Wollt ihr mal was ganz seltsames hören? Es ist wie ich in unserem Buchclub gemerkt habe sehr schwierig zu erklären wie abgefahren Steven Halls Maxwells Dämon ist ohne dabei zu spoilern. Man kann natürlich darüber reden, aber vielleicht nicht rüberbringen, was so cool daran ist. Aber weder das eine noch das andere gelingt dem Klappentext der deutschen Ausgabe, der einfach mal voller Ungenauigkeiten ist. Sicherlich bemüht in dem Unterfangen den Inhalt irgendwie verständlich und cool anzuteasern, ohne zu spoilern. Was rausgekommen ist, ist nicht grundsätzlich falsch, aber sagen wir mal sehr verdreht. Meine Anmerkungen in kursiv.
„Jungautor Thomas Quinn erlebt einen seltsamen Herbst. Er fühlt sich von einer Romanfigur gestalkt. Vor neun Jahren schrieb sein
MentorAndrew Black (er ist eher ein „Frenemy“) einen überaus erfolgreichen Krimi undverschwand dann spurlos. (Eigentlich liegen zwischen dem Schreiben und Verschwinden Jahre.) Aber nun meint Thomas, Blacks Romanschurken überall zu sehen. Ein geheimnisvolles Zeichenseines Idols? (Die Zeichen die Thomas bekommt, sind zweifelsohne nicht nur von Black und ich bin mir nicht sicher, ob Thomas seinen „Frenemy“ als sein Idol bezeichnen würde.) Thomas macht sich auf die Reise in das entlegene Dorf,in dem er Black zuletzt traf.(Er hat Black dort noch nie getroffen, er fährt erstmalig dorthin und dann verschwindet Black. Das ist schon eher am Ende des Buches.)“ – entnommen der Verlagsseite (Lieber Verlag, falls du das liest, ich will dich nicht rösten. Ich kann mir schon vorstellen, dass das alles nicht so einfach ist mit diesen Klappentexten. Die bekommen halt auch immer wenig Liebe…)
Okay, wenn das alles so ungenau und verwässert ist, was passiert denn nun in dem Buch? Es beginnt mit Thomas Quinn, der selber Autor ist und Sohn eines berühmten Schriftstellers. Allerdings konnte er nie so recht in die Fußstapfen seines Vaters treten und hält sich mit gelegentlichen Franchise-Jobs über Wasser. Sein Vater war allerdings tatsächlich Mentor des Schriftstellers Andrew Black, der einen phänomenal erfolgreichen Roman geschrieben hat. Dass Andrew Black als „geistiger Sohn“ von Quinn Senior bezeichnet wird, war seit jeher schmerzhaft für Thomas. Die Beziehung zu seinem Vater blieb schwierig – bis über dessen Tod hinaus. Während Thomas sowieso mit dem Alltag und Job hadert, bröckelt auch seine Ehe. Er sieht und spricht seine Frau kaum, da sie auf einer Forschungsreise im Ausland ist. Die Distanz der Beiden scheint immer größer zu werden. Als dann plötzlich das Telefon klingelt und er meint die Stimme seines verstorbenen Vaters zu hören, ist das der Beginn eines ziemlichen Mindfucks.
