Da habe ich das Buch kaum aus der Hand gelegt, da juckt es mich ja schon etwas in den Fingern Gefährlich Geliebte doch noch zu lesen. Die meisten wissen wahrscheinlich Bescheid über das Zerwürfnis des Literarischen Quartetts und den Krach, der letzten Endes Sigrid Löffler dazu brachte auszusteigen. Gestritten wurde eben über Haruki Murakamis Buch Gefährliche Geliebte, damals noch in einer Ausgabe, die aus dem Amerikanischen übersetzt wurde. Als ich 2017 mal einen Vortrag von Ursula Gräfe hörte, die heute so ziemlich alles von Murakami übersetzt, schlaute sie das Publikum auf und der Gedanke liegt nahe: Übersetzungen von Übersetzungen von Übersetzungen werden selten besser oder kommen dem Original näher. Es ist wie mit Kopien von Kopien von Kopien. So erschien das Buch nochmal in der Übersetzung von Gräfe (ich gestehe ich bin inzwischen ein „Ursula Gräfe“-Fangirl) und unter einem Titel, der auch dem Originaltitel im Japanischen entspricht: Südlich der Grenze, westlich der Sonne. Es kann schon sein, dass die Publicity die der Krach ausgelöst hat, das Buch umweht und ich gestehe, dass einer der Gründe ist, warum ich so neugierig auf das Buch war. Aber es gibt auch keinen Murakami, den ich nicht lesen will. Und nach dem Lesen des Buches muss ich sagen: Nichts ist unpassender als der alte Titel Gefährliche Geliebte.
Südlich der Grenze, westlich der Sonne handelt von Hajime, der im Nachkriegsjapan als Einzelkind aufwächst und wenig Anschluss findet. Als er das hinkende Mädchen Shimamoto kennenlernt, ist das ein neues Gefühl. Jemand, der ihn durch und durch versteht. Er kann ihr alles erzählen und erst später wird er merken, dass er sie liebt und es bitter bereuen, dass er nicht über seinen Schatten gesprungen ist und sich nach dem Umzug seiner Familie nicht mehr Mühe gegeben hat mit ihr den Kontakt zu halten. So verliert er die einzige Freundin, die er je hatte, aus den Augen. Viele Jahre und Beziehungen später hat Hajime sich ein Leben aufgebaut. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder, führt erfolgreich mehrere Jazz-Bars und ist nach einer langen Durststrecke scheinbar in seinem Leben angekommen. Da taucht eines nachts in seiner Bar Shimamoto auf. Eine Begegnung, die alles ändert, woran Hajime bisher glaubte.
„Mein Geburtstag fiel auf den 4. Januar 1951, also in die erste Woche des ersten Monats zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aufgrund dieses denkwürdigen Datums erhielt ich den Namen Hajime, was „Anfang“ bedeutet. Ansonsten war an meiner Herkunft nichts Bemerkenswertes.“ p. 7
Hajime ist wie viele Protagonisten Murakamis ein ziemlich normaler Typ, der seine Makel hat und im Gegensatz zu anderen Charakteren aus Büchern Murakamis durch Zufälle und Bemühungen ein gutes Leben führen kann, ohne sich Sorgen über Geld zu machen und eine interessante Geschichte erzählen kann wie er zu seinem Namen kam. Hajimes Konflikt ist von Beginn an, dass er sich nicht mit anderen verbunden fühlt und schwer Beziehungen aufbauen kann – bzw. der in einer Umwelt lebt, in der das nicht möglich scheint. Denn wir wissen: dazu gehören meist Zwei. Er fühlt sich den meisten Menschen nicht nah und hat sich selten verliebt. Da gab es natürlich Shimamoto, zu der er den Kontakt verlor, die er aber nie vergessen hat. Dass Beziehungen eine Art Verantwortung mit sich bringen und man durch seine Taten das Leben anderer ruinieren kann, war eine Erkenntnis, die ihn hart getroffen hat. Eigentlich ist es seine erste Freundin Izumi, der er weh tat, die er betrogen hat. Aber was das mit Izumi angerichtet hat, wozu er im Stand war, wird ihn lange verfolgen und sein Selbstwertgefühl schmälern. So begleitet der Leser Hajime und sieht wie er wieder in einen Konflikt gestürzt wird, als er Jahre später glücklich mit Yukiko verheiratet ist, aber plötzlich Shimamoto auf den Plan tritt.
