ausgelesen: Kazuo Ishiguro „Alles, was wir geben mussten“

Es ist schwierig über das Buch, seine Bedeutung und Kontroversen zu schreiben, ohne zuviel zu verraten. Ohne den großen Knall vorwegzunehmen. Vor Allem ist es deswegen so schwierig, weil es in der Handlung auch nicht gerade bis zuletzt ein Geheimnis ist. In Alles, was wir geben mussten (im Original: Never let me go) erfahren wir von Kathy, inzwischen in ihren Dreißigern, wie sie einst in Hailsham mit ihrer besten Freundin Ruth und Tommy aufgewachsen ist und wie ihr Lebensweg danach verlief. Hailsham ist ein Internat, das anfangs klingt wie alle Internate in Büchern, Filmen, Serien. Erst nach und nach bemerkt der Leser durch Kathys Geschichte, dass die Kinder in Hailsham anders sind. Ihr Unterricht ist anders. Sie werden darin unterrichtet wie man in der Außenwelt klarkommt, wie man Essen in einer Gaststätte bestellt oder einkaufen geht. Ihre Eltern werden nie erwähnt, sie scheinen keinen wirklichen Besitz oder Taschengeld zu haben. Alles, was sie haben, bekommen sie von einem Tauschmarkt gegen Marken, die ihnen die Schule ausgibt. Sie werden viel in kreativen Fächern unterrichtet und verlassen scheinbar nie die Schule. Das liegt daran, dass die Kinder in Hailsham keine gewöhnlichen sind – sie haben eine Aufgabe, die ihr Leben nach Hailsham bestimmen wird und ihnen kein besonders langes Leben prognostiziert. Der Kern dieser Aufgabe klingt nach Science-Fiction, nach alternativer Geschichtsschreibung und ein bisschen nach subtilem, menschlichem Horror. Aber das ist nicht die Essenz des Buchs. Das konzentriert sich durch und durch auf die Charaktere und ihre Beziehungen untereinander, darauf wie sie mit ihrer Situation umgehen. Damit wie beispielsweise Kathy damit umgeht, dass Ruth und Tommy ein Paar werden. Darauf wie sie mit dem Außenseiter-Dasein umgehen. Und wie sie miteinander umgehen, nachdem sich ihre Wege getrennt haben und sie sich wiedersehen kurz bevor es für sie zu Ende geht.

Hier kommt viel zusammen. Als ich vor vielen Jahren den Film sah, kam ich nicht davon los. Die Geschichte war irgendwie tief im Hintergrund Science-Fiction, aber nach außen hin ein Charakterdrama. Der Film gab sich keine Mühe etwas zu erklären, er erzählte lediglich aus dem Leben einiger Menschen, die mit einer (für uns) außergewöhnlichen Situation klarkommen müssen. Wie Ruth Tommy und Kathy systematisch auseinander bringt und ihre eh nur kurze Lebenszeit verschenkt, hat mich rasend gemacht. Ihr Schicksal hat mich lange in Gedanken verfolgt. Ich las im Nachgang, dass der Film auf einem Buch von Kazuo Ishiguro basiert. Demselben Autor, der auch die Vorlage zu Was vom Tage übrig blieb mit Anthony Hopkins lieferte. Ich lernte also zwei seiner Stoffe zuerst in der Filmadaption kennen. „Bald mal was von Ishiguro lesen“ war das Ziel. Und dann gewinnt der doch allen ernstes einen Literaturnobelpreis, bevor ich es schaffe ihn zu lesen. Dann sollte es endlich soweit sein – ich schlug ihn im Buchclub vor und wir lasen es. Obwohl ich die Handlung schon kannte, hatte es mich von der ersten Seite an. Die Schilderungen der Zickereien in der Schule, aber auch der Geborgenheit, der Rituale und des Miteinanders, des Aufwachsens und der Unsicherheiten die damit einhergehen – es erinnerte mich an mein Erwachsenwerden. Wie man sich manchmal hilflos fühlt angesichts all der Dinge, die man nicht weiß, nicht einordnen kann und doch nach außen hin ganz cool tut. Und andererseits wie ein König, wegen der kleinen Erfolge und all der Dinge, die man kennenlernt und die neu sind. Ich war unendlich gespannt darauf wie das Buch mit dem Schicksal und der Aufgabe der Kinder umgeht. Im Buchclub wurde das Buch ähnlich heiß diskutiert wie es auch im Internet diskutiert wird und in zahlreichen Blogartikeln und Booktube-Videos. Soviel lässt sich nicht abstreiten: es ist ein kontroverses Buch.

