Immer öfter denke ich an den Russischen Herbst hier im Blog zurück. Das fast ein Jahr andauernde Leseprojekte und meine ersten Berührungspunkte mit russischen und ukrainischen Autor*innen. Habe ich die Gelegenheit mit Menschen zu reden, die sich auf dem Gebiet besser auskennen als ich, frage ich gern: „Welches Buch empfiehlst du mir?“ Und so bekam ich neulich gesagt: Das Purpursegel. Ob es euch hilft, euch meine Ausgabe zu zeigen? Ich habe sie antiquarisch erstanden. Vielleicht bekommt ihr nicht dieselbe, aber empfehlen kann ich euch die Geschichte allemal.
Alexander Grins „Feerie“ beginnt mit Longren, der nach langer Abwesenheit auf hoher See zu seiner Frau Mary zurückkehren will. Er findet ein Baby, die kleine Assol, und eine Nachbarin, aber keine Mary. Seine Frau verstarb vor Monaten geschwächt durch Krankheit und Armut. Assol ist seine Tochter und Longren schwört, dass er sich um sie kümmern und nicht verlassen wird. Beide halten sich finanziell dank der Spielzeuge über Wasser, die Longren schnitzt und auf dem Markt verkauft. Als er eines Tages ein weißes Schiff mit purpurfarbenen Segeln schnitzt, ist die kleine Assol wie bezaubert von dem Anblick. Ein Märchenerzähler sieht Assol und das Schiffchen und dichtet kurzerhand eine Geschichte von einem großen, echten Schiff mit purpurfarbenen Segeln, das eines Tages kommen wird. An Bord wird ein Prinz sein, mit dem Assol wegfährt und es wird ihr an nichts fehlen. Die Dorfbewohner belächeln Assol und schneiden Longren schon lange. Wird es die Pupursegel am Horizont jemals für die Beiden geben?
„Er verrichtete die Hausarbeit selbstund übte sich geduldig in der für einen Mann ungewöhnlich schweren Kunst der Mädchenerziehung.“ p.8
Der Untertitel der Erzählung ist „Eine Feerie“. Unter Feerie versteht man ein Theatergenre oder Form des Bühnenstücks, die einen fantastischen oder märchenhaften Inhalt hat. Allzu fantasy-lastig wird es in Das Purpursegel nicht, abgesehen von den Träumen Assols, in denen sie je nachdem wie man es auslegen möchte eine Vorahnung hat oder einfach ihre Wünsche versinnbildlicht. Die mit nur 90 Seiten relativ kurze Erzählung liest sich aber wie ein Märchen undzwar wie eines von der Aschenputtel-Sorte, allerdings mit gereifterer Sprache.
Mal abgesehen von der nicht mehr ganz zeitgemäßen aber vielleicht auch augenzwinkernd gedachten Phrase über das Erziehen von Mädchen durch einen alleinstehenden Vater hat Alexander Grin einen wachen Blick für die Gesellschaft. Das Purpursegel handelt zu einem beträchtlichen Teil davon wie ungnändig eine Gemeinschaft jemanden verstößt, dessen Handlung sie nicht verstehen kann oder will. Man muss es nicht gut finden, was Longren tut, aber aus der Reaktion der Gemeinschaft spricht eine Doppelmoral. Auch zarte Charaktere wie Assol, die träumerisch veranlagt sind, werden gnadenlos als „zurückgeblieben“ u.ä. verschrien. Aber es wäre wohl keine „Feerie“, wenn das schon das Ende der Geschichte wäre.
„Hätte er geschrien, hätte er seine Schadenfreude in Gebärden oder sonst irgendwie seinen Triumph beim Anblick des verzweifelten Menners ausgedrückt, so hätten ihn die Fischer verstanden; aber er handelt anders als sie, er handelte geradezu unverständlich, und damit stellte er sich abseits von allen, kurz, er tat das, was nicht verziehen wird.“ p.11-12
Alexander Stepanowitsch Grinewski alias Alexander Grin hat einige Abteneuerromane geschrieben und tatsächlich liest sich auch sein eigener Lebenslauf wie einer. Er war Matrose, vagabundierte durch Gebiete des heutigen Russlands und der heutigen Ukraine und war zeitweise sogar mal Goldwäscher im Ural. Im Gefängnis begann er Kurzgeschichten zu schreiben. Aus dem Purpursegel spricht eine klare Botschaft niemanden zu unterschätzen, nur weil man ihm ansieht oder nicht ansieht wer oder wie er ist. Das Märchen mit dem erwachsenen Ton ist ein starkes Plädoyer für Individualismus und Mitgefühl und war wirklich sehr schön zu lesen. Es wurde als Ballett mit Musik von Wladimir Michailowitsch Jurowski adaptiert und 1972 verfilmt. Wie es der Zufall so will wurde in Russland neulich mit Schiffen mit Pupursegeln der Schulabschluss der Abiturienten in St. Petersburg gefeiert, weil die Segel eine glänzende Zukunft versprechen. Ich mag von der Feierei in Zeiten der Pandemie nichts halten und auch von dem russischen Pathos halte ich nichts. Aber nach dem Märchen kann ich das Märchenhafte an dem Bild verstehen.
„Abi-Feier in Sankt Petersburg: „Purpurrote Segel“ krönen Weiße Nächte“, via euronews (deutsch) (Youtube)
Fazit
Sehr schönes, weitsichtiges Märchen – auch für Erwachsene
Besprochene Ausgabe: insel Verlag
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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