Kathrin, Voidpointer, Jana von Wissenstagebuch und ich tun es immer noch – wir lesen gemeinsam Dostojewsi(j)s „Verbrechen und Strafe“. Unseren Gedanken könnt ihr auf Twitter unter dem Hashtag Dostopie folgen. Aber hier soll es schon mal einen weiteren Zwischenbericht geben, der sich dieses Mal dem dritten und vierten Teil des Buches widmet. Leichte Spoiler sind zu erwarten. Und soviel sei verraten: es geht anders weiter als angenommen.
Wann bin ich in eine Telenovela geraten??
Der dritter Teil beginnt mit der Ankunft von Raskolnikows Mutter und Schwester Dunja, die ihn seit Jahren nicht gesehen haben. Das Wiedersehen ist keinesfalls ein so herzzerreißendes wie sie es sich vorgestellt haben. Die Zeichen stehen auf Sturm, da Rodja in dem letzten Brief seiner Mutter erfahren hat, dass Dunja sich mit einem gewissen Luschin verlobt hat, einem Petersburger Hofrat, der sie nun (mit nicht besonders viel Ehrgeiz) nach Petersburg eingeladen hat. Rodja las zwischen den Zeilen, dass Luschin sich Dunja gegenüber als Retter aufspielt und empfindet nichts als Verachtung für ihn. Und er scheint ebenso auf Dunja ärgerlich zu sein, da sie sich aus seiner Sicht quasi verkauft, um den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. Sicherlich spielt auch Zorn und Verzweiflung mit, weil er derjenige sein sollte, der sie ernähren kann – zumindest nach dem damaligen Gesellschaftsbild. Er macht seinem Unmut Luft, am meisten als er Luschin zuvor selber traf.
Der versucht kurz darauf nun wiederum Rodja bei seiner Mutter und Schwester schlecht zu machen, indem er Gerüchte über ihn und Sonja streut. Sonja ist die älteste Tochter Marmeladows, die sich um die Familie durchzubringen prostituiert. Das wird allerdings nur durch die Erwähnung der sogenannten gelben Scheine angedeutet. Tatsächlich beginnt sich zwischen der schüchternen und aufopferungsvollen Sonja und Raskolnikow ein zartes Pflänzchen der Liebe zu entwickeln. Love is all around! Auch Rasumichin findet Gefallen an Dunja. Und das macht den Charakter Rasumichins plötzlich umgänglicher, menschlicher und transparenter. Denn kurz zuvor war man sich noch nicht sicher, was der Kerl vor hat.
Rasumichin glaubt, für Dunja nicht gut genug / ihrer nicht würdig zu sein. Darum beschließt er, sich nicht zu rasieren und „absichtlich schmutzig [zu] sein“. Was für eine Logik… ♀️ #Dostopie
— Phantásienreisen (@Phantasienreise) March 1, 2019
Verdächtigungen gegen Rodja stehen nach wie vor im Raum, aber das mehr oder minder fröhliche Miteinander und „wer mit wem“ und „wer wen nicht leiden kann“ nimmt eine Menge Platz ein. Die überwiegende Mehrheit des dritten Teils wirkt damit wie eine Vorabendserie, und zwar wie eine relativ pathetische durch das Gehabe zwischen Mutter und Sohn, das noch sehr ehrfürchtig und von finanzieller und emotionaler Abhängigkeit geprägt ist. Es ist ein Zeitalter, indem sich Eltern und Kind noch siezen und die Gespräche zwischen Rodja und Dunja eher wie denen zwischen Verlobter und Verlobtem klingen. Man steht anders zueinander als man das vielleicht heute tut. Wie aber auch schon Jana feststellte: die Frauen haben ihren Scheiß deutlich besser im Griff als die Männer. Sie versuchen sich mit Würde durchzuschlagen, die Familie zu ernähren, während die Männer sich selbst vergessen. In einer Gesellschaft, die ihnen das offensichtlich deutlich öfter und bereitwilliger vergibt als Frauen. Aber dazu später.
Hab ich so verstanden. Aber du hast Recht, er stellt sich ja noch als Student vor. Müsste er nicht schon fertig sein? Hmm.
Auch aufgefallen: Mit Geld umgehen können in der #Dostopie eher Frauen, die Haus und Kinder versorgen müssen. Alle anderen lassen ihr Geld in der Kneipe.
