Als ich das Buch aufschlug und den ersten Satz las, hatten Das Böse kommt auf leisen Sohlen und ich direkt einen mäßig guten Start. Und das obwohl ich mich auf den Roman sehr gefreut habe und mit der Erwartung einer stimmungsvollen Halloween-Lektüre aus dem Regal zog. Die bekam ich auch. Und es wäre für mich auch vollkommen okay gewesen über drei männliche Protagonisten zu lesen, mit männlichen Gegenspielern, wenn ich mich nicht direkt beim ersten Satz als Leserin ausgeklammert gefühlt hätte. Denn da heißt es:
„Vor Allem war Oktober, ein köstlicher Monat für Jungen. Nicht daß alle anderen Monate nicht auch köstlich wären. […] September zum Beispiel ist ein böser Monat, die Schule beginnt […]“ p.13
So? Und warum jetzt genau? Weil nur Jungs an Halloween und Herbstferien Spaß haben? Ich habe wenig Verständnis dafür, dass man bewusst andere Menschen als das Selbst ausklammert. Eine besonders nachtragender Leserin bin ich aber auch nicht. Durch Ray Bradburys Fahrenheit 451 kenne ich es ohnehin schon, dass er über das schreibt, was er am besten kennt: das sind vor Allem Männer und Jungs. Nichtsdestotrotz ist Das Böse kommt auf leisen Sohlen ein stimmunsgvolles Buch, das tatsächlich geradezu dafür geschaffen scheint, um sich an Halloween einen angenehmen Schauer über den Rücken zu jagen. Worum geht es aber?
Der Zirkus kommt in die Stadt. Die beiden besten Freunde Will Halloway und Jim Nightshade sind sofort fasziniert von den Klangkulissen der Orgel, der „Freak Show“, den Attraktionen. Während aber Will eine gesunde Skepsis kultiviert, ist Jim besessen von dem Zirkus und kann kaum fern bleiben. Sie beobachten allerdings, dass das Spiegellabyrinth ihnen erstaunliche Dinge zeigt, die so nicht sein können und dass das Karussell unglaubliche Dinge mit Menschen anstellen kann. Einigen Gestalten der Nacht wäre es lieber, sie hätte das nicht bemerkt.
Es ist nicht das Leben wonach sie Will und Jim trachten, sondern das Leben wie sie es bisher kannten. Dabei ist insbesondere Jim hin- und hergerissen. Abenteuer und das Unerklärliche ziehen ihn an. Das Karussel hat die Möglichkeit Menschen altern zu lassen oder zu verjüngen, wenn es rückwärts läuft. Jim wäre so gern älter. Im krassen Gegensatz dazu steht Will, der eigentlich nur nicht möchte, dass sein Freund sich von ihm entfremdet. Sind sie nicht mehr gleichalt, sind sie sicherlich auch nicht mehr befreundet. Lachen nicht mehr über dieselben Dinge. Will ist ein gebranntes Kind was das Thema Alter betrifft. Sein Vater ist einige Jahre älter als andere Väter und es ist beiden unangenehm, wenn sie auf der Straße für Großvater und Enkel statt Vater und Sohn gehalten werden. Will hat Angst Jim an den Zirkus zu verlieren. Was ist der Preis des Unmöglichen?
Wenn sich die Lehrerin der Jungs fast im Spiegellabyrinth verliert und dort nichtsahnend die Zukunft sieht, wenn Chopins Trauermarsch spielt und sich das Karrussel rückwärts dreht, wenn Menschen ihres bisherigen Daseins (unwiederbringlich?) beraubt werden, dann löst das ein sehr menschliches Grauen aus. Nicht alles, was Mr Cooger und Mr Dark, die Chefs des Zirkus, den Menschen antun scheint umkehrbar zu sein. Die bisherige Existenz ihrer Opfer aber ausgelöscht. Nur noch eine bloße Erinnerung an ein Leben. Und wer würde Will oder Jim schon glauben, wenn sie sagen, dass dieser kleine, unschuldig aussehende Junge ein Schurke ist? Lediglich einer glaubt ihnen: Wills Vater.
