ausgelesen: Philipp Dettmer „Immun“

Aktuell sind andere Themen in das Bewusstsein gerutscht. Letztes Jahr aber war noch Corona das Thema Nummer 1, das unser Leben täglich beeinflusst hat. Vieles an der Debatte und den erhitzten Gemütern, überstürzten oder verspäteten Regelungen lag teilweise auch an Wissenschaftskommunikation. An mangelnder beispielsweise. Warum nicht mehr die Leute fragen, die es wissen? Und denen auch vertrauen? In mir wuchs der Wunsch mich weiterzubilden, zu verstehen, ein bisschen mitreden zu können und meine Abhängigkeit von vorgebeteten Fakten ein bisschen mehr angeeignetes Wissen entgegen zu setzen. Ein Buch über das Immunsystem sollte her. Und die Auswahl ist groß. Als ich über Philipp Dettmers Immun stolperte, fand ich besonders interessant, dass es für seine bildlichen und anschaulichen Erklärungen gelobt, aber auch kritisiert wird. Die Neugier war geweckt und das Buch auf meiner Liste der 22 Bücher für 2022.

Philipp Dettmer ist einigen vielleicht durch den Youtube Channel kurzgesagt bekannt, in dem wissenschaftliche Themen kurz und verständlich erklärt werden. Zwar kenne ich den Kanal seit einer Weile, habe aber zuerst die Verbindung zwischen Autor/Buch und Youtube-Channel durch das Cover-Artwork begriffen. 🙂 „Das sieht doch aus wie bei kurzgesagt“. Und ähnlich wie auf dem Youtube-Channel wird tunlichst versucht alles bildlich zu erklären und auf zuviel Fachsprech zu verzichten. Dettmer tastet sich heran beginnend bei Definitionen wie „Was ist das Immunsystem?“, dann weiter mit „katastrophalen Schäden“ (was passiert eigentlich bei einer Wunde?) bis hin zu Krankheiten, in denen das Immunsystem uns schadet oder überreagiert wie Autoimmunerkrankungen und Allergien. Ich, die selber unter Allergien leidet, war besonders neugierig auf die Erklärung wo die herkommen. Warum habe ich Allergien nie stärker hinterfragt, obwohl ich darunter leide? Vielleicht der Bias des alltäglichen, bekannten und bereits hingenommenen. Tatsächlich hat das Buch auch einige Fragen beantwortet, die ich mir schon immer gestellt habe: „Nackt, blind und verängstigt: Woher wissen Zellen, wohin sie müssen?“ heißt das Kapitel. Die Fragestellung lässt schon erkennen: das Buch ist allgemeinsprachlich, witzig und nachvollziehbar geschrieben.

Zu einigen der Konzepten die Dettmar nutzt, um die Sachverhalte normalmenschlich verstehbar zu erklären gehören Vergleiche. Die Metapher schlechthin ist das Immunsystem als Schlachtfeld. Und desto mehr man von Fresszellen, Eindringlingen und Kamikaze-Zellen liest, glaubt man das auch und staunt, was sich in jeder Minute in unserem Körper abspielt. Smart sind beispielsweise auch die Größenvergleiche. „Wir erinneruns uns: wäre eine Zelle so groß wie ein Mensch, dann wäre ein durchschnittliches Bakterium so groß wie ein Kaninchen.“ (p.66) Das ist einfach verständlich, aber bestimmt nicht einfach zusammenzustellen und zu recherchieren. Man merkt jeder Seite an wieviel Fachwissen, Recherche und Auseinandersetzung hinter den Zeilen steckt.  Durch die Einfachheit und bildliche Vergleiche bleiben viele Fakten und Zusammenhänge haften. Nicht zwingend die Fachbegriffe.

Immun hat was von Infotainment. Es unterhält und macht schlauer. Dem Immunforscher-Stammtisch werde ich jetzt aber trotzdem nicht standhalten, das ist aber okay. Das Problem ist, dass all die bildlichen Vergleiche sehr viel Raum fordern. Sie sind verhältnismäßig lang. Dazwischen gehen die Fachbegriffe unter, je nachdem wie groß Aufnahmefähigkeit und Gedächtnis der Leser:innen sind. Ist das schlimm? Darüber kann man debattieren. Ist es wichtiger die Zusammenhänge zu verstehen, während die Fachbegriffe auch mal untergehen können? Ich denke schon. Schwieriger finde ich den Nebeneffekt: das Buch ist einen Tick zu ausschweifend. Zwangsläufig werden die Sachverhalte einmal rudimentär wissenschaftlich erklärt und dann nochmal metaphorisch-bildlich. Mit „Soldaten“ als Zellen usw. All die Metaphern sorgen auch dafür, dass sich Dettmer selber korrigieren und die Leser:innen sensbilisieren muss. All die Neutrophile, Zellen und Bakterien haben „kein Bewusstsein“ und „können nicht denken“, versichert er uns immer wieder, falls wir die vorherigen Metaphern von Neutrophilen als Schimpnasen auf Koks missinterpretiert haben. Auch weiß Dettmer, dass Lesende nach dem „B- und T-Zellen“-Kapiteln nicht viel behalten haben wie er selber kommentiert. Aber wenn ich das schon weiß, schreibe ich dann das Kapitel? Ernstgemeinte Frage. Und hier wird nochmal deutlich wie schwierig es eigentlich ist Wissenschaftsvermittlung zu betreiben, die einfach, verständlich, witzig sein soll, die mich was lehrt aber auch nie zu sehr fordert oder langweilig wird. Ah.

