ausgelesen: Elizabeth Kostova „Der Historiker“

Der Historiker ist so ein Buch, das scheinbar alle schon gelesen haben und dem ein gewisser Ruf vorauseilt. Aber es ist auch eines, dessen Zeit scheinbar vorbei war. Es war keine neue Ausgabe mehr verfügbar, weder auf Deutsch, noch auf Englisch. Durch Glück und Zufall, Schauen zum richtigen Zeitpunkt, fand ich eine gebrauchte Ausgabe, deren einziger Makel war, dass der Einband fehlte. Aber wie heißt es: Never judge a book by it’s cover. Prima. So ganz hat mich der Hype aber nicht angesteckt. Und ich bin mir sehr sicher, dass das anders wäre, hätte ich es vor fünfzehn Jahren gelesen.

In Der Historiker findet unsere junge Erzählerin im Teenageralter gegen 1972 in Amsterdam im Arbeitszimmer ihres Vaters Paul ein Buch, das scheinbar nur leere Seiten hat. Immerhin prangt auf einer ein Drache. Paul ist etwas geschockt, dass ihr das Buch zugefallen ist und wird sehr schweigsam als seine Tochter ihn danach fragt. Trotzdem schafft sie es immer wieder Details aus ihm rauszukitzeln, die eine spannende Geschichte verbergen. Er erzählt ihr davon wie auch er einst als Student mehr durch Zufall das Buch fand und kurze Zeit darauf sein Doktorvater verschwand. Man ging sogar von Mord aus. Paul glaubt nicht daran, fühlte sich damals selber verfolgt und nahm die Spurensuche auf. Seine Tochter brennt darauf zu erfahren wie es weiterging. Doch dann verschwindet auch ihr Vater und die Geschichte bleibt unvollendet. Was bleibt ist das ominöse Buch und eine Menge Briefe Pauls. Sie beschließt es ihm gleichzutun und die Spur aus den Briefen zu verfolgen, um hoffentlich ihren Vater zu finden. Welches Geheimnis birgt das mysteriöse Buch, in dessen Umfeld ständig Leute verschwinden?

Der Roman "Der Historiker" von Elizabeth Kostova steht in einem weißen Regalfach, daneben eine eiserne Lilienstatue.

Während also unsere namenlose Erzählerin eine Reise quer durch Europa auf sich nimmt, um ihren verschwundenen Vater zu finden, versucht sie die Vergangenheit zu rekonstruieren. In den Briefen, die sie gefunden hat, erzählt ihr Vater seinen Rückblick weiter. Nach und nach werden einige Details über das Buch, oder viel mehr die Bücher, enthüllt und ihren Zusammenhang mit einer historischen Figur, die einigen von uns bekannt sein dürfte: Vlad III. Drăculea. Elizabeth Kostova spielt in Der Historiker mit dem Gedanken, dass an der Dracula- und Vampirsage vielleicht doch mehr dran ist. Sie verflechtet die Spurensuche in der Gegenwart und Vergangenheit miteinander dadurch, dass sich scheinbar droht zu wiederholen, was dem Vater der namenlosen Erzählerin passiert ist. Auch sie und ihr Reisegefährte, ein Student, werden verfolgt. Der Historiker ist spannend, aber auch formelhaft.

Dass immer wieder Menschen im Umfeld des Buches verschwinden ist wohl das augenscheinlichste und am stärksten wiederholte Muster im Buch. Es passiert Paul im Rückblick und seiner Tochter in der Gegenwart. In fast jeder Stadt, die sie durchqueren. Dabei trifft es nie Paul oder seine Tochter, aber häufig jenen Menschen, die ihren Weg kreuzen. Andere, die zufällig auch eins der ominösen Drachenbücher besitzen, landen rein zufällig neben ihnen am Nachbartisch im Restaurant. Des Öfteren muss ein Nebencharakter das Zeitliche segnen. So richtig Spaß machen all die Zufälle irgendwann nicht mehr, wirken sehr erzwungen und vorhersehbar. Auch wenn noch mehr Briefe gefunden werden (ruhig mal 40 Buchseiten lange), dann habe ich irgendwann nicht mehr „hurra“ geschrien. Auf stolzen über 800 Seiten laufen sich die Muster tot.

Das heißt nicht, dass Der Historiker langweilig ist, aber es ist eine Berg- und Talfahrt je nach Ausdauer der Lesenden und Lesegewohnheiten. Es gab Passagen, bei denen ich am Haken war und das Buch nicht weglegen wollte und welche, in denen das Buch seine Glaubwürdigkeit verlor. Dabei ist die Mischung interessant. Es entzieht sich trotz der Vampirfrage dem Fantasygenre und bleibt irgendwo zwischen mit Historic Fiction angereichertem Realismus. In Wikipedia wird es gar als magischer Realismus gelistet, was ich nicht so ganz unterschreiben kann. Ich versuche es stattdessen mal so: der Roman ist für all jene, die sich auf die Suche nach der Frage begeben wollen, ob Dracula wirklich ein Vampir war, aber mit dem Fantasygenre nicht so gut können.

Eine Seite des Romans "Der Historiker" von Elizabeth Kostova. Es ist der Beginn des 33. Kapitels. Der erste Buchstabe ist eine geschwungene Majuskel.

