Ich dachte immer, dass mein erster Bret Easton Ellis American Psycho wäre. Das Buch, was hier immer noch geduldig im Regal wartet und vermutlich deswegen so lange warten muss, weil ich bereits die Verfilmung gesehen habe. Am Ende war es dann The Shards, weil der Sommer mich oft dazu verleitet Bücher zu lesen, die selber auch im Sommer spielen oder eine gewisse Atmosphäre von verschwitzten Tagen, langen Abenden und lauen Nächten verbreiten. Das fand ich in The Shards, auch wenn die Vorausdeutungen des Erzählers deutlich vermitteln: das ist der letzte dieser Art.
Der letzte „paradiesische Sommer“
The Shards beginnt scheinbar autobiografisch oder autofiktional mit Bret Easton Ellis, der davon berichtet nie mit den Ereignissen seines letzten Jahres an der High School abschließen zu können. Nach dem (langen) Intro werden wir in eben jene Zeit versetzt, in den Spätsommer des Jahres 1981 nach Los Angeles. Bret sieht dem Start des letzten Schuljahres an einer Privatschule entgegen. Man ist Teil der Oberschicht, alle haben einen eigenen Pool und Personal, gefälschte Ausweise, abwesende Eltern und Zugang zu reichlich Substanzen. Bret ist 17 und sein bevorzugter Drink ein Whiskey Sour.
Er ist eng befreundet mit Susan, Thom und Debbie. Susan ist die Schulschönheit. Alle Augen richten sich automatisch auf sie, wenn sie auftritt. Sie ist (natürlich) zusammen mit Thom – dem Quarterback. Debbie ist Susans beste Freundin, ein Sidekick, und hat irgendwann Gefallen an Bret gefunden. Der wiederum spielt das Spiel mit, weil es ungeschriebene Gesetze so wollen. Eigentlich will er sich ausprobieren, verstehen ob er schwul oder bi ist. Seine Ambitionen als Schriftsteller ausbauen. Niemand würde das eine oder das andere verstehen, also behält er es für sich. Die Strahlkraft seiner schönen Freunde ist zu groß. Er ist wie die Motte und sie das Licht. Im Alltag spielt er eine Rolle und umgibt sich hinter den Kulissen lieber mit denen, die den Rummel der reichen Vorzeige-Kids verpönen. Obwohl sie alle reiche Kids sind. Dann bringen zwei Ereignisse Unruhe in die geordneten Bahnen ihrer aller Lüge.
Mit dem gutaussehenden Robert Mallory taucht eine unbekannte Größe auf dem Spielfeld auf, ein neuer Mitschüler. Bereitwillig beschließen Susan und die anderen ihn in ihre Runde aufzunehmen. Bret aber ist Robert schon begegnet und erwischt ihn bei einer Lüge. Das ist nicht nur ein schlechter Start – alles an Robert produziert nur Fragen und Ungereimtheiten für Bret. Zudem treibt in der Umgebung ein Serienkiller sein Unwesen – der Trawler. Ist das Auftauchen beider zu selben Zeit ein Zufall?
Der aktive Teilnehmer tritt auf
Bret macht sich mit seinen Zweifeln an und Theorien über Robert recht schnell unbeliebt. Er bemerkt, dass seine Panik und seine Zurückgezogenheit ihn von seinen Freunden entfremdet und kreiert eine andere Persona – den „aktiven Teilnehmer“. Er versucht wieder aktiver das Spiel mitzuspielen und den schönen Schein aufrecht zu erhalten. Dabei will er heimlich Robert unter die Lupe nehmen. Das fällt ihm vor Allem deswegen schwer, weil sein Support, seine Freundesgruppe allmählich zerfällt und weil er vor Robert ebenso sehr Angst hat wie er sich auch körperlich von ihm angezogen fühlt.