Dann aber beginnt der kryptische Satz seines Vaters am Telefon Sinn zu ergeben. Thomas entdeckt überall um sich herum Zeichen, die mit diesem Satz und seinem Leben zusammmenhängen. Thomas ist clever. Er hat nur wenig Drive sein Leben in den Griff zu kriegen. Und als er sich das Wirrwarr um sich herum anschaut, versucht er es zu erklären und kommt zu einem Schluss, der verblüfft. Dazu zieht er u.a. die Grundkonstanten des Lebens heran. U.A. die Hauptsätze der Thermodynamik. (u.a. „In einem geschlossenen System kann die Entropie nicht abnehmen“, d.h. bspw. Energie verschwindet nicht einfach aus einem System, andersrum aber auch, dass um einen Effekt zu erzielen, immer Energie verwendet, d.h. umgewandelt werden muss.) Was ist aber, wenn es doch etwas gibt, dass das geschlossene System beeinflusst? Etwas Energie gewinnt oder erzeugt, ohne selbst welche aufzuwenden oder zu verlieren? Man spricht dann (extrem vereinfacht) von einem sogenannten Maxwellschen Dämon. (Zum Vergleich ein Perpetuum Mobile wäre ein Maxwellscher Dämon.) Aber wer ist dieser Joker? Sind das etwa möglicherweise Gotteskräfte? Das klingt jetzt weit hergeholt, aber wenn Thomas Quinn sich das anhand der seltsamen Geschehnisse in seiner Umgebung erklärt, macht es Sinn. Und es wird tatsächlich biblische Ausmaße annehmen – die als Ganzes das erste große Element des Romans darstellen.
Da die Mehrzahl der auftretenden Personen Schriftsteller*innen sind, kommen zahlreiche Literaturanekdoten und Dramen aus dem Verlagswesen zusammen. Literatur ist das zweite große Element des Romans. Die Allüren Andrew Blacks beispielsweise, der eBooks verabscheut. Oder auch Thomas Kindheitserinnerungen an seine Lieblingsbücher, die er immer noch hegt und pflegt (bspw. Don Quijote, Stephen Kings Es). Hinzu kommt, dass Thomas die ganze Zeit über mit den Leser*innen spricht, erklärt was ihm widerfährt und damit die vierte Wand durchbricht. In den Wahnsinn aus Verschwörunstheorien reiht sich dann auch noch fast ein Heist-Krimi als Thomas versucht an etwas heranzukommen, das seine finanzielle Situation richten soll. Fast so als ob Steven Hall durch alle Genres in einem einzigen Buch reitet.
Da wundert es kaum noch, dass das erste Element (biblische Ausmaße, die Grundmanifeste des Lebens, der Maxwellsche Dämon) und das Literatur-Thema zu etwas ganz fundamentalem zusammenkommen. Nichts geringerem als der Macht der Worte. Nicht ganz umsonst glaubt Thomas dann irgendwann von der fleischgewordenen Romanfigur aus Andrew Blacks Buch verfolgt zu werden. Das klingt hier wenig greifbar. Einfach weil ich nicht spoilern will. Aber soviel sei gesagt: die Schlussfolgerungen, zu denen Thomas kommt, sind wild. Im Kontext, seinem Mind Palace zuhörend und seinen Schlussfolgerungen lauschend, ist aber nachvollziehbar wie er zu seinen Theorien kommt, was hier abgeht und wie das möglich ist.
„Eine ganze Horde von uns widmet ihr schriftstellerisches Leben – auf jeder vorstellbaren Ebene – dem Fortschreiben von Geschichten, die in unserer Kindheit oder der Kindheit unserer Eltern neu waren, statt selbst neue Welten zu schaffen. Und diese Geschichten sind meist Kindergeschichten, das ist Ihnen doch sicher aufgefallen, nicht wahr? Nicht dass ich ein Snob wäre. Auch wenn ich Herman Melville und B.S. Johnson liebe, ebenso sehr liebe ich Star Wars und Harry Potter. Selbstverständlich tue ich das, wir alle tun das, also krempeln wir die Ärmel hoch und dienen der Marke. […] Es lässt sich nicht ändern. Das ist unsere Welt, und es ist eine Welt der Sequels, Prequels, Remakes und Remakquels.“ p.32
Wie sieht das aber aus, wenn man das Buch liest? Ist das eine Art umgekehrter Goldener Schnitt in dem Tempo, mit dem hier ein Twist den nächsten jagt? Tatsächlich nehmen die gegen Endes Buches mit immer stärkerer Frequenz zu, sodass man es kaum noch aus der Hand legen möchte. Sei es auch nur um zu erfahren, ob das nun wirklich die Wahrheit ist. War es Thomas toter Vater, der ihn angerufen hat? Ist wie der Klappentext versprochen hat Andrew Blacks Romanfigur derjenige, der Thomas stalkt? Ist das die Macht der Worte? Ich sage es wird wild. Und das drückt sich sogar in dem Seitenlayout aus. Das stelle ich mir als Herkulesaufgabe vor das Buch in x Sprachen zu übersetzen und als Hörbuch und das alles abzubilden. Und ich hätte große Lust mit euch über das Buch bis ins letzte Detail abzunerden. Soviel sei aber auch gesagt: es ist höchst weit weg vom Leben, von der Realität, von normalen Beziehungen und mutet stellenweise etwas wahnsinnig an. Aber manchmal ist es wohl das, was man braucht.