— Literaturblog (@Wissenstagebuch) March 1, 2019
Jup. Jetzt weiß ich auch, was @MissBooleana mit ,,Telenovela“ meint. 😀
Warum hat Rasumichin sein Studium eigentlich abgebrochen? Er scheint nicht der Typ zu sein, der sich nicht aus seiner Armut zu befreien wüsste. Viele Kontakte nach oben und so.— Literaturblog (@Wissenstagebuch) March 1, 2019
Jetzt kommen wir mal zu des Pudels Kern
Und der Pudel ist in diesem Fall Raskolnikow. Beim Gespräch in einer Kneipe zwischen dem ermittelnden Staatsanwalt Porfirij, Rodja und Rasumichin gibt es dann aber im dritten Teil des Buches plötzlich doch noch eine überraschende Wendung und einen Blick auf das, was sich in Raskolnikows Kopf abspielt. Bisher kamen die Gründe für den Mord eher kurz. Man reimt sich so zusammen, dass Rodja den Mord wohl begangen hat, weil er hungrig, ausgemergelt und mitgenommen war. Eventuell gepaart mit der Schuld seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten und seine Familie nicht unterstützen zu können. Porfirij weiß aber etwas, das bisher noch niemand zur Sprache brachte. Porfirij hat einen Artikel ausfindig gemacht, den Rodja schrieb als er noch Student war. Der Artikel hat eine Theorie als Gegenstand, wer aus welchen Gründen Verbrechen begehen dürfe.
„Die ‚Gewöhnlichen‘ haben zu gehorchen und keinerlei Recht, das Gesetz zu übertreten, denn sie sind, wie gesagt ‚gewöhnlich‘. Und die ‚Außergewöhnlichen‘ haben das Recht, jedes Verbrechen zu begehen“ und das Gesetz auf jede Weise zu übertreten, eben deshalb, weil sie ‚außergewöhnlich‘ sind.“ p. 349 (Dritter Teil)
Konfrontiert mit dieser Aussage, zieht sich die Schlinge um Rodjas Hals zu. Er versucht sich zu erklären, aber es wird schnell klar, dass er sich für einen Napoleon hält. Einen solchen Außergewöhnlichen, dem es gestattet sein sollte Verbrechen zu begehen, da er noch einen Großes vor sich hat und davon das Allgemeinwohl abhängt. Plötzlich wird einiges klar. Beispielsweise seine Selbstzweifel, Stimmungsschwankungen und der Untergangszynismus. Er hatte wohl von sich erwartet, dass ihm die Bluttat leichter von der Hand gehen würde. Er hatte gar vorhergesagt, dass als moralische Implikation oftmals eine Krankheit mit der Tat eines solchen Außergewöhnlichen einhergeht. Hupsa. Hat er sich jetzt verraten?? Ist also Rodja sein eigener Beweis oder war seine Krankheit psychosomatisch um seine eigene Theorie zu bestätigen? Auch wenn das alles im Gespräch mit Porfirij in der Kneipe ans Licht gebracht wird, klicken nicht die Handschellen (oder was auch immer man damals benutzte). Es braucht wohl handfeste Beweise. Allerdings weiß Rodja jetzt, dass Porfirij was weiß. Das hat schon etwas von Katz-und-Maus-Spiel. Wie passiert das aber auch ständig, dass Roddja mit diesen Menschen zusammentrifft? Er geht halt leider weder dem Tatort, noch der Polizei oder den Behörden wirklich aus dem Weg. MURDER 101: macht es nicht so wie Rodja. Als Leser war ich sehr schockiert, dass jemand so ein elitäres und selbstsüchtiges Weltbild von Leben vertritt. Für ihn sind manche Leben mehr wert als andere. Pfui! PFUI! Möchte ich rufen. Wie will er sowas überhaupt messen? Wer ist Richter? Rodja scheint selbst seinen Schmerz als Beweis seiner schicksalhaften Überlegenheit zu sehen.
„Leiden und Schmerz sind in jedem Fall unabdingbar für ein umfassendes Bewußtsein und ein tiefes Herz. Wahrhaft große Menschen müssen auf Erden unendliche Trauer empfinden, glaube ich.“ (3. Teil., p. 357) Das würde dir so passen, was Rodja? Er will so gern „groß“ sein. #Dostopie
— MissBooleana (@MissBooleana) March 2, 2019
Dann gibt es gegen Ende des dritten Teils noch eine weitere Szene, die bewusst macht, was Verbrechen und Strafe neben all der Telenovela ist. Ist es die Geschichte eines Mannes, dessen größte Strafe die drohende Überführung ist und die Erkenntnis, dass all seine Theorien und sein Weltbild gescheitert sind? Der Nervenkitzel, dass nun evtl gleich mehrere Menschen Bescheid wissen, ist fühlbar und macht das Buch plötzlich wieder spannend.
Und dann wieder die Telenovela.
