Der Historiker ist so ein Buch, das scheinbar alle schon gelesen haben und dem ein gewisser Ruf vorauseilt. Aber es ist auch eines, dessen Zeit scheinbar vorbei war. Es war keine neue Ausgabe mehr verfügbar, weder auf Deutsch, noch auf Englisch. Durch Glück und Zufall, Schauen zum richtigen Zeitpunkt, fand ich eine gebrauchte Ausgabe, deren einziger Makel war, dass der Einband fehlte. Aber wie heißt es: Never judge a book by it’s cover. Prima. So ganz hat mich der Hype aber nicht angesteckt. Und ich bin mir sehr sicher, dass das anders wäre, hätte ich es vor fünfzehn Jahren gelesen.
In Der Historiker findet unsere junge Erzählerin im Teenageralter gegen 1972 in Amsterdam im Arbeitszimmer ihres Vaters Paul ein Buch, das scheinbar nur leere Seiten hat. Immerhin prangt auf einer ein Drache. Paul ist etwas geschockt, dass ihr das Buch zugefallen ist und wird sehr schweigsam als seine Tochter ihn danach fragt. Trotzdem schafft sie es immer wieder Details aus ihm rauszukitzeln, die eine spannende Geschichte verbergen. Er erzählt ihr davon wie auch er einst als Student mehr durch Zufall das Buch fand und kurze Zeit darauf sein Doktorvater verschwand. Man ging sogar von Mord aus. Paul glaubt nicht daran, fühlte sich damals selber verfolgt und nahm die Spurensuche auf. Seine Tochter brennt darauf zu erfahren wie es weiterging. Doch dann verschwindet auch ihr Vater und die Geschichte bleibt unvollendet. Was bleibt ist das ominöse Buch und eine Menge Briefe Pauls. Sie beschließt es ihm gleichzutun und die Spur aus den Briefen zu verfolgen, um hoffentlich ihren Vater zu finden. Welches Geheimnis birgt das mysteriöse Buch, in dessen Umfeld ständig Leute verschwinden?
Während also unsere namenlose Erzählerin eine Reise quer durch Europa auf sich nimmt, um ihren verschwundenen Vater zu finden, versucht sie die Vergangenheit zu rekonstruieren. In den Briefen, die sie gefunden hat, erzählt ihr Vater seinen Rückblick weiter. Nach und nach werden einige Details über das Buch, oder viel mehr die Bücher, enthüllt und ihren Zusammenhang mit einer historischen Figur, die einigen von uns bekannt sein dürfte: Vlad III. Drăculea. Elizabeth Kostova spielt in Der Historiker mit dem Gedanken, dass an der Dracula- und Vampirsage vielleicht doch mehr dran ist. Sie verflechtet die Spurensuche in der Gegenwart und Vergangenheit miteinander dadurch, dass sich scheinbar droht zu wiederholen, was dem Vater der namenlosen Erzählerin passiert ist. Auch sie und ihr Reisegefährte, ein Student, werden verfolgt. Der Historiker ist spannend, aber auch formelhaft.
Dass immer wieder Menschen im Umfeld des Buches verschwinden ist wohl das augenscheinlichste und am stärksten wiederholte Muster im Buch. Es passiert Paul im Rückblick und seiner Tochter in der Gegenwart. In fast jeder Stadt, die sie durchqueren. Dabei trifft es nie Paul oder seine Tochter, aber häufig jenen Menschen, die ihren Weg kreuzen. Andere, die zufällig auch eins der ominösen Drachenbücher besitzen, landen rein zufällig neben ihnen am Nachbartisch im Restaurant. Des Öfteren muss ein Nebencharakter das Zeitliche segnen. So richtig Spaß machen all die Zufälle irgendwann nicht mehr, wirken sehr erzwungen und vorhersehbar. Auch wenn noch mehr Briefe gefunden werden (ruhig mal 40 Buchseiten lange), dann habe ich irgendwann nicht mehr „hurra“ geschrien. Auf stolzen über 800 Seiten laufen sich die Muster tot.
Das heißt nicht, dass Der Historiker langweilig ist, aber es ist eine Berg- und Talfahrt je nach Ausdauer der Lesenden und Lesegewohnheiten. Es gab Passagen, bei denen ich am Haken war und das Buch nicht weglegen wollte und welche, in denen das Buch seine Glaubwürdigkeit verlor. Dabei ist die Mischung interessant. Es entzieht sich trotz der Vampirfrage dem Fantasygenre und bleibt irgendwo zwischen mit Historic Fiction angereichertem Realismus. In Wikipedia wird es gar als magischer Realismus gelistet, was ich nicht so ganz unterschreiben kann. Ich versuche es stattdessen mal so: der Roman ist für all jene, die sich auf die Suche nach der Frage begeben wollen, ob Dracula wirklich ein Vampir war, aber mit dem Fantasygenre nicht so gut können.
Wer über die Formelhaftigkeit und blassen Charaktere hinwegsehen kann, wird mit einer Geschichte belohnt, die dafür ganz andere, für mich unerwartete Stärken hat. Sie ist ein schöner Ritt durch die europäische Geschichte, die uns in Rückblicken in das Kalter-Krieg-Europa entführt und die diplomatischen Schwierigkeiten, wenn man zwischen „West“ und „Ost“ reisen will – inklusive Spionage. Wie Paul und seine Tochter zwanzig Jahre später (etwas freier) reisen und europäische Landesküche in Picknicks an historischen Stätten verspeisen hat mir große Lust auf das Besuchen der Schauplätze gemacht. Zu denen zählen Frankreich, Ungarn, die Türkei, die Niederlande. Elizabeth Kostova hat an dem Buch wohl zehn Jahre geschrieben und ja, einiges realhistorisch unterfüttert. Ich glaube ihr gerne, dass das viel Vorbereitungszeit und Recherche brauchte und sie einiges daran akribisch konstruiert hat. Ich glaube aber auch, dass ich Der Historiker noch mehr geschätzt hätte, wenn ich es als Teenagerin gelesen und mich vielleicht besser mit der namenlosen Hauptfigur hätte identifizieren können und damals vielleicht auch andere Ansprüche an meine Literatur gestellt hätte.
Fazit
Musterhaftes Buch mit versteckten Stärken
Besprochene Ausgabe: ISBN 3-8270-0590-6, Bloomsbury Berlin Verlag
Dieser Post ist Teil des Booleantskalenders 2024. Unter dem Link findet ihr alle Türchen, d.h. alle Beiträge aus der Vorweihnachtszeit. 🎄
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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