Wir lesen … „Verbrechen und Strafe“ von Fjodor Dostojewski #Dostopie – Erstes Zwischenfazit

Wie neulich angekündigt, lesen Kathrin, Voidpointer, Jana von Wissenstagebuch und ich fleißig Dostojewski(j)s „Verbrechen und Strafe“. Und vor Allem: gemeinsam. D.h., dass ihr unserer Leserei auf Twitter unter dem Hashtag Dostopie folgen könnt. Da der Wälzer eine ganze Menge Diskussionsstoff und viele Facetten zu bieten hat, schieße ich schon mal ein Zwischenfazit der ersten beiden Teile von insgesamt sechs hinaus in die Welt. Herbe Spoiler sind nicht zu erwarten.

Verbrechen …

Dostojewskis Verbrechen und Strafe besteht aus sechs Teilen plus Epilog und Anhang. Auf den über 700 Seiten in einem Buch und über 1000 im anderen (warum die zwei Bücher dazu später) verfolge ich zusammen mit meinen Mitstreitern den Weg Rodion Romanowitsch Raskolnikows, der kurz Raskolnikow oder Rodja genannt wird. Er ist ein ehemaliger Jura-Student in Sankt Petersburg, der aber das Studium abgebrochen hat, weil er die Kosten nicht mehr tragen konnte. Seine Mutter und Schwester sind ebenso schlecht dran. Zu Beginn des Romans ist Raskolnikow bereits in einer Art nervösem Rausch. Stolpert durch die Straßen Petersburgs, murmelt seine Gedanken vor sich hin oder schwimmt in zwiegespaltener Stimmung dahin. Der Grund dafür erschließt sich dem Leser bald: er plant einen Mord. Das Opfer soll die eigenbrötlerische Pfandleiherin Aljona Iwanowna sein, die er in einem Zug auch ausrauben will. Da der Titel des Romans klar macht, dass ein Verbrechen stattfinden wird, ist das denke ich kein wirklicher Spoiler. Obwohl Raskolnikow wirr und wie wie ein blank liegender Nerv alles in seiner Umwelt und an seiner Verfassung übersteigert, geht er die Tat an. Eigentlich schien er nicht in der geistigen Verfassung für einen „perfekten Mord“ zu sein. Andererseits: wie sieht die Verfassung denn aus? Und wie der perfekte Mord? Es passiert. Und es geht einiges schief. Man möchte die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.

Während des Lesens hatten wir zu Raskolnikows Verfassung wie auch seinem Plan eines schmutzigen Mordes mit Beil so unsere ganze eigene Meinung. Entweder hat Rodja einfach wirklich zu wenig Krimis gelesen oder es zeigt sich an unserer Reaktion, dass Frauen (Voidpointer hat sich aus der Unterhaltung bisher rausgehalten) vielleicht doch eher zu sauberen Morden wie mittels Gift tendieren. Ohne das ganze Blut und den Dreck. @Voidpointer, was sagst du eigentlich dazu?? 😉 Wer wären wir, wenn wir nicht auch mal morbides Zeug diskutieren.

… und Strafe.

Das Gedankenspiel beiseite, endet der erste Teil mit einem zutiefst verstörten Raskolnikow. Er empfindet nach der Tat Ekel für sich und hat wortwörtlich den Halt verloren. Scheinbar nicht ganz bei Sinnen trifft er seltsame Entscheidungen und es würde den Leser kaum wundern, wenn er innerhalb kurzer Zeit geschnappt wird. Allerdings zeigt sich sehr bald im zweiten Teil, dass all diese Fehlentscheidungen auch ein Ausdruck seines Fieberwahns sind. Dabei wird offen gelassen, ob er den Mord bereits als Resultat eines Dämmerzustands begangen hat. Dass er es wollte, steht außer Frage. Aber war er auch im vollen Besitz seiner geistigen Fähigkeiten? Nachdem er in seinem Fieberwahn einige Leute aufgesucht und dummes Zeug geredet hat, wird man langsam auf ihn Aufmerksam. Im Buch wird passenderweise von Untergangszynismus gesprochen. Es ist wirklich frappierend wieviel Raskolnikow riskiert. Als er mit dem Selbstmord einer Frau konfrontiert wird, reißt ihn das zuerst nach unten. Danach überwiegt aber ein Gefühl arroganter Erhabenheit. Warum sterben? Bis jetzt ist er ja davon gekommen. Ab diesem Zeitpunkt wirkt es so als ob er alles ausreizt was geht und regelrecht geschnappt werden will. Auch nur, damit es vielleicht endet.