Wer über die Formelhaftigkeit und blassen Charaktere hinwegsehen kann, wird mit einer Geschichte belohnt, die dafür ganz andere, für mich unerwartete Stärken hat. Sie ist ein schöner Ritt durch die europäische Geschichte, die uns in Rückblicken in das Kalter-Krieg-Europa entführt und die diplomatischen Schwierigkeiten, wenn man zwischen „West“ und „Ost“ reisen will – inklusive Spionage. Wie Paul und seine Tochter zwanzig Jahre später (etwas freier) reisen und europäische Landesküche in Picknicks an historischen Stätten verspeisen hat mir große Lust auf das Besuchen der Schauplätze gemacht. Zu denen zählen Frankreich, Ungarn, die Türkei, die Niederlande. Elizabeth Kostova hat an dem Buch wohl zehn Jahre geschrieben und ja, einiges realhistorisch unterfüttert. Ich glaube ihr gerne, dass das viel Vorbereitungszeit und Recherche brauchte und sie einiges daran akribisch konstruiert hat. Ich glaube aber auch, dass ich Der Historiker noch mehr geschätzt hätte, wenn ich es als Teenagerin gelesen und mich vielleicht besser mit der namenlosen Hauptfigur hätte identifizieren können und damals vielleicht auch andere Ansprüche an meine Literatur gestellt hätte.

Fazit

Musterhaftes Buch mit versteckten Stärken

Besprochene Ausgabe: ISBN 3-8270-0590-6, Bloomsbury Berlin Verlag

Dieser Post ist Teil des Booleantskalenders 2024. Unter dem Link findet ihr alle Türchen, d.h. alle Beiträge aus der Vorweihnachtszeit. 🎄

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

8 Antworten

  1. Guten Morgen,
    ich habe „Der Historiker“ vor vielen Jahren zunächst als wirklich gut eingesprochenes Hörbuch gehört und war völlig im Bann der Geschichte. So sehr in ihrem Bann, dass ich inzwischen sogar mehrere Ausgaben davon habe.

    Gerade, dass die Charaktere nicht so intensiv ausgearbeitet dargestellt wurden, hat für mich das Mysteriöse weiter unterstrichen. Vieles war nebulös und rätselhaft, das Personal ließ sich genauso wenig greifen, wie anfangs das leere Buch.

    Es hat mich sehr gefreut, dass Du dieses Buch hier vorstellst. Ich habe alle Bücher von Elizabeth Kostova. „Den Historiker“ fand ich am besten. Wobei auch auch „Schwanendiebe“ wirklich toll ist.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Hi Barbara,
      gleich mehrere Ausgaben!! Das ist ja beneidenswert 😀 Ich musste ziemlich lange stöbern und immer wieder schauen, ob mal wieder eine lieferbar ist bis es endlich so weit war. Die Ausgabe da oben habe ich gebracht erstanden. Und wie das eben so ist – tut sich eine Chance auf, dann ist es manchmal nicht nur eine, wo jahrelange Funkstille war. Ein Freund hat mir damals angeboten mir seine Ausgabe zu leihen. Ich wusste bis zu dem Zeitpunkt nicht mal, dass er eine hat.

      Von „Schwanendiebe“ habe ich schon mal bei Jana gehört – da muss ich doch gleich nochmal nachlesen, worin es da geht.

  2. Ich hab das auch ganz gerne gelesen, meine ich mich zu erinnern 🙂 Hier hatte ich drüber geschrieben:
    https://bingereader.org/2021/12/15/15-turchen-the-historian-elizabeth-kostova/
    Ganz liebe Grüße, Sabine 🙂

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      … und ich sehe, dass ich den Beitrag geliked, also auch gelesen habe. 😀
      Für mich war es eher ein Auf und Ab. Manchmal war ich total hooked und hätte am liebsten sofort weitergelesen. Andere Male wollte ich das Buch gar nicht weiterlesen. Deswegen landete das später dann auch in der Kategorie „Bücher, die andere lieber mochten“. Ich war schon darauf vorbereitet, dass einige sagen, dass es ihnen besser gefallen hat als mir, haha. Aber wäre ja auch sonst langweilig.

  3. Toll, dass du ein Exemplar ergattern konntest. Ich habe das Buch damals als Teenagerin gelesen und es gehörte zu meinen Lieblingsbüchern. Vielleicht hätte es bei heutiger Wiederlektüre auch seinen Reiz verloren; ein neueres Buch von Kostova, das in Bulgarien spielt, konnte mich auch nicht mehr so richtig in seinen Bann ziehen. Von „Der Historiker“ sind mir aber insbesondere auch geschichtsträchtige europäische Schauplätze und die langen Zugfahrten in Erinnerung geblieben. Noch heute muss ich jedes Mal an das Buch denken; hat dort nicht eine Figur gesagt, dass man gar nicht richtig reise, wenn man nicht den Zug, sondern das Flugzeug nehme?

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Das mit dem Zitat zum Reisen weiß ich leider nicht oder nicht mehr. Aber ich reise tatsächlich auch sehr viel lieber mit dem Zug und beobachte das Vorbeiziehen der Landschaft. Auf das Reisen und Erkunden von insbesondere Europa macht das Buch halt auch richtig Lust. Das ist für mich die eigentliche Stärke. 🙂

  4. Mein liebster Vampir-Roman. Allerdings ist die Lektüre schon sehr lange her. Wird Zeit, dass ich ihn noch mal lese, um sicherzugehen, dass ich ihn heute immer noch genauso empfehlen kann.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Wenn du dich das traust!? 😉
      Ich finde es auch immer etwas schade, wenn man einen geliebten Klassiker hinterher nicht mehr so mag wie vor dem Reread oder Rewatch. Ich erinnere mich auch an einen Blogpost bei dir, wo du glaube ich auch sehr überrascht wurdest durch das Erlebnis.

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