ausgelesen: Henry David Thoreau „Walden“

Walden stand schon länger mal meiner Top-Read-Liste. Aber das Gefühl war unkonkret, der Drang nicht so besonders groß. Dann aber war da eine stressige Zeit – alles türmte sich. Arbeit, Privates, Fernweh nach Natur. In einem Film sah ich einen Charakter Thoreaus Walden lesen (und das war nicht das erste Mal). Dann kam der Buchclub mit dem Thema Natur um die Ecke. Der Zeitpunkt rief überdeutlich nach Walden!

„Gegen Ende März 1845 borgte ich mir eine Axt und begab mich in den Wald, wo ich mir am Ufer des Walden-Sees mein Haus zu bauen gedachte; […]“ (p.68) so heißt es nicht am Anfang, aber schon an fortgeschrittener Stelle im Buch. Henry David Thoreaus Walden ist eine Zusammenfassung mehrerer Essays über eben dieses Unterfangen, das Aussteigen Thoreaus. Symbolträchtig nahm er sein Leben am Walden-See dann vollends am amerikanischen Unabhängigkeitstag auf. In seinen Essays widmet er sich bestimmten Aspekten seines Lebens im Wald, beispielsweise den Themen Hauswirtschaft oder der Natur. Was hat er sich davon erwartet? Auch das verbirgt sich irgendwo in den Essays. „Ich bin in den Wald gegangen, weil mir daran lag, mit Bedacht zu leben, es nur mit den wesentlichen Tatsachen des Daseins aufzunehmen und zu sehen, ob ich nicht lernen könne, was es zu lernen gibt, damit mir in der Stunde des Todes die Entdeckung erspart bleibe, nicht gelebt zu haben.“ (p.151)

„Es ist nie zu spät sich von Vorurteilen zu lösen. Kein Denken oder Tun, und sei es noch so althergebracht, kann ohne Weiteres übernommen werden. Was heute jedermann nachspricht oder als selbstverständlich auf sich beruhen lässt, kann sich morgen als falsch herausstellen, als bloßer Schall und Rauch, den man für eine regenspendende Wolke hielt.“

p.15

Vielleicht hatten wir alle schon mal einen Hauch von Zivilisationsmüdigkeit, der uns diesen Aussteigergedanken näher bringt. Debatten, Diskussionen, das Weltgeschehen, der Enge des Zusammenlebens mit anderen in der Gesellschaft oder der stressige Alltag mögen dieses Gefühl auslösen und sorgen dafür, dass die Abgeschiedenheit ab und zu mal sehr attraktiv wirkt. Die einen nennen es digital detox? Nun ja, wie Thoreau sich mit eigenen Händen eine Hütte im Wald baute, spricht schon von einem größeren Vorhaben als sich einen Kurzurlaub zu buchen und das Handy ausgeschaltet zu lassen. Es ist eine ganze Philosophie, die er über ein Jahr reflektiert und hier aufgeschrieben hat – der Transzendentalismus. Wikipedia sagt darüber u.a. „Die Transzendentalisten traten für eine freiheitliche, selbstverantwortliche und naturzugewandte Lebensführung ein“ (Stand 18.05.24) Die Vermittlung und das Reflektieren über diese Lebenseinstellung ist auch ein großer Bestandteil des Buches. Ist Walden also ein philosophisches Werk? Schon. Man lebt zumindest besser damit, wenn man sich dem Buch so nähert.

Manche von Thoreaus Essays widmen sich der Frage wie es sich im Winter am Walden-See lebt oder wie die wenigen, durch viele Kilometer getrennten Anwohner:innen miteinander handeln. In anderen Essays rechnet er zusammen wie viel ihn der Bau der Hütte kostete oder was er für regelmäßige Ausgaben hat (Spoiler: wenige). Gemäß seiner Philosophie zeigt er, dass es wenig brauchte. Das kann beeindrucken. Oder unbeeindruckt zurücklassen, wenn man sich an heutige Preise für Waren und Baustoffe erinnert oder keine Lust hat Bisamratten zu essen. Die Aussteiger-Romantik lebt schon in den Zeilen, aber Thoreau reflektiert auch viel über Arbeit, Materialismus und verströmt einen manchmal ganz angenehmen Ungehorsam. Manchmal aber auch eine eigenbrötlerische Lebenseinstellung, die alle anderen Lebensweisen stark wertet und zumindest für mich nicht gerade nur sympathisch wirkte. Denn: nicht alles funktioniert für alle. Und würde rationale Denke, das nicht auch sehen und andere Lebensweisen nicht werten? Als Frau beispielsweise würde ich es mir schon drei Mal überlegen mich in eine nicht abschließbare Hütte im Wald zurückzuziehen. Medizinische Versorgung wäre auch ganz nett. Vielleicht bin am Ende aber doch ich zu zivilisationsverliebt. Es ist aber v.A. die Abschätzigkeit („Dass einer sein Brot im Schweiße seines Angesichts verdient, muss nicht sein, es sei denn, er gerate leichter in Schweiß als ich.“ p.118), die es mir etwas schwer gemacht hat und bei der ich ganz dankbar bin, dass ich mit Thoreau keine Hütte im Wald teilen muss.

