Ich habe mich immer gewundert, warum der deutsche Titel gefühlt so anders klingt als der Originaltitel The Man from the High Castle. Nach Lesen des Buches bin ich verblüfft. Er passt eigentlich besser als der Originaltitel – zumindest empfinde ich das so. Die Antwort warum das so ist, liegt in all den Bestandteilen des Buches, die die Amazon-Serienadaption ausgelassen hat. Deswegen muss ich heute einen Spagat ganz anderer Art veranstalten. Das wird ein langer Artikel, der versucht dieses Buch zu ergründen und erklärt, warum seine Serien-Adaption nicht funktioniert.
„Die Regeln eines fünftausend Jahre alten Buches“ (Buch-Besprechung)
In der Welt von Philip K. Dicks Roman haben Deutschland und Japan den zweiten Weltkrieg gewonnen und die Welt quasi unter sich aufgeteilt. Schauplatz des Geschehens ist hauptsächlich die USA, deren Westküste in japanischer Gewalt ist, während der Osten von den Deutschen besetzt ist. In der Mitte befindet sich eine unabhängige Pufferzone. Das Buch behandelt die Schicksale mehrer Menschen der Westküste und Pufferzone, die ineinander greifen und sich gegenseitig beeinflussen, obwohl die Protagonisten es teilweise gar nicht wissen. So geht es beispielsweise um Frank Frink, der versucht zu verbergen, dass er Jude ist und sich zusammen mit einem Kollegen selbstständig machen will. Sie wollen Schmuck designen und verkaufen. Währenddessen begegnet Frinks Ex-Frau Juliana einem italienischen Trucker, mit dem sie eine stürmische Affäre beginnt. Robert Childan ist Besitzer eines Antiquitätenladens an der Westküste, der v.A. dadurch lebt, dass die japanischen Besatzer/Zuwanderer die amerikanische Vorkriegs-Kultur feiern. Rudolf Wegener ist eigentlich Agent der deutschen Abwehr, der mit einer geheimen Mission an die Westküste reist und dort auf Mr. Tagomi trifft, den Leiter der Japanischen Handelskommission und fürchten muss aufzufliegen.
Im Zentrum des Geschehens steht auch das Buch Die Plage der Heuschrecke von dem Autor Hawthorne Abendsen, von dem behauptet wird, dass er in einem gut bewachten Schloss auf einem Berg wohnt, um sich wegen seines kontroversen Buch gegen die Außenwelt zu schützen. Sein Buch ist so brisant, dass es an der Ostküste verboten ist, sich aber an der Westküste einer großen Beliebtheit erfreut. Es schildert eine alternative Realität, in der Deutschland und Japan den zweiten Weltkrieg verloren haben. Die Idee zündet einen Funken im Kopf vieler Leute an, der nicht weg geht und das Leben einiger verändert, aber zumindest in allen Handlungsfäden Erwähnung findet. Wie das Buch ihr Leben verändert, ist auch für die Charaktere sehr deutlich, nicht aber wie sie sich gegenseitig beeinflussen und alles bisher dagewesene umkrempeln.
Die Unterschiede der Welt, die Philip K. Dick in Das Orakel vom Berge erdacht hat, werden eher beiläufig eingestreut und verblüffen trotzdem. Der Autor hat recherchiert und lässt viele in der Realität im zweiten Weltkrieg verstorbene Schlüsselpersonen wiederauferstehen und hohe Positionen bekleiden. So ist es hier auch Deutschland, das die ersten Erkundungen zu Mond und Mars vornimmt und mit der Raumfahrt und Technologien wie Flugtechnik durchstartet, während das Fernsehen beispielsweise hinten an steht. Es ist faszinierend und erschreckend diese alternative Geschichtsschreibung zu erkunden. Die Erkenntnisse die ich gewonnen habe, über das Buch, den Titel und die Serienadaption sind interessant. Das Buch ist interessant. Ich habe es gelesen wie ein Messer durch warme Butter geht – so schnell. Aber es verliert und zersetzt sich gegen Ende. So konsistent und interessant diese Parallelwelt ist, so wenig konsistent sind ihre Charaktere. Juliana wird anfangs durch Frank als etwas dümmlich und schwach beschrieben, wirkt aber eigentlich die ganze Zeit über tough und so als ob es nichts gibt, was sie nicht durchschaut, nur um später fahrig zu werden und einem schweren Nervenzusammenbruch zu erliegen. Das scheint nicht zusammenzupassen, was daran liegt, dass Philip K. Dick an der Schilderung des Innenlebens seiner Charaktere spart. Man sieht sie meistens „von außen“ und weiß nie wirklich woran man ist. Das ist das weniger angenehme an dem Buch. Wie aus dem Nichts tauchen komplette Kehrtwendungen in Stimmung, Meinung und Geschehen auf. Das dient der Geschichte, aber nicht dem Leser.