„Das Gefühl eines grenzenlosen Überdrusses, das sein Herz schon auf dem Weg zur Alten bis zur Übelkeit bedrückt hatte, nahm jetzt solche Ausmaße an und äußerte sich so, daß er nicht wusste, wohin er vor seiner Pein fliehen sollte. Er ging wie ein Betrunkener, ohne die Passanten auf auf dem Trottoir zu bemerken, stieß mit ihnen zusammen […]“ p. 15

Rodjas Nerven.

Rodjas Nerven nerven. Ich muss gestehen, dass ich nach relativ kurzer Zeit sehr genervt war von Raskolnikow. Seine irrationalen Handlungsweisen gingen mir zu weit und er selber zu wirr. Damit kann ich nicht. Wenn jemand beschließt jemanden umzubringen und damit eins der schwersten Verbrechen überhaupt zu begehen, dann müsste doch der Verstand entsprechend realisiert haben, was man im Begriff ist zu tun? Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht hat Armut und Mangel Rodja so runtergerockt und in die Verzweiflung getrieben, dass er gar nicht weiß, was er tut. Als Leser weiß man zu dem Zeitpunkt nicht genau, was Rodja so weit getrieben hat. Ich schreibe hier heute zwar über die zwei ersten Teile des Buches, bin aber eigentlich beim Lesen schon im vierten und weiß daher: es gibt noch mehr, was Raskolnikow angetrieben hat was es vielleicht mit der Krankheit auf sich hat. Und das gibt Aufschluss. Dranbleiben lohnt sich. Mal abgesehen davon, dass man wissen will, ob Rodja damit davonkommt.

Petersburger Schmutz

Nicht nur am ambivalenten Raskolnikow selber, sondern auch an den Menschen in seinem Umfeld wird klar, dass Petersburg kein einfaches Pflaster war. Mangel beschreibt die Russische Geschichte gut. Menschen hatten immer Hunger, immer zu kleine Wohnungen, es mangelte an vielem. Und so ist Raskolnikow nicht der einzige ambivalente Charakter. Wir lernen auch Marmeladow kennen, einen ehemaligen Beamten, der dem (seinem Namen nach) süßen Leben aus Alkohol und Sucht so sehr nachgibt, dass er sogar unter Tränen akzeptiert, dass sich seine Tochter prostituieren muss, um die Familie durchzubringen. Und trinkt trotzdem weiter. Ähnlich schwer durchschaubar ist Rasumichin und noch soviele andere. Kein einfaches Pflaster.

„[…] und alles war so vom Branntweindunst durchtränkt, daß man wohl allein schon von der Luft in fünf Minuten betrunken sein mußte.“ p. 18

„Erst weint man, und dann gewöhnt man sich dran. Der Mensch ist ein Lump und gewöhnt sich eben an alles.“ (Raskolnikow über Marmeladow und Sonja, die sich eventuell prostituiert) p. 39

Diese Sache mit den zwei Büchern

Falls ihr euch übrigens fragt, was ich mit den zwei Büchern meinte – ich habe tatsächlich zwei. 🙂 Sowohl die liebe Kathrin hat mir in Erwartung des gemeinsamen Lesens eins zu Weihnachten geschenkt als auch meine Mutter zu Nikolaus. Und ich habe mich über beide sehr gefreut. Da hattet ihr eine exzellente Idee! Und um beiden Büchern Tribut zu zollen, lese ich abwechselnd je einen Teil in dem einen, dann in dem anderen Buch. Das geht ganz gut, nicht zuletzt, weil es dieselbe Übersetzung ist.

Zu den bisherigen Artikeln der Leserunde

01.02. Ankündigung von Kathrin
13.02. Ankündigung hier

Ich muss gestehen: Auseinandersetzung hilft. Wenn ich „Verbrechen und Strafe“ weiter so vor mich hingelesen hätte, dann wäre der eine oder andere Gedanke wie über Rasumichins Absichten und Rodjas Verfassung vielleicht nicht entstanden. Durch den Dialog mit meinen Mitstreitern auf Twitter habe ich jedenfalls mehr hinterfragt als ich das ansonsten wahrscheinlich getan hätte. 🙂 Ich sage: danke dafür! Voraussichtlich schreibe ich nochmal ein Zwischenfazit nach den nächsten beiden Teilen und schließe dann zusammen mit dem Ende des Romans in einer „normalen“ Besprechung. Und ich bin schon sehr gespannt wie das aussehen wird und was meine Mitleser und ich bis dahin an Fundstücken aus dem Buch zusammentragen. 🙂 Habt ihr „Verbrechen und Strafe“ schon gelesen? Was waren oder sind eure Erwartungen an das Buch?

