 Wie das eben so bei Leserunden ist, hat jeder sein eigenes Tempo und das ist auch vollkommen in Ordnung. Während Anette beispielsweise schon fertig ist, habe ich zum Zeitpunkt als ich diesen Artikel schreibe, etwa die Hälfte gelesen. Und das schreit eben nach … genau, einem Zwischenfazit.
We are all honey
Atwoods Roman beginnt mit einer anfangs namenlosen Erzählerin, die wir später als Offred kennenlernen werden. Aber der Name ist ihr zuwider, ein Fremdkörper, es ist nicht der Name mit dem sie geboren wurde oder den sie gewählt hätte. Sie ist eine Handmaid, trägt eine Art roten Habit mit einer weißen Haube, der ihr Gesicht vor den Augen der meisten verbirgt. Der Leser erfährt nur nach und mehr über die Umstände und die Gesellschaft, in der Offred lebt. Wenn man nicht bereits den Inhalt des Buches kennt oder die TV-Serie gesehen hat, dann ist man schockiert, wenn sich vor einem entfaltet, was für eine Welt das ist. Das Label „Dystopie“ hat die Geschichte verdient.
Eine Handmaid ist wie viele Menschen in diesem System ein Organ, das einen gewissen Zweck erfüllt. Eine Handmaid erfüllt den Zweck als Gebärmaschine, da in dieser alternativen Geschichtsschreibung oder Zukunftsvision viele Frauen unfruchtbar sind oder Kinder nur mit Missbildungen, Behinderungen oder gar tot zur Welt bringen. Diese werden kalt als Unbabies bezeichnet und entsorgt. Nur eins der Merkmale, bei denen The Handmaids Tale an Orwells 1984 erinnert. Andere Merkmale sind die Konformität, die eingeschränkte Bildung, das Verneinen von Lust, Persönlichkeitsrechten und Charakter und natürlich auch die Überwachung. Offred wird einem Haushalt zugewiesen und muss dort ihre Aufgabe erfüllen. Von künstlicher Befruchtung hat scheinbar noch niemand etwas gehört. Daher bedeutet es, dass Offred in einem kalten und lieblosen Akt mit dem Mann des Hauses schlafen muss, bzw sich von ihm befruchten lassen muss. Denn als „mehr“ kann man diesen Akt nicht bezeichnen. Zwar spricht Offred nicht von Vergewaltigung, weil sie wusste, worauf sie sich einlässt, aber es ist trotzdem schockierend es zu lesen. Nicht zuletzt weil Offred eine aufgeschlossene Frau, ein Individuum geblieben ist und ihre Lage dementsprechend kommentiert. So denkt man als Leserin unumgänglich „das könnte ich sein, würde ich in dieser Welt leben“. Im Prinzip ist es kein Wunder, dass Handmaids von den unfruchtbaren Ehefrauen gehasst werden. Aber alle in diesem System „leben“ ihre undankbare Aufgabe. Auch Männer erwarten harte Strafen für Verfehlungen.
Ich habe gestern Abend darüber nachgedacht, was es für mich bedeuten würde, NICHTS mehr lesen zu dürfen und meinen Wissensdurst auf keine Weise stillen zu dürfen. Das wäre einer der wenigen Gründe, nicht mehr leben zu wollen. Ich würde wahnsinnig. #AtwoodsTales
— Nettebuecherkiste (@Idril1) 3. März 2018
Was mich in Gesellschaftssystem wie diesem aber mit am meisten ängstigt, ist, dass niemand irgendwem trauen kann – Freunde kann es so nicht geben, selbst Familienmitglieder sind potenzielle „Feinde“… Wie leer und einsam so ein Leben sein muss. #AtwoodsTales
— Phantásienreisen (@Phantasienreise) 3. März 2018
„nolite te bastardes carborundorum“
Was ist das für ein System? Wie konnte das entstehen? In der ersten Hälfte des Buches werden ganz zart und unterschwellig immer mehr Details deutlich, die in Offreds Erzählung geradezu versteckt sind. Da erfährt man ganz beiläufig, dass der Staat in dem sie leben Gilead genannt wird, dass Krieg herrscht und dass es Menschen mit Berufen namens Guardian und Eye gibt. Bei vielem reichen die Andeutungen und man kann sich vorstellen, was darunter zu verstehen ist. Menschen, die aus ihrer Aufgabe abweichen, werden getötet und öffentlich zur Schau gestellt. Handmaids ist es verboten zu schreiben oder zu lesen – sie werden nur auf ihre Aufgabe als Gebärmaschine reduziert. Aber Offred findet an einer Ecke ihres Zimmers den Spruch nolite te bastardes carborundorum – Don’t let the bastards grind you down. Obwohl man es von keinem erfährt, weil überall Ohren zuhören, die einen verraten könnten: es muss die Andersdenkenden geben! Aber wie identifizieren?
