Ich gestehe: ich wähle meine Bücher manchmal nach meiner eigenen Lebenssituation. Wenn ich verliebt bin, lese ich gern etwas in dem es um Beziehungen geht. Wenn ich eine sehr stressige Phase habe, darf es gern was entschleunigendes sein. Und in diesem Fall hatte ich eine kleine berufliche Veränderung. Das Titelbild mit dem Knebel anstatt des Schlips im Business-Dress sprach mich besonders an, denn in meinem alten Projekt auf Arbeit nahm der Stress ein ungesundes Level an. Als ich anfing Das Zimmer zu lesen, war ich bereits in einem neuen Projekt. Aber mein Kopf hatte manche Dinge noch nicht verarbeitet, die im alten passiert sind. Der Knebel war also durchaus noch eine passende Metapher. Denn in Jonas Karlssons Das Zimmer geht es um den Sachbearbeiter Björn, der von einer Behörde zu einer anderen wechselt. In der neuen laufen einige Dinge anders als er erwartet und er beginnt sich in ein verlassenes Zimmer zu flüchten. Dort herrscht eine Ruhe und Ordnung, die er im Großraumbüro vergeblich sucht. Aber eines Tages sprechen seine Kollegen ihn darauf an. Sie behaupten, dass es das Zimmer nicht gäbe.
„Ich wollte schnell einer von den Leuten werden, auf die es ankam.“ p. 8
So ähnlich wie oben beschrieben sollte wahrscheinlich der Klappentext des Buches klingen. Tut er aber nicht. Die Inhaltsangaben (auch ausländische) die man zum Buch findet, heben v.A. hervor, dass Björns Kollegen sich furchtbar verhalten. Das ist zwar nicht vollkommen falsch, aber es ist auch nicht korrekt. Zu Beginn des Buches ist es v.A. Björn, der sich furchtbar verhält. Er hält sich für überdurchschnittlich, souverän, ein verkanntes Genie, hält sich für schlauer als alle anderen und sieht seinen beruflichen Aufstieg zum Abteilungsleiter schon so klar vor sich, als ob es Schwarz auf Weiß geschrieben stehen stünde. Seine Kommentare sind arrogant, egoistisch, selbstverliebt und streckenweise chauvinistisch in einem Ausmaß, dass ich mal als narzisstisch und verblendet beschreibe. Er hält sich für so überlegen gegenüber seinen Kollegen, dass man ihn nicht im Traum zum Mitarbeiter des Monats wählen würde. Beim Mittagessen nicht mit ihm an einem Tisch sitzen möchte. Und in der Bahn so tun würde, als ob man ihn nicht sieht. Oder bin ich jetzt gemein? Ja das ist die Frage. Wer ist zu wem fies? Wer mobbt? Die Perspektive ist, was entscheidet, ob man den Klappententext falsch interpretiert hat. Und ob das Buch gut oder schlecht ist. Diese verdammten Grauschattierungen aber auch … .
„Håkan verrichtete seine Arbeit mit der gleichen Lässigkeit wie alle anderen in der Abteilung. Er telefonierte nach Belieben, machte Pausen, wann immer ihm danach war. Hielt längere Zeit den Blick in die Ferne gerichtet, ohne dass dies in irgendeiner Weise mit seiner Arbeit zusammenzuhängen schien. Ab und zu versucht er zudem mit mir zu sprechen. Dann wies ich ihn sanft, aber bestimmt zurück. Meistens mit einer einfachen Handbewegung. Ausgestreckter Arm und gegen ihn erhobene Handfläche. Das funktionierte.“ p. 25 … kommt bestimmt mega gut bei seinen Kollegen an.