Und das ist es. Mehr kann und will ich zu dem Buch nicht sagen. Wenn ihr mich fragt für wen es geeignet ist – einfach für Fans von Fiktion, für Fans von Twists und Literaturnerds, die keine Angst vor wahnwitzigen Ideen haben. Es ist definitiv nichts für Lesende, die ihre Bücher gern wie ihren Alltag haben. Es gibt einen beeindruckenden Abschnitt im Buch, den ich obwohl wir über das Fazit nun eigentlich schon hinaus sind, nochmal hervorheben muss. Dabei handelt es sich um eine Anekdote, die Thomas‘ Verlegerin ihm erzählt und die ganz wunderbar wiedergibt wie mächtig Worte sind. Darin geht es um Klaebers Übersetzung von Beowulf, in der ein und dasselbe Wort für Beowolf und die kämpfenden Männer benutzt wird wie auch für Frauen. Trotzdem wurden in der Übersetzung (durch einen Mann) das Wort für die Männer mit Krieger übersetzt und für die Frauen sinngemäß als Biest, Trollweib, usw. Trotzdem gilt Die Übersetzung als de-Facto-Standard. Und das ist keine Fiktion, sondern ein Fakt, der der Fiktion sehr dienlich ist. Wenn die ganze Chose interessiert, der findet dazu selbst was auf Wikipedia – muss also nichtmal allzu tief tauchen. Die Folgen der „Bedeutungsverschiebung“, die Macht der Worte, wird wie folgt von Thomas Verlegerin auf den Punkt gebracht:
„Weißt du, Grendel und der Drache sind eindeutig als Monster beschrieben, aber nichts in Beowulf deutet darauf hin, dass Grendels Mutter eine ‚monströse Höllenbraut‘ oder ein ‚Trollweib‘ oder irgendetwas in der Art wäre, eigentlich ganz im Gegenteil. Sie ist eine Kriegerin, eine fähige, mächtige Frau, die Beowulf in jeder Hinsicht ebenbürtig ist. Dann kommt unser Mr Klaeber daher – dieser eine Mann […] – und mit ein paar Federstrichen[…], verändert er sie. […] Er nimmt sie jedem Schulmädchen weg, […], die in dieser Welt aufwächst und zu verstehen versucht, was sie sein kann […] und das über fast hundert Jahre hinweg. Vielleicht sogar für immer, denn Worte haben Macht, wenn sie einmal niedergeschrieben wurden.“ p.66
Fazit
Ziemlich wilder Ritt für Fans von Twists, Turns und Literatur aller Coleur.
„Unsere Geschichten sind uns eingeschrieben, nicht wahr? Denken Sie darüber manchmal nach? Die Vergangenheit ist in den Seiten unseres Körpers verwahrt. Wir sind lebendige Geschichten mit tausend langen und kurzen Kapiteln, und jedes Kapitel macht seine Anwesenheit spürbar, jedes Kapitel ist hin und wieder auf seine ganz eigene Weise unruhig.“ p.222
Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-8270-1422-1, berlin Verlag/Piper
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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