„Es ist absurd“, sagte Tagomi, „dass wir nach den Regeln eines fünftausend Jahre alten Buches leben. Wir stellen ihm Fragen, als ob es lebte. Und es lebt tatsächlich.“ S. 77
Tief im Zentrum des Buches stehen die großen Missverständnisse, Lügen, falschen Ideologien, Halbwahrheiten und Fiktion. Sie sind es, die das Verhalten der Charaktere unverständlich machen und sie sind es auch die dafür sorgen, dass sich kranke Ideologien durchsetzen. Robert Childan beispielsweise muss erkennen, dass er zum Großteil mit gefälschter Ware handelt. Dass er als Antiquitätenhändler das nicht gemerkt hat, stürzt ihn in eine Sinnkrise. Oder nehmen wir den Autor von Die Plage der Heuschrecke, der angeblich auf einem hohen Berg lebt. Die Wahrheit sieht etwas anders aus. Das waren kleine Beispiel aus der Fiktion für Fiktion, die einen Einzelnen überlistet hat. Es gibt auch ein großes realweltliches Beispiel für fiktive Annahmen, die ganze Länder beeinflusst haben: das Voranschreiten des Nationalsozialismus und des Dritten Reichs bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Eine Fiktion, eine Ideologie, die alles umstürzte, woran Menschen bisher glaubten. Und viele nahmen diese Ideologie bereitwillig an, viele aus Angst. Das Buch (und die Bücher im Buch) beweisen wie viel Macht Fiktion hat. Oder wieviel Verantwortung. Denn neben Die Plage der Heuschrecke gibt es noch ein anderes Buch, das alle beeinflusst. Das I Ging, ein Orakel voller Weisheiten, das fast alle Charaktere fast wie Süchtige vor jeder größeren Entscheidung zu Rate ziehen. Sie lassen ihr Leben durch Fiktion entscheiden. Darum geht es hier – Das ist eine späte Erkenntnis und eine hart erkaufte. Das Buch liest sich gut, lässt einen aber mit ratlos-machenden, offenen Handlungsfäden zurück. Es ist faszinierend und liest sich spannend. Es hat eine Botschaft, die so meta ist, dass sie das ganze Buch zu „meta“ macht. Kein Wunder, dass es so bekannt ist und Philip K. Dick so bekannt gemacht hat. Aber es ist für den Leser kein durch und durch zufriedenstellendes Buch. Dafür sind die Charaktere zu wenig greifbar und noch schlimmer: man erfährt nicht, was aus ihnen wird. Die Geschichte ist einfach zu Ende als sie ihre Botschaft hinausgespuckt hat: wieviel Macht wir Fiktion geben.
„Das ist ein Prozess. Wir können nur dadurch auf den Ausgang Einfluss nehmen, das wir uns immer wieder neu entscheiden.
Wir können bloß hoffen. Und uns bemühen. Auf irgendeiner anderen Welt ist es vielleicht anders. Besser. Gut und Böse klar unterschieden. Nicht dieses obskure Gemenge, dessen einzelne Bestandteile man kaum zu entwirren mag.