Die Bookclubber störten sich zum Teil daran, dass das Buch soviel Zeit verschenkt (ich würde sagen eher investiert) um das Leben der Kinder in Hailsham und ihre alltäglichen kleinen Problemchen und Ereignisse zu schildern. Nämlich ca die Hälfte des Buches. Wer sich nicht nicht mit Wehmut oder Nostalgie an das Erwachsenwerden erinnert fühlt, langweilt sich hier verständlicherweise unter Umständen. Die zweite große Kontroverse ist aber wohl, dass viele Leser regelrecht unzufrieden waren wie die Geschichte verläuft. Damit beziehe ich mich nicht nur auf den Buchclub, sondern die vielen Stimmen da draußen, die fragen, warum Ruth, Kathy, Tommy oder andere nicht einfach weglaufen und ihrem Schicksal entgehen. Im Buch wirkt es tatsächlich nicht so, als ob ihnen jemand Steine in den Weg legt. Im Film haben sie zwar tatsächlich eine Art Sender, aber auch dort wird ihnen scheinbar keine Gewalt angedroht. Warum dann also nicht einfach abhauen?

Für mich stellt sich diese Frage nicht wirklich. Von Beginn an fühlte sich die Geschichte für mich realistisch an und vielleicht sogar realistischer als das was viele fordern und vermissen. Die Welt ist nicht nur voller Katniss Everdeens, nicht nur voller Rebellen, die das System stürzen wollen. Rufern wir uns ins Gedächtnis, was wir über die Zeit des Nationalsozialismus und der systematischen Verfolgung und Tötung von Juden, Andersdenkenden, etc. wissen – wieviele haben dagegen aufbegehrt im Gegensatz zu denen, die geschwiegen haben oder es einfach nicht besser wussten? Und selbst, wenn man nicht rebelliert, braucht es immer noch sehr viel Mut den vorgezeichneten Weg zu verlassen und allem und jedem, den man kennt, den Rücken zuzukehren. Ein weiterer Aspekt ist, dass die Kinder in einem Umfeld aufgewachsen sind, dass ihnen seit ihrer frühesten Kindheit unterschwellig oder manchmal sogar mit sehr deutlichen Worten vermittelt hat, was auf sie zukommt und ihnen dabei den Eindruck vermittelt hat, dass es vollkommen normal sei. Ja sogar, dass sie eine wichtige Aufgabe haben. Erst als sie heranwachsen und spüren, was ihre Aufgabe für sie genau bedeutet und was sie zu verlieren haben (ihr Selbst, Liebe, Zuwendung, Leben), keimt in ihnen der Gedanke dem zu entgehen und sie suchen nach Auswegen. Aber selbst dann laufen sie nicht weg. Und ich denke, dass liegt anfangs daran, dass sie die Menschen um sie herum nicht aufgeben wollen und v.A. später daran, dass sie ihr Schicksal als ihre Lebensaufgabe anerkannt haben. Ishiguro wird erschreckend oft danach gefragt und gibt zu verstehen, dass er tatsächlich einfach nicht die Geschichte der Helden und Rebellen erzählen wollte und besonders interessant: dass es Länder gibt, in denen er gar nicht danach gefragt wird, weil es in anderen Gesellschaften scheinbar selbstverständlich ist (s)einer Aufgabe zu folgen und die ihnen zugedachte zu akzeptieren (Quelle – enthält Spoiler).

„Kazuo Ishiguro discusses his intention behind writing the novel, Never Let Me Go“, via Film Independent (Youtube)

Ishiguro erzählt damit sehr gefühlvoll von dem Leben wie es wahrscheinlich die deutliche Mehrheit führt. Die, die nicht rebellieren und nicht weglaufen, sondern die einfach ihr Leben leben. Nur, dass es sich nicht ganz so normal anfühlt wie unseres. Er konzentriert sich auf ihr Leben und ihre Gedanken, ihre Beziehungen und was ihre Charaktere formt. Und vor Allem später im vielleicht stärksten Teil des Buches wie sie mit ihrer Aufgabe und dem Rest ihres Lebens umgehen, wenn sich Kathy, Ruth und Tommy als Erwachsene wiedersehen. Und wer sich immer noch nicht damit abgefunden hat, dass sie nicht abhauen, den frage ich: was hast du denn zuletzt getan um der Unausweichlichkeit des Todes zu entgehen? Natürlich soll das kein Aufruf zur Ohnmacht sein, aber dafür sensibilisieren, dass wir uns vielleicht nicht in so einer unähnlichen Situation befinden und uns auf das konzentrieren sollten, was das Buch uns gibt. Die Auseinandersetzung mit dem Unausweichlichen und was wir mit unserer Zeit am besten anfangen. Aber auch wie es ist anders zu sein. Sich selbst zu erkennen.

