Literarische-Fundstücke: Über das Erbe der Bücher und die Vergänglichkeit des Digitalen (4 Bücher)

Vor Kurzem habe ich vier Bücher gelesen, die unterschiedlicher kaum sein könnten, aber die Aussagen machen, die zusammen betrachtet erstaunlich rund sind. Für mich ein literarisches Fundstück. Und wie so oft, wenn ich etwas derart finde, schreibe ich es lieber auf, bevor ich es vergesse. Denn Vergessen ist hier auch das Thema.

Du sparst dir das Schleppen und die Bücherregale!

Als ich mir vor Kurzem initiiert durch den Buchclub Stephen Hawkings Kurze Antworten auf große Fragen als Hörbuch genehmigte, hat mich eine seiner Ideen sehr geflasht. Er spricht neben allen möglichen anderen spannenden Themen in einem Kapitel über den Fortbestand und die Entwicklung der Menschen und im Zuge dessen über DNA als Informationsträger menschlichen Lebens, der von Generation zu Generation weitergegeben wird. Der clevere Gedanke Hawkings ist, dass Bücher eigentlich die DNA abgelöst haben. Natürlich nicht was die Biologie und Notwendigkeit des genetischen Bauplans betrifft, aber den Informationsgehalt. Die Masse an Büchern, die Menschen im Laufe der Zeit geschrieben haben, enthält einen inzwischen enorm großen Informationsgehalt, mit dem die DNA nicht mehr mithalten kann. Dabei zieht Hawking u.a. heran was für ein Erfahrungsschatz, Moral, Ethik und aufgeschriebene Geschichte darinsteckt, die man gar nicht in DNA auf so direkte Weise kodieren könne. Sondern mehr so von hinten durch die Brust ins Auge, nich‘ war Mr Darwin? Hawking rechnet das sogar anhand der Entropie aus. Und ich kann mir den Gedanken nicht verkneifen, dass Quantität nicht gleich Qualität ist. Aber so oder so fand ich seinen Gedanken sehr genial und kam in meinen bisher etwas über dreißig Jahren Leben nicht auf die Idee, dass DNA „auch nur“ das Weiterreichen von Informationen ist und von dem Datenstrom der alphabetisierten und (mehr oder weniger) zivilisierten Welt eingeholt werden könnte, weil DNA ein von der Natur so ausgeklügeltes, hin-entwickeltes Konzept ist. Zu schade, dass Bücher noch nicht in unser Erbgut übergehen. 😉 Den Gedanken heben wir uns mal für den Moment auf, wo aus mir eine Young-Adult-Dystopie-Autorin geworden ist. LOL. Als er die abermillionen Bücher als Vergleich heranzieht, die da draußen existieren, muss ich an die immer mal wieder aufkommende Debatte Buch mit Duft vs E-Book-Reader denken, die hin und wieder im Buchclub stattfindet.

Buchglück

Der Fakt ist: die Bücher sind jedenfalls da, wenn ich sie in der Hand halte. Physisch präsent. Obwohl ich offenbar ein lebhafter Nutzer des Digitalen bin wie dieser Blog und mein Job beweist, schaue ich nicht nur mit Freude auf das Digitale. Ein bisschen Skepsis ist in vielerlei Hinsicht angebracht. Es frustriert mich einen Film online zu kaufen und nur digital zu besitzen. Einen Ebook-Reader und Ebooks finde ich enorm praktisch, aber irgendwie macht er mich nicht glücklich. Im Gegensatz zum Buch. Hier kommen wir zum zweiten literarischen Fundstück, das dieses Buchglück einfängt. Die Rahmenhandlung von Stefan Zweigs Schachnovelle entführt uns an Bord eines Kreuzfahrtschiffes, auf dem eine Reihe Amateure (das schreibe ich mit viel Liebe) einen arroganten Schach-Weltmeister (nicht mit Liebe geschrieben) herausfordert. Einer der Amateure hat eine Vergangenheit mit der Gestapo. Er war in Isolationshaft und hat sehr stark darunter gelitten. Als er an Bord ist erinnert er sich daran und erzählt seine Geschichte. Er hat die Isolationshaft zunehmend als geistige Aushöhlung und Qual wahrgenommen. Eines Tages muss er irgendwo auf sein nächstes Verhör warten und entdeckt dabei etwas in der Jackentasche einer der Wärter, das er daraufhin beschließt mitgehen zu lassen. Was er entdeckt bringt ihn in Verzückung und macht ihn wieder lebendig.

