Sabine habe ich den Tipp zu Tevis‘ „Mockingbird“ zu verdanken. Obwohl ich dachte zur Printausgabe zu greifen, fand es dann doch anders seinen Weg zu mir. Bei Audible* gab es das Buch kurze Zeit kostenlos zum Hören. Solche Zufälle mag ich. Die Besprechung ist spoilerfrei. TW/CW: Suizid.
Es ist ein festes Ritual, dem Androide Spofforth nachgeht. Jedes Jahr steigt er hinauf zum Plateau des Empire State Building, will springen und kann ja doch nicht. Seine Programmierung hält ihn davon ab. Gefangen in einer Welt, in der nichts mehr für ihn überraschend ist, begegnet er Paul und Mary Lou. Paul hat sich selber Lesen beigebracht und in Mary Lou verliebt, die aus ihrem staatlichen Domizil ausgebrochen ist und eigenständig lebt. Beide stechen heraus aus der Masse an Menschen, die von der Automatisierung durch Roboter und Künstliche Intelligenzen abhängig ist. Lesen können die wenigsten. Zahlen kennt kaum noch wer. Zeitangaben werden über Begriffe wie „yellow“ und „blue“ gemacht. Als Paul und Mary Lou beginnen über diesen begrenzten Horizont zu blicken und Spofforths Weg kreuzen, entspinnt sich eine Dreiecksbeziehung, die wortwörtlich alles verändern könnte.
Das klingt etwas nebulös zur Vermeidung von Spoilern, dabei ist der deutsche Titel des Buches allein schon ein herber Spoiler. Es heißt hierzulande Die Letzten der Menschheit und ist schon die Antwort auf die Frage, die sich Paul und Mary Lou beginnen zu stellen: warum habe ich nie außerhalb von Filmen Kinder oder Babys gesehen? Lassen wir das mal hier stehen, da der Spoiler unvermeidlich ist und fragen uns stattdessen wie die Menschheit ihrem Aussterben so nah kommen konnte?
„When literacy died, so had history.“
Für Paul und Mary Lou wird das jedenfalls umso mehr eine brennende Frage, desto mehr sie sich selber bilden und die Welt um sie herum hinterfragen. Überhaupt ist Tevis‘ Mockingbird erstens ausgezeichnete Science-Fiction und zweitens zeigt es den Wert von Bildung. Im Englischen gibt es dafür ein wie ich finde schönes Wort. Literacy, was u.a. Bildung, Belesenheit, als auch Lese- und Schreibfähigkeit bedeuten kann. So ähnlich wie Alphabetismus (nur etwas breiter gefasst), nur dass das Wort scheinbar fast ungebräuchlich ist im Gegensatz zu Analphabetismus. Nie hat ein Buch fassbar gemacht wie befähigend und bereichernd Lesen ist. Hier könnte es eine ganze Zivilisation retten, wird Menschen zu Propheten erheben, führt zu allerlei witzigen Falschannahmen, aber später auch zu erhellenden Erkenntnissen. Lesen ist in Tevis‘ Buch eine Superpower.
Der andere Aspekt ist wie Tevis die fortgeschrittene Computerisierung und Automatisierung auf die Spitze treibt. Das Buch erschien 1980 und macht relativ wenig Annahmen über das Aussehen der Androide und Roboter, die nicht selten als „moron robot“ bezeichnet werden. Den Begriff Künstliche Intelligenz (KI) gab es 1980 schon und Tevis pickte sich verschiedene Vorstellungen dessen heraus. Einerseits den hochentwickelten, fühlenden und von seinem Leben unendlich angeödeten Spofforth. Andererseits eben „moron robots“, die mit sehr begrenzten Fähigkeiten und offensichtlichen Defekten stur ihren Aufgaben nachgehen. Viele davon für eine Menschheit, die es fast gar nicht mehr gibt. Tevis‘ Zukunftsvision ist eine Dystopie, aber keine gewalttätige. Es ist eine absurde. Denke ich an Pauls und Mary Lous anfänglichen Analphabetismus, die Abhängigkeit von Robotern und schaue darauf wie wir KI nutzen, um direkt erstmal die spannenden Dinge des Lebens zu ersetzen (Kunst, Literatur, Musik, Recherche, Programmieren), dann fühle ich diese unheimlich absurde Welt, in die alle Drei hineingeboren wurden. Es ist so als ob sie einen Notausgang suchen, aber keine Türklinken bedienen können.
„That’s better programming than people get, […]“
Ihre Reise auf der Suche nach eben diesem Ausweg aus dem Hamsterrad konfrontiert sie mit allen möglichen Personen und Situationen, wodurch das Buch in der zweiten Hälfte an einen Abenteuerroman erinnert. Mockingbird beinhaltet so viele scharfsinnige Zitate, dass ich bei der Printausgabe wahrscheinlich aus dem Notieren und markieren nicht herausgekommen wäre. Es ist ganz sicher eines meiner Bücher des Jahres.
Gehört habe ich die englischsprachige, ungekürzte Ausgabe aus dem Tantor Audio Verlag, die von Robert Fass und Nicole Poole in verteilten Rollen gelesen werden. Die Fassung kann ich uneingeschränkt empfehlen und überhaupt den Tipp nur weitergeben. Der Titel Mockingbird bezieht sich dabei auf ein Zitat im Buch („Only the mockingbird sings at the edge of the woods.“), das Paul und Mary Lou nicht aus dem Kopf geht, nachdem sie es das erste Mal gehört haben. Ich deute ihn so, dass er (spottend) auf ein ungelebtes Leben hindeutet. Das Abziehbild dessen, was man als Leben bezeichnen könnte. Wer richtig leben will, muss versuchen die Hände nach mehr auszustrecken. Lesen und Schreiben lernen, wenn man auch nur annähernd die Möglichkeit dazu hat.
Für 2027 ist eine Verfilmung durch die Regisseurin Alma Har’el angesetzt und ich würde mich sehr freuen das Buch adaptiert zu sehen. Nicht zuletzt, damit Tevis auch wieder mehr Aufmerksamkeit beschert. Es ist schon witzig wie manch Literatur inklusive ihrer Autor:innen gehyped wird, Walter Tevis‘ Name tauchte aber zumindest in meiner Wahrnehmung wenig auf. Und das obwohl von ihm Bücher stammen, die namhaft verfilmt wurden wie Das Damengambit und „Der Mann, der vom Himmel fiel“. Kanntet ihr Tevis und seine Bücher? Oder doch auch eher die Verfilmungen?
*Bei diesem Beitrag handelt es sich nicht um beauftragte Werbung.
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