„Neutrophile sind da etwas einfacher gestrickt. Sie existieren nur, um zu kämpfen und für das Wohl aller zu sterben. […] schlecht gelaunte Schimpansen auf Koks mit Maschinengewehr.“

p.91

Jetzt ist es gut 3 Monate her, dass ich das Buch gelesen habe – wieviel habe ich mir von all den Schlachten behalten? Es ist eine ganze Menge hängen geblieben. Die B- und T-Zellen habe ich tatsächlich vergessen, aber die Zusammenhänge sind geblieben und ich denke, das ist das wichtigste. B-Zelle kann ich auch mal im www nachschlagen. Was ich besonders cool finde, sind die Aha-Effekte und beantworteten Fragen, die ich mir vorher nie gestellt habe. Was ist die Funktion von Milz und Thymus? Oder die verblüffenden Fakten über unseren Körper wie „[…] nur ein einziger Blutstropfen enthält etwa 13.000.000.000.000 Antikörper.“ (p.302). Wie früher und heute Gegengifte hergestellt wurden und werden, hat mich zum Staunen gebracht. Man sieht den Körper und das Immunsystem nach Immun mit anderen Augen. Wichtig und zeitgeistig finde ich das Aufgreifen von Kontroversen: woher kommt die Impfgegener-Bewegung? Dettmer beleuchtet mehrere Standpunkte neutral, findet aber schlussendlich deutliche Worte mit der Aussage Masern hätten ausgerottet werden können und dass es ein Wohlstandstrend ist, erkennbar daran, dass die Bewegung hauptsächlich in Industrieländern getrieben wird. Ich mochte das Zitat „Nebennbei bemerkt: was dich umbringt, macht dich nicht stärker“ (p.306) und dass Dettmer Impfen als Gesellschaftsvertrag bezeichnet.

In Summe ist Immun ein faszinierendes, unterhaltsames und lehrreiches Buch über das Immunsystem, durch das ich viel gelernt habe. Es demonstriert allerdings auch, dass Wissenschaftskommunikation unheimlich schwierig ist. Konkret und rational sein, aber auch unterhaltsam und einfach verständlich klingt nach einem Einhorn. Immun ist aber sicherlich ganz nah dran. Etwas schräg: das Quellenverzeichnis ins Internet zu verlegen finde ich bei dem ausschweifenden Buch etwas ungewöhnlich. Die paar Seiten wären noch drin gewesen, oder? 😉

Fazit

Für alle, die Masse nicht scheuen, solange es verständlich erklärt ist, vielleicht die beste Wahl unter Büchern über das Immunsystem

Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-86493-175-8, ullstein

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

4 Antworten

  1. Ich schleiche schon ewig um dieses Buch rum, genau aus den Sorgen, die du hier besprichst: Ist es zu wissenschaftlich? Oder zu WENIG wissenschaftlich? Zu ausschweifend?
    Was du sagst, hört sich summa summarum für mich gut, lehrreich und dennoch unterhaltsam an. Danke für deine Einschätzung!

    LG,
    Ute

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Aber sehr gern doch 😉 Danke dir für deinen Kommentar.
      Ja, ne? Es ist ein schmaler Grad zwischen zuviel, zu wenig, „unterhaltsam, aber …“. Wirklich spannende oder unterhaltsame Sachbücher zu machen scheint ein Kunstgriff zu sein, der nicht so oft gelingt. Wenn Immun ein bisschen weniger ausschweifend wäre, dann würde ich es aber schon als diesen Kunstgriff bezeichnen.

      Wie schon auf Twitter gesagt – ich bin gespannt auf deine Meinung, falls du es dir genehmigen solltest. 🙂
      Ebenso liebe Grüße

  2. Avatar von donpozuelo
    donpozuelo

    Klingt ja echt interessant. Ich lese doch zu wenig Sachbücher… und wenn, dann meistens doch eher zum Thema Geschichte.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ach na siehst du … Geschichte lese ich wiederum ganz wenig. Und dann ja insgesamt verhältnismäßig wenig Sachbücher. Vielleicht 4 im Jahr – Fachliteratur nicht mitgezählt. Ich arbeite gemächlich daran, dass es mehr wird.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert