Von Melmoth erfuhr ich in Sebastians Besprechung und hätte am liebsten sofort losgelesen. Damals hatte ich aber gerade „Die Schlange von Essex“ neben mir liegen und wollte mich in Geduld üben. Als mir „Die Schlange …“ eher weniger gefiel, war auch „Melmoth“ erstmal vergessen. Zu Unrecht. Die Besprechung ist spoilerfrei.
Helen Franklin lebt in Prag und arbeitet als Übersetzerin. Ihr Leben in Prag ist eine selbstgewählte Strafe. Nicht wegen der Stadt, sondern der Weise wie Helen durch das Leben geht. Sie entsagt allem Genuss und allen Freuden. Sagt sich stets, dass sie das nicht verdient hätte. Ihre bissige, ältere Nachbarin erinnert sie mit Freuden dran, dass sie „wie eine graue Maus“ durch das Leben huscht. Aber gegen ihre Freunde Karel & Thea kann und will sie sich nicht wehren. Durch sie fällt ihr auch ein Manuskript in die Hände, das von „Melmoth, der Zeugin“ berichtet. Diese hätte Schuld auf sich geladen und würde Gräueltaten beiwohnen. Seit Jahrhunderten, wenn nicht gar Jahrtausenden, wandert Melmoth rastlos über die Welt und verfolgt davongekommene Täter:innen. Eines Tages tritt sie aus dem Schatten und nimmt einen mit. Genau Helens Thema? Bildet sie sich das ein oder sieht sie Melmoth schon in den Zimmerecken lauern?
Sarah Perry ließ sich (s. Video unten) einerseits von dem Schauerroman Melmoth der Wanderer von Charles Robert Maturin inspirieren, andererseits wollte sie eine weibliche Antagonistin schaffen. Eine, die genauso enigmatisch ist und einen nicht mehr loslässt wie die ganzen anderen, großen „Monster“ der Schauerliteratur. Und das fühlt man auch, allerdings erst nachdem der Roman etwas in die Gänge gekommen ist. Nachdem Helen ein bisschen recherchiert, stößt sie auf mehrere Texte von Personen, die Melmoth/Melmotka/etc. begegnet sind. Ihre Geschichten sind stets die von Sünder:innen. Sie empfinden bewusst oder unterbewusst Schuld, was oftmals die Frage aufwirft, ob Melmoth nicht eben nur das ist: eine mahnende Geschichte, die Ausgeburt der Schuldgefühle?
Die Geschichten, die Helen und Thea sammeln, sind beklemmend. Sie handeln mal in Tagebuch-, mal in Briefform von Völkermord, Verrat, von vermeintlich kleineren Sünden. Vor Allem sind sie eine Reise über den Globus wie auch durch die Weltgeschichte. Wo Menschen ungesühnte Verbrechen an Menschen verüben, da scheint Melmoth zu sein. Melmoth hat zugesehen. Melmoth entgeht nichts. Und Helen ist sich so sicher, dass sie ein Fall für Melmoth ist. Was hat Helen getan?
Davon abgesehen ist Prag ein toller Ort für den Roman, der mit seinen gotischen Gebäuden und der Nennung vieler Orte geradezu eine Spazierroute auffächert, auf der man Helens Spuren folgen kann. Obwohl der langsame Anfang mich fast verloren hätte, war ich voll dabei, sobald Helens Geschichte und die ihrer Schicksalsgruppe mehr Form annimmt. Denn ja, ihre garstige Nachbarin, ihre beste Freundin Thea und eine Krankenpflegerin werden ein Gespann wider Willen, dass sich durch ihre jeweiligen Katastrophen zurück ins Leben boxen. Ich mochte es sehr gern wie Sarah Perry vier sehr unterschiedliche Frauen in das Zentrum dieses Romans stellt, während Männer irgendwann zu den Abwesenden werden. Es erfordert viel sich der eigenen Schuld, Fehlern und Unzulänglichkeiten zu stellen.
Über lange Strecken ist das Buch dank der vielen Geschichten über Melmoth-Sichtungen aus aller Welt mehr ein Geschichtsroman oder ein Drama mit einigen, wenigen schaurigen Momenten. Somit hat es einiges mit Die Schlange von Essex gemein, was für Fans also sicherlich Melmoth zu einer sicheren Bank macht. Allerdings spielt es (anzunehmen) in der Gegenwart. Mich konnte der wenige Anteil von Schauer im Schauerroman nicht mehr enttäuschen, weil ich nun wusste, was mich erwartet.
Nicht verschweigen will ich die fünfte Frau, die für mich am Ende wohl den Unterschied gemacht hat. Julia Nachtmann macht das Hörbuch zu einem großartigen. Ja, da gibt es auch die kurzen, unaufdringlichen Musikeinladen schwerer Klaviernoten, die gut zum Schuldmotiv passen. Viel mehr hat mich aber überzeugt wie Nachtmann zwischen den Stimmen wechselt. Sacht und nie übertrieben gibt sie Melmoth eine bittersüße Stimme, die mir manchmal wirklich Gänsehaut beschert hat, neben der sachlichen und unaufgeregten Helen. Es animiert Bücher in Zukunft auch mal wieder nach der Sprecherin auszusuchen.
Habt ihr „Melmoth“ auch gelesen oder gehört? Eventuell andere Bücher Sarahs Perrys? Oder kennt ihr gar „Melmoth der Wanderer“?
Schreibe einen Kommentar