Ein nicht unwesentliches Element des Buches ist die einfühlsame Auseinandersetzung mit Menschen, die wie du und ich sind, die sich aber sehr früh ihres eigenen Ablaufdatums bewusst werden und die erkennen, dass sie anders sind als andere Menschen. Die spüren, dass sie anders behandelt werden und erst nach und nach die Gründe dafür erkennen. Die nach ihren Wurzeln suchen und sich selber finden. Und ihre Beziehungen untereinander, die sie prägen. Menschen mit denen man sein ganzes Leben geteilt hat und plötzlich merkt: es geht nicht mehr. Im Sinne von Verlust, oder auch im Sinne getrennte Wege zu gehen. Wie Ishiguro in die Protagonisten blickt und ihr Seelenleben niederschreibt ist auf eine nüchternde Art einfühlsam und so zutiefst menschlich, dass der Leser sich unweigerlich mit ihnen identifiziert und vielleicht deswegen so entrückt ist aufgrund ihres Schicksals. Vielleicht aber auch, weil wir so gerne Heldengeschichten und Happy-Ends lesen wollen.

„Wenn ich jetzt zurückdenke, fällt mir auf, dass wir damals in einem Alter waren, wo wir schon manches über uns wussten – wer wir waren, inwieweit wir uns von unseren Aufsehern, von den Menschen da draußen unterschieden -, aber was das alles bedeutete, das wussten wir noch nicht. […] Sie warten also, wenn auch unbewusst, auf den Augenblick in dem Sie erkennen, dass sie tatsächlich anders sind; dass dort draußen Menschen sind wie Madame, die Ihnen weder Übles wollen, noch Hass gegen Sie empfinden, und doch schon bei dem Gedanken an Ihre Existenz, an die Art und Weise, wie Sie zur Welt kamen und warum, erschaudern und sich vor der Vorstellung fürchten, sie könnten von ihnen berührt werden. Wenn Sie sich das erste Mal mit den Augen einer solchen Person sehen, wird Ihnen kalt ums Herz. Es ist als sähen Sie einen Spiegel, an dem Sie jeden Tag Ihres Lebens vorbeigegangen sind, und auf einmal zeigt er Ihnen etwas anderes, etwas Fremdes, Verstörendes.“ p. 49-50

„Judy Bridgewater – Never Let Me Go“, via Na La (Youtube)

Fazit

Ein wunderbares, einfühlsames Buch, das vor dem Hintergrund einer moralischen Zwickmühle von Beziehungen und dem Umgang mit dem Tod berichtet und damit vielleicht den einen oder anderen Leser aufgrund der Alternativlosigkeit vor den Kopf stößt.

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

5 Antworten

  1. Avatar von voidpointer
    voidpointer

    Vielen Dank für das interessante Review. 🙂 Ich kenne nur den Film und das Buch möchte ich noch lesen. Das Herausragende für mich war die Nachvollziehbarkeit der Handlung. Immer wenn ich denken wollte, dass eine Situation grotesk und absurd sein muss, konnte die Vergangenheit doch vergleichbares liefern.
    Es ist bitter anzusehen, wie die Protagonisten wie die Lämmer zur Schlachtbank laufen und doch ist es in Anbetracht von Erziehung und der Alternativen plausibel für mich. Man denke z.B. an Sklaverei und ihre Verbreitung und Rolle in der Geschichte. Skrupel- und Hilflosigkeit lässt einen leider vieles glauben.

    Selbsterkenntnis allein garantiert keine Selbstbestimmtheit. Vielleicht erlangt man diese gerade durch Grenzüberschreitungen, aber ohne Grenzen gibt es auch eine Überschreitung womit man wieder bei der Erziehung wäre..

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Aha! Sehr spannend, dass du es auch nachvollziehbar empfindest! Damit sind wir scheinbar etwas in der Unterzahl, wie auch die Meinungen im Buchclub oder die Diskussionen unter anderen Reviews zeigen.
      Welche Beispiele aus der Vergangenheit meinst du aber?
      Was die Protagonisten und ihr Aufwachsen betrifft, sehe ich das ähnlich. Zwar wird ihnen ja gesagt, was ihre Aufgabe ist (und das sogar recht deutlich), aber dadurch, dass das Umfeld ihnen mitgibt, dass dies das normalste auf der Welt ist, stellt sich auch ihnen lange nicht die Frage, was daran „falsch“ sein könnte.

      Guter Satz mit Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung … leider wahr.

      1. Avatar von voidpointer
        voidpointer

        Es ging mir ganz allgemein um die zahlreichen Fälle von Ausbeutung und Grausamkeiten vergangener Zeiten, die im Rahmen ihrer Zeit nicht als Unrecht angesehen wurden, weil selbstgefällige Rechtfertigungen gefunden und akzeptiert wurden.

        1. Avatar von Miss Booleana
          Miss Booleana

          Ah ok, verstehe. In Film und Buch wird das Geschehen ja auch sehr nüchtern und selbstverständlich hingenommen. Das stimmt.

  2. […] Alles, was wir geben mussten, Kazuo Ishiguro […]

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