T.C. Boyles Die Terranauten und ich: eine Beziehung voller Missverständnisse. Das könnte der Titel dieser Rezension sein. Alles fing an mit einem interessanten Cover und einem sehr vorteilhaft geschriebenem Klappentext. Dass ich von T.C. Boyle bis dahin noch nichts gelesen hatte, ist vielleicht zu meinem Nachteil. Dass ich über Die Terranauten nicht recherchiert habe, ist eigentlich nicht ungewöhnlich. Manchmal möchte ich überrascht werden. Auf der Buchmesse 2017 begegnete mir das Buch das erste Mal. 2018 – selber Ort, ich nahm es mit. Denn schließlich (haha) hatte ich ein Jahr lang nie etwas negatives darüber gehört. Der Klappentext versprach ein menschliches Experiment, dass auf wahren Begebenheiten beruht. Vier Männer und vier Frauen wurden in eine künstliche Ökosphäre eingesperrt, um zu beweisen, dass man eine Alternative zu unserem Ökosystem künstlich aufbauen und darin überleben kann. Beispielsweise für die Zeit, nachdem wir den Erdball so richtig runtergerockt haben. Oder um auf dem Mars eine neue Existenz aufzubauen. „T.C. Boyles fabelhafter Roman, basierend auf einer wahren Geschichte, erzählt vom halsbrecherischen Versuch eine neue Welt zu erschaffen, um sich vor dem Untergang unserer eigenen zu retten.“ Ja. So hätte der Roman sein können.
Boyles Roman erzählt abwechselnd aus Sicht dreier Personen. Zuerst aus Sicht von Dawn, die eine dieser acht „Terranauten“ ist und in die Ecosphere 2 eingeschlossen wird. Dann aus Sicht ihres Terranauten-Kollegen Ramsay und zum Schluss aus Sicht ihrer besten Freundin Linda, die nicht für das Projekt ausgewählt wurde und „draußen“ bleiben muss. Hinter dem Projekt Ecosphere 2 steckt ein immens großes Geflecht an Wissenschaftlern und Marketing-Köpfen, die sich große Mühe geben, dass der Rubel rollt und das künstliche Ökosystem funktioniert. Das Experiment gilt als gelungen, wenn zwei Jahre lang nichts raus oder rein geht. Dieses Grundsatz soll absolut sicherstellen, dass die acht Terranauten vollkommen auf sich allein gestellt sind und es selbstständig schaffen das Ökosystem am Laufen zu halten und zu überleben. Der erste Durchlauf ist (wie übrigens im echten Leben auch) gescheitert. Beim zweiten darf nichts schief gehen. Alles muss gut durchdacht sein. So beinhaltet die Geschichte ein gewisses Maß an interessanten Details wie man ein künstliches Ökosystem aufbaut. Welche Tiere nimmt man mit rein, welche Pflanzen? Schließlich muss das System in sich schlüssig sein. Theoretisch und praktisch darf kein Tier ohne Futter sein. Pflanzen und Tiere müssen so ausgewählt sein, dass die Tiere und Terranauten nachhaltig Nahrung für zwei Jahre haben. Denn: eine Pizza von draußen kommen lassen ist nicht. Nichts raus, nichts rein. Im Ernstfall, falls die Erde unbewohnbar wird, ginge das schließlich auch nicht. Ein reizvoller Gedanke, ein teures Projekt. Details, über die man gern mehr gehört hätte.
Fairerweise muss man sagen, dass Boyles Die Terranauten darauf auch eingeht. Aber das interessante Konzept und die Wissenschaft ist der Nebencharakter. Die Idee, die Boyle antreibt und das Buch füllt ist das menschliche Dilemma der Personen in und außerhalb der Ecosphere 2. Es geht vor Allem um Neid, Sex und Marketing. Von Anfang an wird die Beziehung der Freundinnen Dawn und Linda ad absurdum geführt, indem Linda zum rachsüchtigen Biest wird, dass Dawn nicht gönnt, dass sie für das Projekt ausgewählt wurde und Linda draußen bleiben muss. Auf fast 600 Seiten liest man mehr und mehr wie sehr Linda Dawn hasst, mehr und mehr trinkt und betrunken Auto fährt und man fragt sich, wann sie es schafft den Wagen vor einen Baum zu setzen. Währenddessen spielen sich in der Sphäre Geschichten aus dem Psychologie-Grundkurs ab: Gruppendynamik und so. Vorrangig aber noch: wer mit wem. Bis einer heult. Oder in diesem Fall: schwanger wird. Nicht erst dann beginnt die Marketingmaschine zu arbeiten. Denn gerade eine Schwangerschaft, ein ungeplanter Terranaut ist in diesem Umfeld schwierig. Nicht nur wegen der ärztlichen Versorgung von Mutter und Kind, sondern wegen der Nahrung. Und dann geht es mit der Missgunst so richtig los. Und so zeigt der Roman über das künstliche Ökosystem v.A. wie ekelhaft die Menschen sein können. Je nachdem was man von dem Buch erwartet hat, eine ernüchternde Prämisse.
Wer auf Wissenschaft aus ist, wird zumindest ein wenig gefüttert. So wird berichtet, dass eine Menge Tiere blinde Passagiere waren, die eigentlich nicht für die Ökosphäre angedacht waren. Andere hatten zu schnell keine natürlichen Feinde mehr und haben sich rasant ausgebreitet (Kakerlaken ahoi). Krankheiten im Sinne von Erkältungen gab es nicht. Denn dazu müssten Erreger mit eingeschleust werden. Da alle Terranauten vor dem Einschluss angehalten waren strikt auf sich zu achten, gab es glücklicherweise keine Erreger und somit zwei Jahre keine Grippewellen – zumindest unter dem Glasdach(!) von Ecosphere 2. Interessante Gedanken, die bewusst machen wie klein die künstliche Welt doch eigentlich ist. Und in welchem Umfang planbar. Geht man aber mit der Prämisse an das Buch ran viel Wissenschaft geboten zu bekommen, wird man von den sehr menschlichen Zickereien eher abgetörnt. Da das Buch gänzlich aus der Ich-Perspektive dreier Personen geschrieben ist, muss man fast fürchten: denken alle Menschen so? Wie Linda beispielsweise, die in Gedanken über Dawn herzieht und sich im selben Atemzug ihre beste Freundin nennt? Oder Ramsay, ein Chauvinist wie er im Buche steht? Die Charakterzeichnung ist deutlich zu eindimensional und wirkt wie einer schlechten Seifenoper entnommen. Menschliches und moralisches Dilemma wäre sicherlich auch etwas weniger platt inszenierbar gewesen. Handwerklich ist das Buch durchaus gut. Details ergänzen sich, indem die Charaktere eine Geschichte zu Ende erzählen, die vorher der letzte Erzähler begonnen hat. Oder wir lernen die Sicht der anderen auf bestimmte Situationen kennen. So entsteht eine gewisse Dynamik, die sanft anreißt wie unterschiedlich die Menschen Situationen erleben und wahrnehmen. Andererseits ist es nicht so pointiert und krass wie in Serien wie The Affair. Der seichte, soziale Seifenoper-Unsinn gibt aber Rätsel auf. Um es als Satire zu lesen, ist es zu wenig spitzzüngig und ermüdet zu sehr.
Fazit
Man muss abwägen, was man erwartet. Wenig Wissenschaft und viele zwischenmenschliche Zickereien: dann zugreifen. Ansonsten nicht. Vielleicht lieber etwas über Biosphäre 2 lesen, das Experiment, dass T.C. Boyle zu dem Buch inspirierte.
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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