8 Antworten

  1. Liebe Steffi,

    heute habe ich endlich einmal die Zeit gefunden, deinen Artikel zu lesen. Wir ticken das bisher wieder sehr ähnlich! Auch ich finde Raskolnikow sehr anstrengend. Anfangs hatte ich durchaus Mitleid mit ihm, mittlerweile möchte ich ihn aber immer wieder nur kräftig schütteln und einen Eimer mit eiskaltem Wasser über seinen Hitzkopf ausschütten. Wie er mit sich und anderen umgeht, seine impulsive und unberechenbare Art … das ist alles sehr nervig. Mir fällt es auch zunehmend schwerer, sich in seine Gedanken, Meinungen, Entscheidungen und Taten hineinzuversetzen, weil ich immer weniger abschätzen kann, was ihn nun tatsächlich an- bzw. umtreibt.

    Aber auch die anderen Figuren finde ich schwer einschätzbar und inhaltlich bleibt mir bislang zu viel ungesagt. Das stört mich, ehrlich gesagt, sehr an „Verbrechen und Strafe“. Ich spüre beim Lesen, dass Dostojewskij ein guter Geschichtenerzähler ist und ein Gespür für gesellschaftliche Themen und menschliche Abgründe hat, aber irgendwie scheint mir der Roman bisher nicht ganz rund und in allem durchdacht. Bisher kann ich daher auch nicht nachvollziehen, warum es für viele das Lieblingsbuch/ wichtigste Buch ist. Aber ich habe ja noch etwa die Hälfte des Romans vor mir. 😀

    Abgesehen davon muss ich dir zustimmen, was den Austausch auf Twitter betrifft! Ich finde es toll, wie intensiv wir über verschiedene Punkte sprechen und uns in unseren Eindrücken und Einschätzungen ergänzen. Mir hilft das immer wieder, bestimmte Aspekte/ Ereignisse aus einem anderen Blickwinkel zu sehen oder zu verstehen. Ich habe den Eindruck, dass in dem Buch viel zwischen den Zeilen geschieht – und das nehmen wir 4 ganz unterschiedlich wahr und können so ein Gesamtbild zusammenbasteln.

    Liebe Grüße und dir ein schönes Wochenende!
    Kathrin

  2. Avatar von voidpointer
    voidpointer

    Vielen Dank für Deinen Zwischenbericht. 🙂 Ich freue mich ebenfalls über den regen Austausch. Was soll ich zum Morden sagen? Ich denke, Raskolnikow hätte am liebsten seine ganze Schuld, die er seiner Mutter und seiner Schwester gegenüber fühlt, aus sich raus gehackt. Was bindet schon stärker als die Liebe und fühlen sich diejenigen, die nichts erwiedern können, sich nicht schuldig? Wer soll diese Schuld begleichen, wenn man es selbst nicht kann? Irgendwo muss doch ein Schuldiger zu finden sein. Man selbst darf es nicht sein, wenn man die geliebte Person, der Jurist, das Genie, die Hoffnung der Familie doch sein will, doch sein muss.

  3. […] zu den Motiven der Figuren und des Autors anstellen. Miss Booleana hat inzwischen auch einen ersten Zwischenbericht geschrieben, der unsere Gedanken und das gemeinsame Lesen sehr treffend […]

  4. […] von Dostojewskijs „Verbrechen und Strafe“ sind Geschichte. Und ich kann Miss Booleana in ihrem ersten Fazit nur zustimmen: Zum Glück lesen wir das Buch als Gruppe! Denn Dostojewskij kann zwar gut schreiben […]

  5. […] nie. Schließlich habe ich in der Zwischenzeit ganz im Geiste des Russischen Herbstes zusammen mit meinen furchtlosen Mitstreitern Dostojewski(j)s „Verbrechen und Strafe“ gelesen. Und ja, die Leseliste ist verglichen […]

  6. Ich empfand die Ehrlichkeit bei der Schilderung der Probleme mit dem Lesen dieses Werkes als sehr angenehm, denn sehr oft scheinen im Netzt fast nur die großen Dostojewski-Versteher unterwegs zu sein, die sich in Phrasen und Allgemeinplätzen verlieren.
    Sie waren sich nicht zu schade alles anzuführen, was Sie als störend erlebten oder eben nicht so recht einordnen konnten. Un mit dem Feedback wurden Sie dafür belohnt. So macht gemeinsames Lesen Sinn – ohne Selbstbeweihräucherung.

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