„Das meiste von dem, was meinen Nachbarn als gut gilt, halte ich zutiefst für schlecht, und wenn ich irgendetwas bereue, dann höchstens mein gutes Benehmen.“

p.18

„Die meisten haben sich offenbar nie Gedanken darüber gemacht, was ein Haus eigentlich ist, und sind ihr Leben lang unnötigerweise arm, weil sie glauben, eines wie das des Nachbarn haben zu müssen.“

p.60

Eine kleine Warnung sei also angebracht. Ganz konsequent ist Thoreaus Transzendentalismus nicht. So scheint er doch Vorbehalte gegen bestimmte Völkergruppen zu haben, obwohl Transzendentalisten sich beispielsweise für die Sklavenbefreiung aussprachen und orientalischem Mystizismus Gedankengänge entliehen. Dennoch schätze ich manche seiner Gedankengänge, beispielsweise die des Minimalismus und der Zurückbesinnung, was man wirklich zum Leben braucht. Man muss nicht mit allem einverstanden sein, was Thoreau niedergeschrieben hat. Aber an der Zahl an Zitaten sieht man, dass jede Person in irgendeinem Maß etwas daraus mitnehmen kann. Was ich eigentlich in dem Buch suchte, bekam ich nebenbei auch – Nature Writing. Und wenn Thoreau das Tun eines Eistauchers beschreibt, dann hätte ich das stundenlang lesen können. Sogar, wenn er ihn als einen Dummkopf bezeichnet (p.382). Genauso wie das Eigenleben des Walden-Sees durch alle Jahreszeiten und mit allen Farben, die er darüber hinweg annimmt. Vielleicht war zumindest dieser Teil die Gegenreaktion, die ich gegen das spätwinterliche Grau brauchte. Nun ist es aber so: für Nature Writing gibt es auch sicherlich andere Werke und man muss sich viel durch die Ansichten eines Einzelnen lesen. Was ich sehr mochte: die eher kleinformatige Ausgabe aus dem Manesse-Verlag mit einem interessanten Nachwort und schönem Umschlag.

„Immerhin, von allen Persönlichkeiten, die ich kenne, hat sich der Walden-See vielleicht am besten gehalten […]“

p.312

Fazit

Sicherlich werden Lesende aus dem Buch irgendetwas mitnehmen, aber es hängt davon ab wie nah man sich der Denke des „Transcendental Club“ fühlt.

Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-7175-2508-0, Manesse Verlag

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

9 Antworten

  1. „Walden“ habe ich vor ca. 25 Jahren mal gelesen, nachdem ich „Der Club der toten Dichter“ gesehen habe. Habe es recht positiv in Erinnerung, aber keine Ahnung, was ich heute davon halten würde.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ja das kann manchmal ganz spannend sein, so nach vielen Jahren. Mit so manch Buch/Film/Serie hatte ich eine schwere Zeit, wenn ich mir das nach langer Zeit nochmal zu Gemüte geführt habe.
      Und „Walden“ … tja, ich schätze wie viele Medien hat es eine Zeit, wo es gut wirkt und dann wieder eine, wo man denkt „naja“. Ich war bei „naja“.

  2. Alles, was ich über „Walden“ weiß, habe ich aus Paul Austers Romanen. Da taucht das Ganze ja doch recht häufig auf. Ansonsten habe ich mich immer etwas vor diesem Werk gesträubt… ich weiß nicht, ob das wirklich so was für mich ist. Vielleicht warte ich noch

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ja „Walden“ wird recht häufig in Film, Serie und anderer Literatur referenziert. In Paul Auster Romanen ist es mir ja tatsächlich noch nicht begegnet, aber ich habe bisher auch nur 2 gelesen.
      Aber da frage ich mich ja schon, ob sie sich so 100% auf die Denke einlassen konnten? Müssen sie wohl. Ich würde nichts in meine Medien einbauen, wovon ich nicht 100% überzeugt bin. Aber es war nicht meins. Teilweise, aber eben nicht 100% …

      Von daher denke ich (wenn ich mal so wertend sein darf), dass deine Intuition richtig ist und du da nichts verpasst hast.