Den Klappentext hatte ich so ausgelegt, dass Björn gemobbt wird. Der psychische Druck wird überbordend und er beginnt sich den Raum einzubilden als eine Art Zufluchtsstätte – so meine Annahme. Aber hier ist auch schon eins der Probleme: ich hatte den Klappentext so ausgelegt. Das muss anderen nicht so gehen. Björn wirkte auf mich stattdessen so, als ob eher er selber ein Mobber ist und ich war anfangs beim Lesen des Buches mehr als befremdet von seinem Verhalten. Der Raum ist auch keine Zufluchtsstätte im üblichen Sinn. Er muss vor nichts flüchten. Zumindest wirkt es so auf den Leser. Denn Björn ist ein unzuverlässiger Erzähler. Als die Kollegen anfangen ihn zu fragen, was er da immer im Flur macht, wird deutlich, dass er während er im Zimmer ist, augenscheinlich für die anderen nur vor einer kahlen Wand steht und ins Leere starrt. Oder lügen die Kollegen und haben sich wirklich gegen ihn verschworen und wollen ihn als unzuverlässig und nicht belastbar darstellen? Das ist es nämlich was Björn denkt, als sie ihn darauf hinweisen was er eigentlich tut. Wer sagt nun die Wahrheit? Wer lügt?
„Alles war geputzt. Abgestaubt. In Reih und Glied. Es sah ein wenig arrangiert aus. Vorbereitet. Als warte dieses Zimmer auf jemanden.“ p. 15
Unzuverlässige Erzähler waren schon immer ein schlaues Mittel um die Leser zum diskutieren zu bewegen. Dass Björns Selbstwahrnehmung gestört ist, steht außer Frage anhand solcher Kommentare wie …
„So aber brachte er mich dazu, mich dumm und verunsichert zu fühlen, obwohl ich in Wahrheit einer der cleversten in unserem Büro war.“ p. 16
„Außerdem machte John einen so hoffnungslos unansehnlichen Eindruck. Was sollte dieser Mensch mir geben können? Was ich nicht schon hatte? Es würde sich nachteilig auf mein Image auswirken, Kontakt zu einer dermaßen blassen Gestalt aus der älteren Generation aufzunehmen und dadurch augenblicklich selbst mit den Farblosen assoziiert zu werden.“ p. 18 … was für ein Charme-Bolzen
Ein Narzisst wie er im Buche steht. Oder ist er einfach besonders verzweifelt? Wenn er das ‚Zimmer‘ nicht aufsucht, ist er nervös und fahrig. Nicht mal in dieser Situation kann man eindeutig sagen, dass er sich das Zimmer nur aufgrund eines tiefschürfenderen Problems einbildet. Schließlich könnte es auch sein, dass die Beschuldigungen seiner Kollegen wirklich ein ausgefeiltes Mobbing sind. Wie man das nun deuten mag, liegt im Ermessen des Lesers. Meine Deutung ist, dass Björn sich das Zimmer tatsächlich einbildet. In diesem Fall passen aber flächendeckend die Klappentexte und Zusammenfassungen nicht. Woran mag das liegen? Sehe ich die Dinge falsch oder ist das Buch über einen psychisch-labilen Mobber einfach schwerer zu verkaufen als das Buch über jemanden, der ein Opfer ist? Aber vielleicht ist es ja das Sonderausstattungsmerkmal dieses Buches? Mit dieser Deutung wäre das Buch die aus der Ich-Perspektive und Wahrnehmung eines Soziopathen mit ernsthaften halluzinatorischen Störungen geschriebene Sicht auf die Geschehnisse und damit ziemlich interessant. Björns Charakter zu erkunden und dahinter zu steigen was real ist und was nicht, war für mich das besondere am Buch und der eigentlich Grund, warum ich es sehr schnell ausgelesen habe. Nicht der Schreibstil. Der wirkt etwas hölzern, wobei mir als Leser in solchen Fällen nie vollkommen klar ist, ob es von Sprache zu Sprache überhaupt gut zu transportieren ist bzw. nur die Übersetzung so hölzern ist. Auch darauf ist es schwierig eine Antwort zu finden.
„‚Jetzt lass mal gut sein‘, sagte ich zu ihm, als er mit einem weiteren Heft zu mir kam und auf meine Aufmerksamkeit pochte. ‚Könntest du es jetzt bitte mal gut sein lassen?’“ p. 11
Fazit
Ein extrem zweischneidiges Schwert. Bitte nicht als Ratgeber nutzen für irgendwelche Probleme am Arbeitsplatz. Wenn in der richtigen Stimmung gelesen bietet es aber viel Stoff zur Diskussion.
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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