Freundschaften sind verpönt, Frauen werden als Gebärmaschinen betrachtet und der Wert eines Mannes bemisst sich nach der Anzahl der zugeteilten [sic!] Frauen… Schon nach 30 Seiten bin ich angewidert von dieser Zukunft. #AtwoodsTales
— Phantásienreisen (@Phantasienreise) 2. März 2018
Offreds Geschichte beinhaltet aber auch Erinnerungen an eine Zeit vor all dem, in der sie zusammen mit ihrem Mann Luke und ihrer kleinen Tochter gelebt hat. Es war also nicht immer so wie „jetzt“ in Gilead. Wie den Frauen schleichend versucht wird das neue System in den Kopf zu dreschen und wie sich das Leben des Einzelnen verändert, wird eindrucksvoll geschildert. Margaret Atwood ist eine Meisterin darin, in wenigen Sätzen viel zu sagen. Und wenn man Zeuge wird wie Frauen eingeredet wird, dass aufreizende Kleidung verboten ist und ein Sündenfall, dass Frauen in den „früheren Zeiten“ ja nur misshandelt wurden und heute alles besser ist, dann bekommt man das Gefühl, dass ein gewisser orange-häutiger Präsident und seine angeblichen #FakeNews von diesen alternativen Wahrheiten nicht so weit weg ist.
Dinge gelernt
Das schöne am Lesen von Büchern ist ja, dass man selten dümmer wird. Als ich mich etwas mit dem Satz nolite te bastardes carborundorum beschäftigt habe, stieß ich auf den Begriff Mise en Abyme. Dabei handelt es sich um ein Stilmittel der Kunst, Literatur, etc. in dem ein Kunstwerk bzw Medium in ein Medium platziert wird. Also so wie, wenn man beispielsweise in einem Gemälde irgendwo wiederum ein Gemälde sieht, das eventuell auch eine versteckte Bedeutung oder einen Denkanstoß enthält. Der Spruch nolite te bastardes carborundorum ist Fake-Latein (auch als Mock-Latin, Dog-Latin oder Küchenlatein bezeichnet), also unbeholfenes, nicht korrektes Latein. Es ist in ein Fall von Mise an Abyme, weil sich in der Gesellschaft von Gilead auch eine unbeholfene Alternativsprache herausgebildet hat. Technische Geräte bekommen dort vereinfachte Begriffe wie Computalk, die deren Zweck andeuten, aber mehr auch nicht. Außerdem gehört Offred scheinbar zu der ersten Generation dieses kranken Systems. Da es vielen dort nicht erlaubt ist zu lesen oder zu schreiben, ist zu erwarten, dass ihre Bildung so stark eingeschränkt ist, dass künftige Generationen abstumpfen und gar nicht mehr daran interessiert sind, was ihre Sprache ausdrückt, was überhaupt etwas bedeutet – wer muss da an Newspeak denken? Und dass überhaupt jemand aus den „Kasten“ bzw. „Rollen“ später mal überhaupt noch weiß was Latein ist – ist fraglich!
Und die Leserunde …
Bisher hatten wir ja nur eine Leserunde mit so vielen Teilnehmern, das war für #StoriesOfChiang. Früher haben wir meistens eher zu zweit gelesen. Man könnte meinen, dass man den Überblick verliert und Twitter mit doppelten Gedanken und Meldungen überläuft, sodass man sich aneinander vorbei anstatt miteinander unterhält. Aber das hat letztes Mal schon gut geklappt und tut es jetzt auch wieder. 🙂 Während man beim zu zweit lesen Gefahr läuft, dass der eine mal wesentlich schneller oder langsamer als der andere ist, gleicht es sich hier aus. Irgendeiner schreibt immer was oder antwortet auf die Gedanken. Insofern gefällt mir die Leserunde mit ein paar Teilnehmern mehr auch wieder sehr gut. Schöne Aktion, danke an euch! 😀
Das glaube ich nicht. Ich denke, dass sie nach der missglückten Flucht dorthingekommen ist. Vorher war ja alles noch normal, da kann es noch keine Handmaids gegeben haben.
— Nettebuecherkiste (@Idril1) 7. März 2018
Ich habe mit dem Lesen von „The Handmaid’s Tale“ begonnen und meine bisherigen Eindrücke nach 30 Seiten in einem Wort zusammenfassend: „uncomfortable“ #AtwoodsTales
— Alice (@AliceVomMond) 4. März 2018
Zu den bisherigen Artikeln der Leserunde
27.02. Ankündigung von mir
28.02. Ankündigung von Kathrin
28.02. Ankündigung von Anette
Margaret Atwoods Buch ist brisant. Und für mich ein Volltreffer. Ein Buch zum nachdenken und diskutieren, ein spannendes Buch. Neulich fragte mich jemand „wie findest du nur immer wieder solche feministischen Bücher“? Sicherlich ist es eins, aber nicht nur. Es beschreibt auch wie die Situation für die Ehefrauen und Männer in dieser Welt ist – so aufgeschlossen ist es. Aber v.A. schildert es wie sich eine Gesellschaft in ein krankhaftes System wandelte, das den Begriff „Persönlichkeitsrechte“ nicht mehr kennt, sobald der Fortbestand der Menschheit in Gefahr ist. Da scheint Menschlichkeit abhanden zu kommen. Fast ein Widerspruch, oder? Ich wurde auch gefragt, warum ich solche „anstrengenden“ Bücher lese. Na weil ich sie nicht anstrengend, sondern spannend finde. Vielleicht hilft es uns zu erkennen, wenn unsere Gesellschaft sich in ein „Gilead“ verwandelt. Wie seht ihr das? Was ist ein feministisches oder „anstrengendes“ Buch? Kennt ihr das Buch? Verfolgt ihr die Leserunde? 😉 Und was von Margaret Atwood könnt ihr noch wärmstens empfehlen?
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