Hineingesteigert in seine Panik berichtet Bret mehr und mehr von dem Ende einer Ära und wird dadurch nahbarer als durch seinen Tablettenkonsum, seine Lügen und sexuellen Abenteuer. Ehrlich – meine Schulklasse war mit 17 bei Weitem nicht so horny (soweit ich weiß). Man kann sich daran stören, man kann das Buch gerade deswegen kaufen. Neben all dem: Brets Freunde scheinen total unbeeindruckt vom Trawler. Sie sind jung, sie sind reich und schön. Sie halten sich für unantastbar. Das was in den Nachrichten berichtet wird, ist Zeug, was anderen passiert. Sie sind vollkommen disconnected und abgestumpft. Und wenn ihnen irgendwas zu nahe geht, dann schmeißen sie eine hilfreiche Pille ein oder rauchen einen Joint.
Ebenso nahbar ist auch wie Bret das Zerbrechen seiner Gruppe betrachtet. Robert wird immer mehr der Eindringling in diesem Szenario. Er ist neu, er ist cool, er ist gutaussehend – Bret bezeichnet ihn als einen griechischen Gott. Bald beginnen seine Freunde sich mit Robert zu treffen, mit ihm über Bret zu reden, statt Bret zuzuhören. Das tut natürlich weh, vor Allem in der Zeit als Teenager, wo man besonders stählern sein möchte, aber eigentlich besonders verwundbar ist. Die Freundschaft der Vier war schon zuvor ein Schauspiel in dem niemand so sein kann wie er oder sie wirklich ist. Aber selbst das zu verlieren ist für Bret eine Katastrophe. Seid ihr schon mal in einer dysfunktionalen Freundschaft gelandet? Ich leider ja als Teenager. Und ich fühlte mich sehr an die Zeit erinnert in der man sich an etwas klammert, was eh schon kaputt ist. In der man so verletzt davon ist, wenn die anderen über einen reden oder einen links liegen lassen. Aber so glücklich, sobald man wieder einen Funken dieser Aufmerksamkeit und Vertrautheit „genießt“.
„Ich musste die leichte Panik wegen Susans Party und Robert Mallory und des Gesprächs, das die beiden über mich geführt hatten, aus meinen Gedanken verbannen und in möglichst großer Entfernung entsorgen, bevor ich noch jemandem wehtat.“ (p. 180)
Fabel vom Erwachsenwerden
Zwischen all dem bemerkt man mehr und mehr, dass sie alle das Schauspiel nicht mehr ertragen und auf ihre jeweils eigene Weise versuchen auszubrechen. Die Belanglosigkeit ihrer Partys ist dabei so schwer zu ertragen wie auch ihr überschwängliches Leben surreal wirkt. Und ebenso surreal wie unglaublich horny alle die ganze Zeit über sind. Es gelingt Bret Easton Ellis die Zeit, die Klamotten, die Atmosphäre glaubhaft einzufangen. Nicht zuletzt dank der allgegenwärtigen Musik. Das Buch ist quasi eine einzige lange Playlist. Eine große Rolle darin spielt der Song Vienna von Ultravox. Die Zeile „It means nothing to me“ gibt sehr gut die Abgestumpftheit wieder mit der alle der reichen Teens hier ihre Zeit absitzen und auf das Erwachsenwerden warten.
Dieser Ton und diese Atmosphäre sind ziemlich speziell, vieles an dem Buch fast reißerisch. Was erwarte ich von reichen, abgestumpften Teenagern? Pillen und Sex? Wenn ich das in dem Buch bekomme, hat er es geschrieben, weil er sein Publikum kennt oder weil es so war? Noch schwieriger hat es in meinen Augen die super lange Exposition gemacht, die auf mindestens 50 Seiten Foreshadowing betreibt und Erwartungen schürt. Was passiert der Gruppe? Wie viele sterben am Ende wirklich durch den Trawler? Oder ist die wortreich angekündigte Katastrophe „nur“, dass sie sich gegenseitig verlieren?