„Sie sah mich lange an. In Ihrem Ausdruck war stets etwas, was anderen Menschen zu Herzen ging. Etwas Sinnliches, als würde sie ihrem Gegenüber liebevoll Schicht um Schicht die zarte Haut vom Herzen ziehen.“ p. 18
Im Grunde verlangt Shimamoto nichts von ihm, aber ihre alleinige Anwesenheit rührt etwas in ihm. Die Jahre der Einsamkeit und des Gefühls, dass ihn niemand versteht, haben etwas in ihm hart und kalt gemacht und nur Shimamoto scheint dieses Gefühl zu kennen, ihn vollständig zu verstehen und das nur mit einem einzelnen Blick mitzuteilen. Er steht vor einer ähnlichen Zwangslage wie vor Jahren mit Izumi. Damals war es Sex und Geilheit, wegen der er das Mädchen betrog. Dieses Mal ist es aber Liebe. Er will seine Frau Yukiko auf keinen Fall betrügen, aber er kann Shimamoto nicht vergessen. Es ist noch zu ertragen, wenn er sie sieht. Aber es macht ihn verzweifelt, wenn er sie nicht sieht. Shimamoto ist ein Mysterium. Sie taucht manchmal monatelang auf, wird ein fester Bestandteil seines Lebens, sie sehen sich jeden Tag – es bleibt eine Affäre ohne Sex, ohne Liebesbekundungen, nur eine stille, vielleicht beidseitige Mitwisserschaft. Und dann verschwindet sie für Monate. Irgendwann kann er den Zwiespalt zwischen seiner Frau und Shimamoto nicht mehr leben und nicht mehr so weitermachen und fordert Antworten.
„‚Wenn ich dich ansehe, kommt es mir mitunter vor, als würde ich zu einem fernen Stern aufblicken‘, sagte ich, ‚Dieser Stern ist sehr hell, aber er hat sein Licht schon vor Zehntausenden von Jahren ausgesandt. Vielleicht gibt es ihn schon gar nicht mehr. […] Du sitzt neben mir‘, sagte ich ‚Zumindest scheint es so. Aber vielleicht bist du es auch gar nicht, sondern nur dein Schatten. Und du bist in Wirklichkeit ganz woanders. Oder schon vor langer Zeit verschwunden. Ich weiß es nicht mehr. Strecke ich meine Hand aus, um mich zu vergewissern, verbirgst du dich hinter Wörtern wie „wahrscheinlich“ oder „eine Weile“. Wie lange soll das noch so gehen?’“ p. 179
Es mag ein dünnes Buch sein und eine Geschichte, die man so ähnlich schon zig Mal gelesen oder gesehen hat. Aber Murakami erzählt sie auf eine einzigartige Weise. Er erzählt so sensibel, samtweich und anziehend von der Liebe und Anziehung Hajimes zu Shimamoto, dass man sich (ähnlich wie Hajime?) wie ein Verdurstender in der Wüste fühlt und doch gleichzeitig weiß, dass wenn man von der Quelle kostet, diese versiegt. Es ist wie ein Spiel ohne Gewinner. Shimamoto gewinnen, Yukiko und die Kinder verletzen? Murakami macht den Kampf Hajimes greifbar und gibt der Geschichte, die doch in ihren Grundzügen einfach ist, eine Tiefe, die für die Kurzweiligkeit des Stoffs sorgt. In anderen Worten: ich habe das Buch fast inhaliert, so hat es mich gefesselt. Und dass obwohl ich deutlich mehr ein Fan des surrealistischen Murakami bin. Südlich der Grenze, westlich der Sonne hingegen verzichtet auf surreale Elemente oder magischen Realismus. Oder viel mehr überlässt es dem Leser, ob es diese Elemente gib. Gefährliche Geliebte war ein durchaus unpassender Titel, denn Shimamoto ist eher eine mysteriöse Frau aus Hajimes Vergangenheit. Sie fordert nichts von ihm, sie will nur ein wenig bei ihm sein, nicht seine Geliebte sein. An anderer Stelle wird sie fordern „ganz oder gar nicht“. Sie ist aufrecht und Hajime scheint sie dafür zu bewundern mit welcher Haltung sie ihr Leben meistert. Aber ansonsten weiß auch er nichts über sie.