Als Swidrigajlow, der Mann mit dem unaussprechlichen Namen, auf den Plan tritt, wird es wieder telenovela-lastig. Er war der Hausherr auf dem Anwesen, in dem Dunja als Gouvernante arbeitete und mit dem sie vielleicht ja, vielleicht auch nicht, was hatte. Klar, dass er nicht ohne Grund in Petersburg ist. Das Buch besteht zu 40% aus Szenen in denen Leute Rodja besuchen und mit ihm rumquatschen. Er hat keinen Job, aber offenbar genug zutun. Was Swidrigajlow so alles über Frauen zu wissen glaubt, ist frappierend. Allerdings ist er nicht ganz so naiv, arrogant und oberflächlich wie beispielsweise Luschin. Er ist ein gerissenes Schlitzohr und ab der ersten Minute ist klar, dass Rodja auf der Hut sein sollte. Im vierten Teil kommt es dann auch zum Aufeinandertreffen Luschins, Dunjas, ihrer Mutter und mit Rodja, den Luschin eigentlich nicht sehen will und zu einer Entscheidung zwischen Dunja und Luschin. So ein richtig schöner Vorabendserien-Konflikt. Zumindest ein Story-Arc endet hier. Fast. Und hier das Best-Of Weisheiten über die Welt aus Sicht einiger schlauer Männer. #Mansplaining
„[…] der Mensch liebt es überhaupt, er liebt es sogar über die Maßen, sich beleidigt zu fühlen, […]. Bei den Frauen aber ist das besonders stark ausgeprägt. Man kann sogar behaupten es sei ihr einziger Zeitvertreib.“ p. 539 #Dostopie Bitte was? Du fängst dir gleich eine!
— MissBooleana (@MissBooleana) March 2, 2019
„Überhaupt zeigen bei uns, in der russischen Gesellschaft, jene Menschen die besten Umgangsformen, die schon einmal Prügel bezogen haben […]“ (Vierter Teil, p.543) #SwidrigajlowsWeisheit #Dostopie Was ein Kotzbrocken
— MissBooleana (@MissBooleana) March 2, 2019
„stellte er sich […] Mädchen vor, sehr jung, sehr hübsch, gesittet, aus guter Familie, gebildet, eingeschüchtert, die außerordentlich viel Schweres erlebt hatte und sich vollkommen unterwarf […]“ (4. Teil, p.587) Drecksack Luschin. #Dostopie Endlich ein Buch zum schimpfen.
— MissBooleana (@MissBooleana) March 2, 2019
Fortschritt/Rückschritt
Ja, natürlich geht die Geschichte noch weiter. Da war ja was mit Raskolnikow und dem Mord. Als Rodja bei Porfirij eigentlich Papierkram erledigen will, kommt es zum Eklat. Er zeigt das volle Ausmaß seiner emotionalen Belastung und Paranoia. Er benimmt sich so, dass er eigentlich festgenommen werden müsste – ich will nicht zuviel über die haarsträubenden Details erzählen. Aber dann …
Dosto kann Cliffhanger. #Dostopie pic.twitter.com/B4i19OnAtg
— MissBooleana (@MissBooleana) February 24, 2019
Über außergewöhnliche und gewöhnliche Menschen
Was dann kommt, behalte ich mal für mich. Aber fest steht: Rodja hatte wirklich bisher mehr Glück als Verstand. Und ich erlebte eine Achterbahn an Gefühlen und Eindrücken während des Lesens. Alles rund um Dunja, Luschin und leider auch Soja fesselte mich nicht besonders. Obwohl Sonja wirklich ein sehr liebenswerter Charakter ist. Ich wollte wissen wie es mit Rodja weitergeht. Davon hätte das Buch gern mehr haben können. Hat es aber nicht. Dass er auch solche „weichen“ Themen beinhaltet, hat mich doch sehr stark verwundert. Wenn man schon viel über ein Buch gehört hat, macht man sich ein Bild. Die Dissonanz, wenn das erlebte nicht zu den Erwartungen passt, ist meist das wirkliche Problem in der Wahrnehmung. Ich dachte es wäre abgründiger, härter und der Hauptcharakter ein armer Teufel. Vielleicht ist Rodja das auch auf der einen Seite. Aber angesichts seiner Theorie über außergewöhnliche und gewöhnliche Menschen verspielt er jegliches Mitleid. Sein Wertesystem ist nicht meins. Aber umso gespannter bin ich wo die Reise für ihn hingeht und ob er nun letzten Endes überführt wird.
Zu den bisherigen Artikeln der Leserunde
01.02. Ankündigung von Kathrin
13.02. Ankündigung hier
27.02. Erstes Zwischenfazit von mir
Ich möchte mich fast für die Länge des Beitrags entschuldigen, aber „Verbrechen und Strafe“ kommt hier in vielerlei Hinsicht in Fahrt – vielleicht nicht spannungstechnisch, aber es bietet viel Stoff zum diskutieren. Darin liegt für mich die Stärke und das Potential, was es zu so einem bekannten Buch macht. Wie habt ihr das Buch an diesen Stellen empfunden? Und wie seht ihr Rodja? Hattet ihr Mitleid mit ihm? Was mir neulich beim Lesen der Beiträge des #TeamDickens aufgefallen ist: man kann durch solche Zwischenberichte sehr gut einen Eindruck dafür bekommen wie sich das Buch anfühlt. Und gerade bei dicken Wälzern oder schweren Themen kann das sehr aufschlussreich sein. Schließlich geht man mit dem Griff zum Türstopper eine Beziehung auf Monate ein. Ich hoffe also wir können euch einen Eindruck vermitteln? 🙂
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