Anfangs wird in Das Böse kommt auf leisen Sohlen v.A. die Freundschaft zwischen Will und Jim besungen. Sie werden als quasi unbesiegbar dargestellt. Als infernalisches Duo aus unterschiedlichen Interessen und Sichtweisen, aber zwei durch ein festes Band nahezu synchronisierten Köpfen. Nach und nach verschiebt sich aber die Perspektive zum anfangs wortkargen und mauen Charles Holloway, Wills Vater. Anfangs scheint er keine große Rolle einzunehmen, nachdem er seine Stimme gefunden hat und von seinem Sohn in Not ganz offensichtlich gebraucht wird, mausert er sich zum heimlichen Protagonisten. Eine etwas seltsame Wendung. Der Schwall an Weisheit, der plötzlich aus dem Hausmeister in der Bibliothek Charles Holloway strömt und mit der er seinen Sohn begeistert und für ihn erwärmt, lässt ein wenig den Verdacht aufkeimen, dass hier Bradbury als Holloway spricht.
In jedem Fall ist dieser Wechsel der Perspektive und Protagonisten sympathisch, aber seltsam. Durch die Gefahr und die Rettung mit einfachsten Mitteln (an der Stelle keine Spoiler 🙂 ) ,schlägt das Buch einen Bogen zu dem Beginn der Geschichte. Den Sehnsüchten der Menschen: stets zu wollen, was man nicht hat. Die Jungen, die alt sein wollen. Die Alten, die jung sein wollen. Manch einer ist schlau genug zu wissen: das wirkt immer nur anfangs wie ein Segen. Die beste Zeit ist jetzt.
Auch das andere große Motiv des Buches verfehlt nicht seine Wirkung: die unmittelbare Gefahr schweißt Vater und Sohn zusammen. Wo aber bleibt Jim? Warum die lange Parabel darauf, in wievielen Dingen die Jungen gleich sind und worin unterschiedlich? Auf den letzten hundert Seiten hört man wenig von ihm. Außer dass seine Abenteuerlust und sein Gieren nach Gefahr ein Angriffspunkt für Mr Dark und seinen düsteren Zirkus ist. Warum die lange Geschichte um den Blitzableiter und den Sturm zu Beginn? In manchen Passagen erkennt man wohl den Zweck, aber wundert sich über den Umfang.
Auch Bradburys sehr lange Aneinanderreihungen von rhetorische Figuren, Beschreibungen und Bildern erwecken den Eindruck, dass sich die Geschichte in sich selbst verliert. Zwar fördert das sehr wohl die Atmosphäre, manchmal aber leider auf Kosten der Nachvollziehbarkeit. Es passiert nicht selten, dass man durch die langen Passagen mit ausschweifenden Beschreibungen von Empfindungen vergisst wo man eigentlich gerade ist und in wessen Kopf. Will, Jim, Charles, Mr Dark?
Trotz der herrlich schaurigen Atmosphäre und der gelungenen Erzählung von Sehnsüchten, ist Das Böse kommt auf leisen Sohlen trotz seiner nur 270 Seiten langatmig und wiederholt sich nicht selten selber. Die fantastischen Ideen und Visionen Bradburys täuschen gut darüber hinweg. Sie sind so lebendig wie ein Zirkus selber und entsprechend vielfarbig beschrieben.
Leider brauch man trotzdem etwas Atem dafür und die Fähigkeit über das eine oder andere hinwegzusehen. Es gibt immer jemanden, der oder die nicht in einem Roman repräsentiert wird. Das ist ok, denn das wäre eine Mammutaufgabe und dient nicht immer dem Zweck. Aber Nicht-Repräsentation und bewusstes Ausklammern sind zwei unterschiedliche Dinge. „Wir Jungs sind ganz vernarrt in unsere Spielzeuge, wir sind grosse Tüftler und Schrauber und lieben nichts mehr, als eine Zündschnur anzuzünden und eine Rakete in den Himmel steigen zu lassen. Und deshalb lesen Männer gern Science Fiction. Uns interessiert die Tat, Frauen eher das Machen. Darin liegt der Unterschied.“ so sagte Bradbury einige Jahre vor seinem Tod in einem Interview, das man bei deutschlandfunk.de nachlesen kann und erklärt wohl warum seine Bücher so androzentrisch sind. Mir hat Das Böse kommt auf leisen Sohlen gefallen, aber ich glaube ich lese jetzt für eine Weile keinen Bradbury.
Fazit
Schön schaurig und nicht nur für Jungs.
Besprochene Ausgabe: ISBN 9783257208665, Diogenes
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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