„Zeitroman“.
„Zeitroman“, so nennt Thomas Mann seinen Zauberberg, eins seiner Lebenswerke. Ich habe noch nie zuvor etwas von Thomas Mann gelesen. Drei Monate und ein paar Tage – solange habe ich gebraucht, um die 1000 Seiten und damit den Zauberberg zu erklimmen. Thomas Manns Mammutwerk ist ein in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg angesiedelter Roman, dessen Held Hans Castorp seinen Cousin Joachim im Sanatorium Berghof in der Schweiz besucht. Sein Aufenthalt ist für drei Wochen angesetzt, aber bald schon merkt er, dass die Gebirgsluft ein Leiden freisetzt, das in ihm schlummert. Bald schon wird Hans selber zum Patienten, zum „Sorgenkind des Lebens“. Im Sanatorium ist der Alltag der Patienten entschleunigt und abgeschottet. Sie machen Liegekur, essen und reden viel. In dem internationalen Sanatorium tummeln sich verschiedenste Leute wie der Italiener Lodovico Settembrini, der mit seinen ausschweifenden, philosophischen Betrachtungen Hans immer wieder belehrt. Oder auch die ungebildete Frau Stöhr, die ständig Wörter verwechselt und krude Stilblüten zum Besten gibt.
Schon sehr früh macht Joachim Hans klar, dass Zeit auf dem Berghof anders gemessen wird. „Man ändert hier seine Begriffe.“ Settembrini empört sich bei einem seiner ersten Aufeinandertreffen mit Hans, als er erfährt, dass der nur auf drei Wochen zu Besuch kommt. In Wochen würde auf dem Berghof schon gar nicht gerechnet. Settembrini sagt weiter „Wir rechnen im großen Stil – das ist ein Vorrecht der Schatten.“ Und nach genau diesem großzügigen Zeitbegriff schrieb auch Thomas Mann sein den Umfang betreffend episches Werk. Auf den ersten hundert Seiten vergeht gerade mal ein Tag im Leben Hans Castorps auf dem Berghof. Natürlich verändert sich das Zeitempfinden. Nachdem Hans dort als Patient mehr als ein Jahr zubringt, verliert auch der Leser das Zeitgefühl. Und auch Hans. Es gibt einen Punkt, an dem er sich nicht mehr erinnern kann wie lange er eigentlich schon in dem Sanatorium ist. Und so ausschweifend und dekadent geht Thomas Mann auch mit uns um. Er schildert im Bereich höherer zweistelliger Seitenzahlen einfach mal den Kosmos, die Biologie, die Entstehung des Lebens oder erzählt Opernarien nach, die Hans gerade hört. Eine echte Herausforderung aber sind die langen philosophischen Gespräche, zu denen die diversen Humanisten und Theologen einladen. Es gibt Passagen, da sind die Gespräche lehrhaft und regen zum Nachdenken an. Thomas Manns Stil ist fein. Er hat einen reichen Wortschatz und einen feinen und eigentlich auch sehr abwechslungsreichen Schreibstil. Aber er schreibt Schachtelsätze und sehr lange Aufzählungen. In Kombination mit den philosophischen Auseinandersetzungen zu Leben, Tod, Freiheit, Folter und Religion eine Mischung, die die Autorin dieser Buchbesprechung in die Knie gezwungen hat. Obwohl ich Philosophie nicht abgeneigt bin, entglitten mir die Passagen und ehe ich mich versah las ich zehn Seiten mit brain off.
Salonlöwen, oder: „wer bezahlt denn das?“
In einer Diskussion auf Goodreads habe ich die Frage gelesen, ob das Buch seinem epischem Ruf gerecht wird. Ein Goodreads-User antwortete darauf, dass das Buch in punkto Umfang wirklich episch sei, ansonsten aber eher eine Salon-Geschichte. Da kann ich nur teilweise zustimmen. Die Bezeichnung klingt immer etwas trivial. Und so wirkt auch das Buch, wenn man beginnt es zu lesen. Es wird viel Zeit darauf verwendet, um über den Berghof zu reden, wann welches Essen gereicht wird und sich über die anderen Patienten zu mockieren. Charaktere, die viel durch Menschen aus Thomas Manns Leben und dem seiner Frau inspiriert wurden. Durch die Langatmigkeit der Erzählung wirkt es nun leider auch so, als ob sich Thomas Mann vielen, unwichtigen Details widmet und fast jeden Atemzug seiner Charaktere schildert. Als Leser kann man einen gewissen Realismus außerdem nicht abschütteln und fragt sich angesichts der jahrelangen Kuraufenthalte und des ausschweifenden Lebens im Sanatorium: Wer bezahlt denn das? Und genau hier liegt die nicht erkennbare Ironie, die Thomas Mann an den Tag legt.