Je nachdem wie man das Buch liest, kann man hier also entweder über einen inneren Konflikt und Beziehungen lesen, auf die Wirkung, die ein Einzelner auf das Leben der Anderen hat oder vielleicht doch über eine Geschichten mit einem Hauch Surrealismus oder Elemente des magischen Realismus. Murakami trifft wie so oft genau den Ton und Mittelweg, der uns alle Möglichkeiten offen lässt. Damit ist das Buch vielleicht eines, was die meisten Leser oder Murakami-Einsteiger glücklich machen wird. Für alte Hasen gibt es auch hier wieder einige Elemente zu erkennen. Beispielsweise die Erwähnung zahlreicher klassischer Stücke und von Jazz-Musik. Murakami gibt uns immer gerne den Ton vor 🙂 Hajime arbeitet wie auch einst Murakami in einer Jazz-Bar und beide sind zu einem Ähnlichen Zeitpunkt geboren. Man darf sich dazu gerne etwas denken. Auch werden in dem Buch wieder fleißig Schallplatten gehört und man fragt sich, ob Murakami auch so sorgsam mit seinen Platten umgeht wie Shimamoto, die sie einzeln mit einem Pinsel vom Staub befreit und stets am Rand anfasst ohne die Rillen zu berühren? Hält er vielleicht die Schallplatten für eine „in einer gläsernen Flasche eingeschlossene Seele“ (p. 14) so wie im Buch erwähnt? Wer weiß.
Was dem geneigten deutschen Leser aber vermutlich entgeht ist der Boku-Erzähler, den Murakami einst perfektioniert hat. Vielleicht sogar erfunden? Und auch die Anspielungen darauf, dass Hajime ein Einzelkind ist, würde man heute als Leser wahrscheinlich nicht überbewerten. Da war er nun ein Einzelkind, ok, und warum hat ihn das zum Außenseiter gemacht? Wahrscheinlich, weil im Nachkriegsjapan die Bürger vom Staat dazu ermutigt wurden mehrere Kinder zu bekommen. Im Buch wird beschrieben, dass Einzelkinder als kränklich und verhätschelt galten und er deswegen einen schlechten Stand bei den anderen Kindern hatten. Später wird eine Frau zu Hajime sagen, dass er als Einzelkind eigenständiger ist und sich nicht erklärt. Er behält sein Innenleben und seine Gedanken für sich, musste sie nie teilen und ist ein Mensch für sich selbst. Weswegen andere schwer Zugang zu ihm bekommen. Auf Hajime kann das leicht zutreffen. Vielleicht auch auf seine Einsamkeit, die ihn lange quält. Für den Rest möchte die Autorin dieser Besprechung, selbst Einzelkind, keine Mutmaßungen anstellen.
Südlich der Grenze, westlich der Sonne habe ich als einfühlsame, aber unverkitschte Geschichte über das Lieben empfunden. Über das Dilemma, das mit Emotionen kommt. Es ist kein Hexenwerk, jeder kann sich verlieben. Und eben auch zum falschen Zeitpunkt. Unser Leben kann im einen Moment vollständig, richtig und glücklich wirken, zum nächsten Zeitpunkt ist alles anders. Zwar befremden mich persönlich Hajimes Ansichten über das Fremdgehen wie er sie anfangs und in der Mitte des Buches vertritt (dass es nicht schlimm ist, solange keine Liebe im Spiel ist), aber sexuelle und emotionale Schuld werden ein Grundpfeiler des Buches. Und zwar einer, den Murakami in späteren Werken grundlegend anders und irgendwie härter schildert (Stichwort Träume und Sex). Vor Allem ist auch eine Geschichte über das Selbst und Selbstreflexion und nicht zuletzt durch die rätselhafte Geliebte ein spannendes Buch. Welchen Weg werden wir gehen? Und wie glücklich können wir in allen Versionen der Geschichte werden? Das folgende Gedicht ist von Erich Fried, nicht von Murakami, aber es ist so passend.
