Teile der Handlung sind bekannt, vielleicht sogar der Schauplatz oder die Namen der Figuren? Das hat man ab und zu. Tatsächlich habe ich nie Michael Endes Momo gelesen, aber mal so ca drei Achtel der Verfilmung gesehen. Erst nachdem ich vorletztes Jahr das erste Mal Die unendliche Geschichte las, wollte ich diese andere Wissenslücke schließen. Michael Endes Buch handelt von der titelgebenden kleinen Momo, die einfach eines Tages in der Stadt auftaucht. Woher sie kommt, weiß keiner. Sie scheint keine Eltern zu haben und gibt sich mit ihrem einfachen Leben in einer improvisierten Behausung zufrieden. Das Mädchen hat schnell viele Freunde wie Gigi Fremdenführer oder Beppo Straßenkehrer. Sie fordert nichts, aber gibt viel. Sie hört den Menschen zu und begegnet allen freundlich. Sie schenkt ihnen Zeit. Damit ist sie aber den grauen Herren ein Dorn im Auge.
Die stets in grauen Anzügen, mit grauen Hüten und Gesichtern, in grauen Autos fahrenden und dicke Zigarren rauchenden Gestalten sind nichts anderes als Zeitdiebe. Sie leben von der Zeit, die sie den Menschen rauben. Die grauen Herren leben davon. Und desto mehr Menschen bei Momo verweilen und ihre Zeit dort verbringen, desto weniger bleibt den grauen Herren übrig, um zu schmarotzen. So gehen die grauen Herren auf einen Feldzug gegen des Mädchen und ihre Freunde, aber Momo ist mutig und nicht erpressbar.
„Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden.“ p. 15
Der aufmerksame Leser erahnt schon anhand der Inhaltsangabe, dass Michael Endes urbanes Märchen viele Analogien zu dem Arbeitsleben, Selbstoptimierern, aber auch Kapitalismuskritik symbolisieren kann. Die Floskel unserer ach so schnelllebigen Zeit schlägt hier besonders zu. Durch das Auftauchen der grauen Herren und ihrer Scheinfirma, der Zeitsparkasse, beschleunigt sich das Leben der Menschen mit Konsequenzen. Die grauen Herren versprechen, dass die Menschen ihre Zeit sparen können und später wieder bekommen würden. Dazu müssten sie nur aufhören ihre Zeit mit unwichtigen Dingen zu verschwenden. Freunde treffen, die kranke Mutter pflegen, dem Nachbarn zuhören. So werden die Menschen der von den grauen Herren infiltrierten Stadt zu unglücklichen Seelen, gehetzten bis kranken Arbeitstieren und teilweise zu unfreundlichen Ekeln. Natürlich können sie es nicht verkraften, dass Momo so freigiebig mit Zeit umgeht. Als Leser ist es besonders hart mitzubekommen wie sich die grauen Herren an Momos Freunde hängen, nachdem sie merken, dass sie es mit dem Mädchen nicht aufnehmen können. Und wie schwer die Einsamkeit auf Momo lastet.
„Die vielen einsamen Stunden, was sind sie jetzt für dich? Ein Fluch, der dich erdrückt, eine Last, die dich erstickt, ein Meer, das dich ertränkt, eine Qual, die dich versengt.“ p. 249
Dabei ist Michael Endes Roman in der erklärenden Sprache eines Märchen-Erzählers geschrieben, aber mit entlarvenden Spitzen versehen. Das eine eher was für die jungen, das andere eher was für die älteren. Besonders schön liest sich das an Momo und den grauen Herren ab. Das Mädchen ist pragmatisch und löst sich von den unsichtbaren Regeln der Gesellschaft. Dinge, die andere benutzen um zu messen, einzuschätzen, abzuwägen, zu bewerten, streicht Momo einfach zur Seite. Sie bricht die Regeln auf angenehmste Weise, denn die Regeln bedeuten ihr einfach gar nichts. Sie antwortet auf die Frage, wann sie geboren wurde, dass sie soweit sie wisse schon immer da war. Wahrscheinlich die beste Antwort überhaupt. Die grauen Herren sind eine Metapher an sich – schon alleine durch ihre Farbe. Sie erinnern mich an den einen oder anderen grauen Herren, denen man im Berufsleben begegnet und die einem Unwissenheit attestieren, weil man zu jung oder zu weiblich oder zu idealistisch ist. Ende beweist außerdem ein Herz für die Leute, die andere abfällig als Unterschicht bezeichnen würden. Er macht Gigi beispielsweise nicht zu einem Schwätzer, sondern zu einem „Fremdenführer“.