Die Patienten bekommen im Berghof nicht eine weitere Woche Aufenthalt verschrieben, sondern gerne mal drei Monate oder länger. Joachim scheint der einzige zu sein, den das stört. Er ist ein braver Soldat und möchte zum Dienst ins Flachland entlassen werden. Alle anderen durchleben ihren lethargischen Alltag aus Liegekuren. Sie liegen wortwörtlich den ganzen Tag rum. Sie chillen ihr Leben. Letzten Endes wird Hans Castorp sieben Jahre dort oben bleiben, was Thomas Mann grausamerweise im ersten Kapitel schon andeutet. Natürlich wird ihr Rumliegen nicht nur durch philosophische Gespräche unterbrochen. Das Leben in Langzeit-Reha wird unterbrochen durch ausschweifende und manchmal geheime Feiern. Durch Weihnachten. Durch Tode. Durch Abreisen. Und durch eine Frau, der Hans Castorp erliegt.
„Allein bedenkt! Der Berg ist heute zaubertoll,
Und wenn ein Irrlicht Euch die Wege weisen soll,
So müßt Ihr’s so genau nicht nehmen.“ S. 447 während der Fastnacht
Trotz all der Zerstreuung, der Salonlöwen, zarten Bande und kleinen Kleinkriege, waren die philosophischen Gespräche und die zähe in viele Nebensätze gehüllte Langatmigkeit für mich fast das K.O.-Kriterium. Dieses Gerangel der Salonlöwen war nicht das, wonach ich in dem Buch gesucht hatte – so mein Eindruck in der ersten Hälfte.
Warum denn dann weiterlesen?
Es ist nicht, weil es Thomas Mann ist. Klassiker, Weltliteratur, „Muss man mal gelesen haben“ – das sind Label, mit denen ich mich nicht so besonders abgebe. Ich habe den Roman gekauft, als jemand in meiner Familie sehr krank geworden war und dauerhafte Krankenhaus-Aufenthalte anstanden. Damals konnte unser liebes Familienmitglied nicht mehr sprechen, wegen der Schläuche und Maschinen, an die er angeschlossen war. Wir konnten nicht mal anrufen und sagen „Wir denken an dich“. Da war plötzlich diese Hilflosigkeit. Und die vielen Fragen. Wie konnte das so plötzlich passieren? Er war doch immer kerngesund? Ich dachte der Roman bringt mich irgendwie näher. Näher an das Familienmitglied und näher an die Antworten. Ein Buch, das sich mit Krankheit und Gesundheit, Leben und Tod auseinandersetzt, in einem Sanatorium als Schauplatz – das muss mir doch was sagen und eine Antwort geben können? Aber dann ist nach langem Leiden und eigentlich nach Anzeichen von Besserung unser Familienmitglied plötzlich gestorben. Weit vor seiner Zeit. Ich war auf dem Weg zu ihm, ich kam zu spät. Und sah: wie die Menschen in unserer Familie, die ihm noch viel viel näher standen gelitten haben. Und leiden.
Zu seinem Todestag erinnerte ich mich wieder an das Buch, ein Jahr musste es also in meinem Schrank stehen. Witzigerweise habe ich ungefähr zu der Zeit während des (eher nicht so sehenswerten) Films A Cure for Wellness auch das Buch im Film bemerkt und es kam mir wie ein Wink mit dem Zaunspfahl vor. Dort liest ein Pfleger das Buch. Ich habe mir also irgendwelche Antworten oder Linderung oder irgendwas in der Art davon erwartet. Aber bei all der Dekadenz der Patienten auf dem Berghof, ihren Liegekuren und monatelangen Aufenthalten und dem sich über einander lustig machen und sich in langen Gesprächen über Gott und die Welt belehren, sah es während der ersten Hälfte schlecht aus. Alles was danach kam war meine Sturheit. Es wurde wie eine Mission das Ding zu Ende zu lesen und zu verstehen, was mir dieses Buch sagen will. Und das sture Einfordern der Antworten auf die Frage, warum er gehen musste. Zauberberg und Thomas Mann, jetzt sagt es mir endlich! Viele Freunde wundern sich schon lange auf Instagram, Twitter, Goodreads, im Blog, auf Arbeit warum ich dieses Buch noch lese, obwohl es mir nicht so wirklich gut gefällt. Aber das ist keine Frage von gefallen. Genauso wenig wie man das Buch mit tausend Seiten ‚mal eben schnell lesen kann‘. Ich wollte von dem Buch Antworten und würde es nicht weglegen, bevor ich die nicht habe oder … es eben zu Ende gelesen ist. Aber nach und nach gesellte sich ein anderes Motiv dazu. Verfall. Dekadenz und Verfall. In einer netten, adretten, Geschenkverpackung mit überaus höflicher Sprache, Sahnehäubchen und Kirsche. Aber letzten Endes Dekadenz und Verfall.