„Mir begannen die Knie zu zittern: ein BUCH! Vier Monate lang hatte ich kein Buch in der Hand gehabt, und schon die bloße Vorstellung eines Buches, in dem man aneinandergereihte Worte sehen konnte, Zeilen, Seiten und Blätter, eines Buches, aus dem man andere, neue, fremde, ablenkende Gedanken lesen, verfolgen, sich ins Hirn nehmen könnte, hatte etwas Berauschendes und gleichzeitig Betäubendes.“ p.67

Digital ist nicht physisch

Wunderschön. Buch macht glücklicher als DNA. Wie im echten Leben. 😉 Nicht falsch verstehen: er wird verhört wegen seiner Arbeit, nicht seiner DNA. Es wird nie Thema in der Schachnovelle, ob er vor seiner Inhaftierung ein begeisterter Leser war oder eventuell nur so auf das Buch abging, weil er in Isolationshaft von der Langeweile und dem Nichts gequält wurde. (Und der Gestapo.) Aber aus den Zeilen spricht tiefes Buchglück. Man stelle sich vor, dass alle diese Bücher nicht existent wären. Weil sie digital wären. Weil der Ebookreader kaputt ist? Nein, dafür haben sich die Firmen schon was überlegt. Viel schlimmer: weil die Server down sind. Weil sie weg sind, all die Bücher. Denn digital ist nicht physisch. Klar, die Daten sind irgendwo. Aber sie sind nicht menschenlesbar und im schlimmsten Fall nur da, solange der Strom an ist. So halten wir unseren riesigen Berg an Informationen zwar schön klein und tragbar, aber überkommt euch nicht auch manchmal Angst, wenn etwas (App, Smartphone, Blog, Computer, Server, Cluster, Energienetz, Zivilisation) crasht und ihr euch fragen müsst: Wann war doch gleich mein letztes Backup? David Mitchells Die Knochenuhren ist eigentlich ein Fantasy-Roman. Aber einer mit einem enorm starken Zeitgeist. Das letzte Kapitel spielt irgendwann in den 2040er Jahren. Die Zivilisation ist zusammen gebrochen, Umweltkatastrophen waren der Anfang und irgendwann kam Politik dazu. Das Staatengefüge ist unscharf umrissen und es gibt nichts mehr. Kein Internet, Computer nur wenn man Glück hat, ja manchmal nicht mal Strom. Die Protagonistin schaut auf ein ausgeblichenes Foto einiger Menschen, die sie liebt und die nicht mehr leben und bedauert, dass man früher alles in diese Clouds gepackt hat. Denn die Clouds gibt es nicht mehr und alles was dort war ist verloren wie das Foto oder alle anderen Fotos.

Das Ende der Assoziationskette

Nun mag es dort nicht um Bücher gehen, sondern allgemein um Daten. Aber ja, dieses vergängliche des Digitalen hat mich beim Lesen etwas mitgenommen. Man suhlt sich so in seiner Sicherheit. Vielleicht habe ich deswegen lieber Bücher in der Hand? 😉 Ich will eigentlich hier keine Debatte um Ebook-Reader oder „analoges Lesen“ lostreten, es geht wie so oft nur ums Prinzip. Nimmt man Hawkings Rechnung von dort oben, dann würden mit den digitalisierten Büchern und vielleicht auch mit dem Internet unsere erweiterte DNA verschwinden. Soviele Geschichten, Erfahrungen, Gedankenspiele. Die Menschheit wird manchmal nicht schlau aus sich selbst. In Margaret Atwoods Oryx & Crake arbeitet unsere Bezugsperson, der Erzähler und seines Zeichens Antiheld Jimmy zwischenzeitlich für eine Universität und entscheidet dort welche Bücher digitalisiert werden, bevor die Vernichtung ansteht. Da klingeln uns die Ohren, oder? Es ist aber nur eine Randbemerkung. Man weiß nicht ob er von Klassikern der Weltliteratur spricht oder studentischen Arbeiten. Fakt ist, dass die Gesellschaft in der Jimmy aufwuchs eine zivilisierte und kultivierte war. Mit Betonung auf der Vergangenheitsform. Ihre ach so smarten Versuche haben letzten Endes in Atwoods Buch die ganze Menschheit dahingerafft (fast jedenfalls). Als Jimmy dann später einsam und desillusioniert durch die menschenleere Pampa läuft, wünscht er sich das eine oder andere Buch zurück. Es ging mir nicht darum hier zu erklären, dass digitales Lesen böse ist. Jeder muss so lesen wie es am besten passt. Es geht mehr darum, dass Bücher ein Schatz sind und wie so ziemlich alles digitale schnell den Bach runtergehen kann. Dass zufällig diese vier Bücher so eine Kette bilden, fand ich einfach mal schön. Meine Ode an das geschriebene Wort.