Nur nicht
Das Leben
wäre
vielleicht einfacher
wenn ich dich
gar nicht getroffen hätte
Weniger Trauer
jedes Mal
wenn wir uns trennen müssen
weniger Angst
vor der nächsten
und übernächsten Trennung
Und auch nicht soviel
von dieser machtlosen Sehnsucht
wenn du nicht da bist
die nur das Unmögliche will
und das sofort
im nächsten Augenblick
und die dann
weil es nicht sein kann
betroffen ist
und schwer atmet
Das Leben
wäre vielleicht
einfacher
wenn ich dich
nicht getroffen hätte
Es wäre nur nicht
mein Leben
Erich Fried
Gedanken zum Buchende
Absatz enthält Spoiler
Das Ende des Buches wirft einige Fragen auf. Zwar ist es kein so krasser Cut wie in Naokos Lächeln, aber es ist wieder einmal ein dezenter Hinweis darauf wie unergründlich das Handeln der Menschen ist oder der Mensch selber. Man lebt in seiner Blase, meint eine Situation einschätzen zu können, sich seiner selbst sicher zu sein, aber oftmals ist es das eben nicht. So dürfte es sich für Hajime anfühlen als Shimamoto dann letzten Endes verschwunden ist. Aber ist sie verschwunden? Man kann es auch so interpretieren als ob Shimamoto nie wirklich aufgetaucht wäre und Hajime in Wirklichkeit alles mit sich alleine ausgemacht hat. Die Geschichte von ihrem Kind, ihre Krankheit nur Umstände, die sie umso geheimnisvoller und anziehender gemacht haben. Vielleicht war gar der Auslöser, dass ihm sein Bekannter von Izumi erzählte? Und die damit verbundene Schuld, die dass in Hajime auslöste. Die Angst, dass er auch seiner Frau so etwas antut. Ein Beweis dafür wäre das Verschwinden des Briefumschlags und der Schallplatte. Vielleicht war alles einzig und allein Hajimes Kampf in seinem Leben anzukommen und letzten Endes glücklich zu werden? Die Forderungen Shimamotos und seiner Frau sich ganz oder gar nicht für sie zu entscheiden, sind schon frappierend ähnlich. Ein wunderbar von Murakami komponierter Gleichklang von starken Motiven und Rollen. Aber das ist einer der wenigen Fälle bei denen ich mich nicht für eine mögliche Deutung entscheiden möchte. Mir gefallen beide.
„‚Und was ist dort, westlich der Sonne?’“, fragte ich. Sie zuckte wieder die Schultern. ‚Ich weiß es doch nicht. Vielleicht nichts. Oder doch etwas. Jedenfalls etwas anderes als südlich der Grenze.‘ p. 186
Im Literarischen Quartett kam man damals zu dem Schluss, dass Shimamoto eine Inkarnation oder Vorausdeutung des Todes ist. Damit kann ich so wie ich das Buch gelesen und verstanden habe nur halb mitgehen. So und da ist nun die im Literarischen Quartett vieldiskutierte Stelle. Ein Ausreißer im sonstigen Ton des Buchs, der aber bewusst gewählt ist. Das dürfte (beim Lesen dieser Ausgabe) klar sein.
„Izumis Cousine und hatten zwei Monate lang so wilden Sex, dass uns fast das Hirn schmolz.“ p. 47
Fazit
Wunderbares Buch über den Effekt, den Menschen auf unser Leben haben – und so auch wir auf das anderer. Übrigens nicht nur für Einzelkinder.
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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