  3. Vielen Dank für deine facettenreiche Auseinandersetzung! Du bist die erste Person, die auch mal Kritik am Buch äußert. Überall lese und höre ich sonst immer nur Lobeshymnen auf „Walden“. Ich selbst habe das Buch in meinen 20ern gelesen, kurz nach „Into the Wild“ – u.a. weil „Walden“ den Aussteiger Christopher McCandless sehr beeinflusst hat. Allerdings hat „Walden“ mich damals sehr enttäuscht und frustriert. Ich hatte viel Nature Writing erwartet, was ich so nicht bekam. Irgendwann habe ich nur noch quer gelesen, weil mich seitenslanges Aufführen von Kosten langweilten und die von dir ebenfalls benannten Punkte störten.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ja das alles schreit nach „Into the Wild“. Referenzieren sie in dem Film eigentlich „Walden“? Ich weiß es gar nicht, ist schon zu lange her. Aber es macht auf jeden Fall Sinn. Die Grundgedanken scheinen 1:1 dieselben.

      Na gut, dass wir uns unterhalten! Ich kannte bisher auch nur Lobeshymnen, weswegen ich dann doch etwas überrascht war während der Lektüre und mich immer gefragt habe „und das finden die jetzt alle so toll, ja?“
      Es hat natürlich viele spannende Aspekte, aber die Abschätzigkeit hat es mir am schwersten gemacht. Oder das „Von oben herab“-werten anderer Lebensstile. Das Aufführen der Kosten altert eben zwangsläufig schlecht, aber hat mich noch nicht mal so gestört wie der Rest.

      Nature Writing war ja eigentlich auch das, was ich gesucht habe 😉 Aber das hat mir Ute auf Bluesky schon mal verraten, dass das vielleicht nicht so viel darin vorkommt wie ich hoffe …
      Das was drin war, fand ich aber echt schön.

      1. Gut, dass du dank Ute darauf vorbereitet warst! Das hätte ich mir auch gewünscht 😀
        „und mich immer gefragt habe „und das finden die jetzt alle so toll, ja?““ EXAKT genauso ging es mir auch. Heute frage ich mich, ob so viele das Buch nur deshalb mögen, weil sie den dahinterstehenden Gedanken des Ausbrechens aus der Gesellschaft und des völlig autarken Lebens faszinierend finden.

        Thoreaus Gedankengänge fand ich mitunter auch einfach anstrengend und überheblich – Sympathie konnte ich definitiv nicht entwickeln.

        Hm, ob „Walden“ im Film von „Into the Wild“ aufgegriffen wird, weiß ich gar nicht mehr so genau. Aber ich glaube, dass es zumindest mal gezeigt oder ein Zitat daraus aufgegriffen wird.
        Auf jeden Fall wird im Buch von Jon Krakauer intensiver auf Thoreaus Einfluss auf McCandless eingegangen. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, kritisiert Krakauer auch genau diesen Einfluss: McCandless wollte ja wirklich komplett autark in Alaska leben, vollkommen abgeschottet und unabhängig von anderen Menschen. Thoreau hat ihn sehr inspiriert und quasi suggeriert, dass so ein Leben leicht möglich ist – was aber völlig verklärt und damit fatal für McCandless war. Im Gegensatz zu McCandless hat Thoreau nicht wirklich abgeschottet gelebt – ihm begegneten im Wald ab und zu Menschen und die Entfernung zu anderen Menschen war so gering, dass Thoreau in ein, zwei Stunden wieder in der „Zivilisation“ gewesen wäre. Sprich: Hätte er gemerkt, dass er so unabhängig nicht überleben kann, hätte er aus einer lebensbedrohlichen Situation leicht entkommen können – das war bei McCandless in der Wildnis Alaskas umgeben von Wald und reißendem Fluss im Winter eben nicht möglich.
        Nachdem ich das in Krakauers Buch gelesen hatte, fand ich „Walden“ als klassisches „Aussteiger“-Buch noch schlechter als sowieso schon bzw. habe noch mehr Bauchschmerzen damit, wenn andere dieses Buch so feiern und Thoreau als Aussteiger „romantisieren“/idealisieren.

  4. […] Booleana hat Thoreaus „Walden“ gelesen – und ist die einzige Person in meinem Umfeld (von mir selbst abgesehen), die nicht […]

  5. […] Miss Booleana – Henry David Thoreau: Walden […]

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