„Ihm war, als hätte er mit seinen beiden sehr einfachen Fragen alles mögliche widerlegt und zum Verstummen gebracht, sogar die Republik und den schönen Stil.“ S. 273, Hans Castorp nachdem er Settembrini gefragt hat, wie krank denn sei.
Über Leben und Tod
Es bleibt nicht alles so oberflächlich im Berghof. Und die Oberflächlichkeit ist auch nur ein Mittel um die Dekadenz und Zwiespältigkeit der Menschen zu zeigen. Das Buch ist Satire, aber auf einer sehr heruntergebrochenen und höflichen Ebene. Thomas Mann erlaubt sich Scherze, als er neben Settembrini noch einen zweiten Hobby-Philosophen dazukommen lässt. Einen von der härteren Sorte. Einen regelrechten Philosophie-Terroristen, der auf den Namen Naphta hört. Und als ob das nicht genug wäre auch noch einen Hobby-Philopsoph, der soviele Nebensätze anfängt, dass er keinen Satz zu Ende bringt. (Was für eine Ironie!) Es wird interessanter. Vorrangig dadurch, dass sich ab der Hälfte des Buches die Welt um Hans wieder bewegt. Und das mit Folgen. Es gibt ein Kommen und Gehen. Manche gehen lebendig, andere nicht. Sterblichkeit wird langsam ein Thema. Hans Castorp sieht einmal eine Röntgenaufnahme von sich und bemerkt das erste Mal, „daß er sterben werde“ (S. 304). Das ist kein Spoiler – er wird sich nur seiner eigenen irgendwann eintretenden Sterblichkeit bewusst. Ein Moment, den jeder Mensch irgendwann hat. Und seine Gedanken werden ein Kernelement, selbst als er es schon nach vielen Jahren Aufenthalt zu müde geworden ist sie zu äußern. Ein Traum Hansens hat sogar eine eigene Wikipedia-Seite, die das literarische Element durchanalysiert. Letzten Endes wird der Tod und dessen Gegensätzlichkeit ein ständiger Begleiter am Berghof. Und der Tod tritt auf unterschiedlichste Art und Weise ein. Langsam, unverhofft oder auch mal sinnlos. Nicht jeder am Berghof erliegt Krankheiten.
„Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken“
„Gestatten Sie. Gestatten Sie mir, Ingenieur, Ihnen zu und Ihnen ans Herz zu legen, daß die einzig gesunde und edle, übrigens auch – ich will das ausdrücklich hinzufügen – auch die einzig religiöse Art, den Tod zu betrachten, die ist, ihn als Bestandteil und Zubehör, als heilige Bedingung des Lebens zu begreifen und zu empfinden, nicht aber – was das Gegenteil von gesund, edel, vernünftig und religiös wäre – ihn geistig irgendwie davon zu scheiden, ihn in Gegensatz zu bringen und ihn etwa gar widerwärtigerweise dagegen auszuspielen.“ S. 278, Settembrini über den Tod.
Vielleicht ist der Zauberberg ein Buch, dass ich in 30 Jahren nochmal lese. Oder lieber in 30 Jahren hätte lesen sollen anstatt jetzt. Ich denke nicht, dass ich die philosophischen Diskussionen zu schätzen wusste und ausgeschöpft habe. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich es mit einer bestimmten Intention gelesen habe und die Diskurse waren nicht das, was ich gesucht habe. Es ist in jedem Fall kein einfaches Buch. Und ich fühle mich außerstande zu sagen, ob es ein gutes Buch ist (blödes Schubladendenken). Aber ich habe meine Antwort bekommen. Außerdem habe ich in dem Buch gelernt mit sehr viel Anstand zu fluchen.
„Das ist ja ein rechter Windbeutel“ S. 89
„[…] ein kapitaler Esel offenbar“ S. 156
Fazit
gibt es heute nicht. Man muss das Buch aus einer Überzeugung heraus lesen, ansonsten macht es keinen Sinn.
Exkurs (wegen des ausgedehnten Zeitbegriffs noch mehr Text!)
Tatsächlich begegnete mir Hans Castorp zuerst in einem Anime. In Ghiblis Wie der Wind sich hebt hat Hans einen kleinen Gastauftritt – Hayao Miyazaki, dieser Schelm, hat kurzum Hans zum Überbringer einer Botschaft gemacht und damit die Geschichte Hansens weitergezeichnet. Der Einfluss des Romans ist auch heute noch unverkennbar. Von meinen privaten Beweggründen mal abgesehen.
„Was war das Leben? Niemand wußte es.“ S. 380
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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