Das 1973 als „Märchen-Roman“ veröffentlichte Buch zierte eine Weile und mit langem und spätem Ruhm die Bestsellerlisten. 1982 und ’83 beispielsweise zeitweilig Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Tatsächlich habe ich mich mit dem „Märchen-Roman“ etwas schwer getan. Das urbane Setting und die oben erwähnte erklärende Sprache waren mir vielleicht zuviel Märchen im Urbanen und haben mich weniger gekriegt als vielleicht andere Leser. Die Fantasy-Elemente um Meister Hora, den Herr über die Zeit und die Stundenblumen sind wunderschön, fantasiereich und ein farbenprächtiger Kontrast zu den grauen Herren. Vor meinem inneren Auge gab es eine Farbexplosion. Aber ich als jemand, der weniger (gern) Fantasy liest, war es etwas zu einfach wie mächtige Entitäten und Wunder aus dem Nichts erscheinen und doch eigentlich die ganze Zeit die Macht hätten, die Wende einzuläuten. Zudem weiß man im Grunde sehr früh worauf es hinausläuft und hat die Metaphern schnell entschlüsselt, sodass ich für meinen Teil das Buch gar als recht langatmig empfunden habe. Dass ein Mädchen, das bereitwillig anderen Zeit und Aufmerksamkeit schenkt das fehlende Puzzleteil ist, ist aber – keine Frage – eine sehr schöne Botschaft.
Warum nun Momo für mich weniger gut funktioniert hat als Die unendliche Geschichte liegt vielleicht daran, dass letzeres von Anfang an ein Fantasy-Setting hat, während die Stundenblumen in Buch Momo genauso wie Meister Hora halt irgendwann in der Mitte auftauchen und verändern, was man zuvor als Welt mit bekannten Regeln kennen gelernt hatte. Michael Ende hat es soweit ich mir angelesen habe, gehasst das Kritiker seine Bücher in die Schublade Kinderbuch stecken. Zwar konnte ich den Gedanken nicht ganz während des Lesens wegwischen, aber es gibt eben auch sehr viele entlarvende, versteckte Botschaften, die eher die größeren verstehen. Demzufolge kann und möchte auch ich das Buch nicht in die Kinderbuch-Schublade stecken. Es ist eher sein eigenes Ding. Und man findet ein bisschen extra Michael Ende darin.
An den Namen der Charaktere liest man heraus, dass es eventuell in Italien spielt, wo auch Michael Ende eine Zeit lang lebte. Meine Ausgabe enthält Illustration Endes, die die Handlung wunderbar unterstreichen und nicht selten zum schmunzeln einladen. Wo kommen wir hin, wenn wir nicht mehr zuhören? Wenn wir unsere Zeit nur noch abmessen und nichts mehr genießen in der Hoffnung das später nachholen zu können? Vielleicht gibt es kein später. Und was wird aus unserem Leben oder uns, wenn wir nur noch priorisieren und uns überlegen wie wertvoll es für uns ist die Zeit dem einen statt dem anderen Menschen zu schenken? Oder wie Michael Ende es Meister Hora treffend formulieren lässt:
„Und alle Zeit, die nicht mit dem Herzen wahrgenommen wird, ist so verloren wie die Farben des Regenbogens für einen Blinden oder das Lied eines Vogels für einen Tauben.“ p. 176
Fazit
Urbanes Fantasy-Märchen für große und kleine vordergründig fantasy-begeisterte Leser
Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-522-20255-8, Thienemann Verlag
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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