„Für Debbie, das hatte ich im Laufe des Sommers herausgefunden, war das fortwährende Schulterzucken ein Ausweis meiner Männlichkeit – anscheinend hielt sie mich für einen starken, schweigsamen Typen, obwohl mir in Wahrheit schlicht alles gleichgültig war.“ (p. 105)
Interessanter wird es als Bret zunehmend durch seine Freunde als unzuverlässiger Erzähler charakterisiert wird. Es wird oft erwähnt „Bret übertreibt“ (p. 113). An einer Stelle spekuliert er selber „[…] und ich hörte Dinge, die gar nicht da waren, weil ich der Autor war.“ (p.314). Genauso wie er sich manchmal als Erzählstimme von den Dingen distanziert. Plötzlich Autor ist und nicht mehr der 17-Jährige Bret. Dann fragt er „Warum fand das in dieser Erzählung nicht statt?“ (p.461) Und so beginnen auch wir uns zu fragen: ist das alles so passiert? Geht die Gefahr wirklich von Robert Mallory aus? Forciert Bret die Ungereimtheiten nicht selber? Die Wahrheitssuche macht das mit über 700 Seiten und viel Foreshadowing sehr repetitive Buch ab dem zweiten Drittel dann eben doch spannend. Hinzu kommt der Missbrauch von Substanzen. Ist es ein zuverlässiger Erzähler, der ständig zwischen Alkohol, Aufputsch- und Beruhigungsmitteln wechseln muss, um durch den Tag zu kommen?
„Abgestumpftheit als Empfindung, Abgestumpftheit als Antrieb, Abgestumpftheit als Daseinsgrund, Abgestumpftheit als Ekstase.“ (p. 341)
Autofiktion, Erzählstimme und Realität verschwimmt. Zwar gibt Bret Easton Ellis von Anfang an vor seine Jugend wiederzugeben und ist sowohl Erzähler als auch Protagonist, aber nach und nach wird klar, dass er ein Bild entwirft. Eine Variante der Ereignisse. Das erlaubt ihm viele Behauptungen in den Raum zu stellen. An einer Stelle heißt es „der Mann, der American Psycho geschrieben hatte, war zur Überraschung so mancher nur ein netter, womöglich sogar liebenswerter, leicht abgewrackter Typ und nicht einmal annähernd der verantwortungslose Nihilist, für den mich so viele gehalten hatten, […] Aber es war nie eine bewusst eingenommene Pose gewesen.“ (p.16) Am Ende des Romans kann man eigentlich all das in Frage stellen. Gleichzeitig habe ich auch selten einen Roman gelesen, der mir so viel erzählt und mich am Ende so viel davon in Frage stellen lässt. Oder anders ausgedrückt: mich nicht davon überzeugen kann, dass ich eben über 700 Seiten lang die Wahrheit gelesen habe. Das ist das Spiel, das Feature von The Shards.
Wer nun also die Erwartung hat in The Shards das Psychogramm des Bret Easton Ellis zu finden, kann sich davon meines Erachtens nach verabschieden. Es ist ein schlau konstruierter Thriller und Abgesang auf den großen Enthüllungsroman, der mit unserer Gier nach „basiert auf wahren Begebenheiten“ spielt. Stattdessen ist es ein Abgesang auf das Leben der Reichen, Schönen und Abgestumpften, das eine angespannte und spannende Atmosphäre gleichermaßen einfängt. Eine Zeit in den USA als Sekten und anonyme Briefe von Serienkillern an der Tagesordnung waren und 17-Jährige nicht davon beeindruckt waren mit älteren Männern auf ein Hotelzimmer zu gehen, um im Gegenzug ihr berufliches Sprungbrett zu bekommen. Eine Zeit in der man sich davor fürchtete vor den Schulkameraden als schwul geoutet zu werden und wenn man es sich leisten konnte versuchte mit Pillen und Privatpool die Unannehmlichkeiten des Lebens zu vergessen. Bin ich froh, dass ich nicht reich bin.
„Wer hatte schon irgendwas verdient? Wir bekommen, was wir bekommen.“ (p. 489)
Fazit
Ein geschicktes Verwirrspiel um Wahrheit und Lüge
Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-462-00482-3, Kiepenheuer & Witsch
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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