Header image/photo credit: Janko Ferlič

Übrigens könnten wir hier sicherlich noch weiter machen. Mir fällt dazu auch Fahrenheit 451 ein, indem sich Menschen freiwillig ihrer „erweiterten DNA“ berauben, indem sie sich von dem Leid erlösen wollen, dass Bücher bringen (aufwühlende moralische Dilemmas, so many feels, etc.) und die kurzerhand verbrennen. Und wer nicht mitmacht ist ein Staatsfeind. Diese Menschen … . Welche Bücher fallen euch ein, die an irgendeiner Stelle der Assoziationskette ein Glied bilden? Haben schon mal Bücher, die ihr hintereinander gelesen habt zufällig so gut ineinander gegriffen? Wie lest ihr?

5 Antworten

  1. Spannende Sache. Der Gedanke, dass die Cloud irgendwann weg sein könnte, ist mir irgendwie noch nie gekommen. Ich bin ja eine Allrounderin, Mitglied der Büchergilde, aber ich besitze auch einen E-Reader mit vielen Büchern. Für mich ist ein gesundes Mittelmaß wichtig. Ich will echte Bücher, aber ich muss nicht jedes Buch in Print besitzen. Printbücher kaufe ich oft auch nur, weil sie gebraucht günstiger sind als E-Books. Im Regal steht meine illustrierte Herr der Ringe-Ausgabe, auf dem E-Reader lese ich aber auch. Wenn ich ein Buch, das ich in digitaler Form konsumiert habe, ob als Hörbuch oder auf dem E-Reader, besonders liebe, schaffe ich mir eine Printausgabe an. Habe ich z. B. bei „Circe“ von Madeline Miller vor. Aber ich habe auch vor, das überquellende Regal auszumisten. 🙂

  2. Wenn das Gelesene in die DNA übergeht… Sehr spannendes Thema! Ich glaub, das wäre faszinierend, wenn man so auch Wissen und Werte direkt an die Erben weitergeben könnte. Andererseits: Denkt man an das NS-Regime o.ä., würde man das vorherrschende Gedankengut und widerliche Weltbild so auch direkt weitergeben. Also besser doch nicht.

    Den Gedanken mit der Cloud bzw. generell mit digitalen Datenträgern hatte ich auch schon oft. Früher habe ich daher alles doppelt abgespeichert. Inzwischen nicht mehr. Und ja, es wäre schade um all die festgehaltenen Erinnerungen. Aber auch physische Datenträger sind nicht unkaputtbar und verfallen, wie sich gut bei Fotos oder auch Gemälden erkennen lässt.

  3. Ein sehr interessanter Artikel. Ja, digital vs analog oder die Frage, ob und wann Clouds verschwinden – ja, das ist sehr tricky und die Frage schwebt mir auch immer mal wieder im Kopf herum. Ich lese in letzter Zeit mehr analog als digital und das ist auch gut so. Weitergabe im Sinne von DNA durch Bücher – kann ja auch heißen, dass durch Gespräche über Bücher und deren Wirkung/ Gefühle die man für sie hat, gewisse Informationen weitergibt an nachfolgende Generationen, die diese dann wiederum als wichtig, weitergebenswert erachten. Schon alles sehr interessant. Im übrigen: danke für die Buchempfehlung von „Die Knochenuhren“. Kommt auf meine Liste 🙂

  4. Habe ich sehr sehr gerne gelesen und ja, diese Momente habe ich auch manchmal, das Bücher ganz zufällig so zusammen zu passen scheinen oder wie durch einen roten Faden mit einander verwoben.

    Ich bin auch durchaus technik-affin, aber Bücher müssen für mich physisch sein. Ich höre auch ganz gerne Audiobooks und ab und an kommt auch ein bereits gehörtes noch mal physisch ins Haus, weil es einfach so gut war.

    Ganz liebe Grüße, Sabine 🙂

  5. Bei Büchern brauche ich diesem Umblätter-Effekt, den Geruch, die haptische Handhabung (Hand im wahrsten Sinne des Wortes). Digital lesen habe ich ab und an versucht, mir fällt es da aber immer schwer dann weiter zu lesen, weil ich das Buch nicht sehe. Klingt komisch, ist aber so.
    Vielleicht hat mich aber auch dieses ‚durch die Bücherregale einer Bibliothek streifen‘ zu sehr beeinflusst, um jetzt durch digitale Archive zu switchen…

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