Wir haben keine ideale Welt wie wir sie uns wünschen, wo das Gutsein leichtfällt, weil das Gute so leicht zu erkennen ist. Wo man mühelos das Richtige tut, weil es offensichtlich ist.“ S. 258
„Edelweiß, Edelweiß“ (Vergleich zur Serie)
Was ich der Serie nicht verzeihen kann, ist dass sie die Macht der Fiktion nicht in diesem Ausmaß rüberbringt und die Feinheiten des Buches ausspart. Das I Ging ist das eigentlich stärkste Beispiel dafür, dass Menschen von Fiktion magisch angezogen werden, v.A. dann wenn es ihnen Entscheidungen abnimmt. Die Serie hingegen spart aber das I Ging großflächig aus. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich nur die erste Staffel der Serie bewerten kann und die zweite nie gesehen habe. Anfangs könnte man meinen, dass es mehr die Vorgeschichte zur Handlung des Buches erzählt. Schließlich sind Juliana und Frank noch verheiratet in der Serie und lieben bzw. liebten sich, während sie im Buch schon lange geschieden sind und nicht mehr viel Gutes am anderen sehen. Und das ist nur das offensichtlichste Beispiel. Im Grunde gehen aber Adaption und Buch komplett andere Wege. Ob die Serie noch an dem Punkt ankommt, die das Buch vorgibt, kann ich leider nicht sagen und werde die Serie auch nicht weiterschauen, es also auch in Zukunft nicht beantworten können.
Von außen betrachtet, sieht es so aus, als ob die Serie diesen Spagat noch schaffen könnte. Aber sie hat wesentlich mehr Charaktere eingeführt und die Handlung politisch aufgeblasen. Frank wird plötzlich in die Enge getrieben und muss Entscheidungen globalen Ausmaßes treffen, Juliana deckt Verschwörungen in ihrer eigenen Familie auf und Joe Blake ist sehr lose an Joe Cindella angelehnt, aber eigentlich ein vollkommen anderer Charakter. Die Plage der Heuschrecke ist ein Film und kein Buch, was im Kontext einer Fernsehserie wiederum mehr Sinn macht, um die Meta-Ebene zu kleiden. Es kommt mir etwas voyeuristisch vor wie die Serie Szenen nutzt und ihre Zuschauer damit schockt wie diese alternative Welt aussieht. Wie unsere Welt aussehen könnte. Beispielsweise die Szene in der Joe Blake fragt wie es sein kann, dass es zu dieser Jahreszeit schneit und ein Mann ihm antwortet, dass es kein Schnee ist, sondern die Asche der Verbrennungsöfen eines Konzentrationslagers. Damit konzentriert sich die Serie auf vollkommen andere Dinge als das Buch. Es nimmt das schockierende und das offensichtliche: die Welt wie wir sie nicht wollen. Aber es lässt die Botschaft außer Acht, die uns gut tun würde: vergiss bei all der Fiktion, all den Meinungen nicht dein Gefühl, deine Meinung, deinen eigenen Kopf. Lass dein Leben nicht von Unwahrheiten dirigieren. Und bevor es zu Verwirrungen kommt: Edelweiß heißt der Opening-Song der Serie, dessen Ursprung eigentlich im Musical-Film The Sound of Music liegt.
„Das Orakel vom Berge“ (Gedanken zum Ende des Buches, Achtung SPOILER)
Obwohl das Ende um Juliana und Joes konfuse Reise zum Anwesen der Abendsens schockierend ist und leider sehr wirr geschrieben, ist die Aussage dieser Szenen ein Ende mit der Wucht eines Bombeneinschlags. Es stellt sich heraus, dass das wegweisende, visionäre Buch Die Plage der Heuschrecke eigentlich vom Zufall geschrieben wurde. Abendsen hat alle Entscheidungen rund um das Buch und die Handlung Stück für Stück beim I Ging erfragt. Es sind Weissagungen eines Orakels, die das Buch geformt haben. Das erklärt auf wunderbare Weise den Titel des Buches und ist ein Twist, der mit Verachtung auf die Leichtgläubigkeit der Menschen von einem hohen Berg süffisant herabschaut und mahnt. Das Ende finde ich genial, der Weg dahin und Julianas Nervenzusammenbruch sind hingegen schwer zu fassen. Natürlich ist ihre Lage extrem und extreme Situationen verursachen mitunter extreme Reaktionen. Aber es dient nicht unbedingt der Sache und lässt einige der wenigen Heldinnen hysterisch und ambivalent wirken. Ich frage mich aber wie die Serie die Kurve kriegt und dieses bombastische Ende inszenieren will, wenn es den Kern des Ganzen, das I Ging bisher ausgespart hat. Ich schätze die Antwort liegt in der lähmenden Länge der Serie.
Fazit
Ein Buch mit einer faszinierenden, erschreckenden und mahnenden Idee; das aber den Leser fordert und stellenweise wirr geschrieben ist (möglicherweise mit oder ohne Intention)
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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