Neulich im Kino … Filmbesprechung zu „All of Us Strangers“

Ich hatte schon aufgegeben. Ausgerechnet in meiner Stadt läuft der nicht? „The heck, warum wohne ich dann in einer Stadt, wenn dort nicht die Filme laufen, die ich so gern sehen will?“ (Vorsicht, da spricht meine Kindheit.) Aber dann: eine Vorstellung tauchte im Programm eines meiner Lieblings-Lichtspielhäuser auf! Da gabs kein Halten mehr.

Adam (Andrew Scott) ist Drehbuchautor und versucht gerade über seine Eltern zu schreiben. Nicht mit Erfolg. Jedenfalls bis er in die Londoner Vorstadt fährt, in der er aufgewachsen ist. Seine Eltern verstarben beide bei einem Autounfall als er noch ein Kind war. Trotzdem – als er vor der Tür seines damaligen Elternhauses steht, sind da auch seine Eltern. Um keinen Tag gealtert. Sie bitten ihn herein, wollen alles über ihn wissen, empfangen ihn mit offenen Armen. Die surreale Begegnung wirkt nach. Er kann sowohl über seine Eltern schreiben und gewinnt das Selbstvertrauen Harry (Paul Mescal) anzusprechen, einen Nachbarn, der neulich probiert hat bei ihm zu landen.

All of Us Strangers handelt von Andrews Trauerbewältigung. Es blieb ihm verwehrt den Tod seiner Eltern wirklich zu verarbeiten. Nun steht er da wie er es in dem Film ausdrückt mit einem festen Knoten in der Brust aus all den Gefühlen, die sich darin angestaut haben und all den Erfahrungen, die er nie machen konnte. Vor den Eltern sein Coming-Out zu erleben, (hoffentlich) akzeptiert zu werden, gesagt zu bekommen, dass sie ihn lieben. Weint ihr schon? Bei dem Film tut ihr es mit Sicherheit.

Egal, ob wir das Glück hatten mit unseren Eltern aufzuwachsen und uns mit ihnen zu verstehen oder eben nicht, gibt es diese Erwartungen und Hoffnungen, die mit dem Begriff Familie verbunden sind. Die Wärme und Geborgenheit versprechen. Adam durchlebt all diese verpassten Momente nun mit seinen Eltern. Alles, was der Film hier kanalisiert triggert unweigerlich auch uns als Zuschauende. Ich halte mich nicht für nah am Wasser gebaut, habe aber doch mehrmals die Taschentücher gebraucht. Dabei versucht der Film dankenswerterweise nicht vollständig auszuerzählen, ob es ein surreales Ereignis ist, ein Verarbeitungsmechanismus Adams und seine Eltern somit nicht real sind oder ob sie „Geister“ sind.

All of Us Strangers | Official Trailer | Searchlight Pictures, Youtube

Dennoch würde ich All of Us Strangers nicht als Feelgood-Movie bezeichnen und man ist besser vorbereitet, wenn man nicht mit diesem Label im Kopf in den Film geht. Er betrachtet sehr viel mentale Gesundheit und die ganze Bandbreite auch unangenehmer Gespräche, die sich mit Eltern aufdrängen. Die Reaktionen auf Adams Outing vor seinen Eltern ist sicherlich keine Bilderbuchsituation wie man sich die wünschen würde. Aber umso wichtiger ist der Counterpart von Adams Erfahrung mit Harry. In Adams Einsamkeit preschen zwei Beziehungen und Bilder davon geliebt zu werden so wie man ist. Die high machen können? Die einen tiefer Fall nach dem Hoch sein könnten? Durchaus. Mentale Gesundheit, Verarbeitung von Verlust und Knüpfen neuer Beziehungen steht im Zentrum der Handlung und von Adams Geschichte. In einem wahrhaft herzzerreißenden Finale kumuliert alles.

Andrew Haighs adaptiertes Drehbuch basiert lose auf Taichi Yamadas (in Deutschland offenbar gerade vergriffenem) Roman Sommer mit Fremden und webt eigene Erfahrungen des Regisseurs hinein. Er findet für die Einsamkeit Adams atemberaubende, symbolträchtige Bilder. Er und Harry leben in einem Hochhauskomplex mit wenigen anderen Nachbar:innen. Die Londoner Skyline sehen sie am Horizont. Sie könnten kaum weiter von anderen entfernt sein, kaum isolierter voneinander leben. In ihrem Wohnungskomplex kann man nicht mal die Fenster öffnen, heißt es. Die Metapher jemand anderem die Tür (und das Herz) zu öffnen ist am Ende des Films überdeutlich. Man setzt sich vielleicht Schmerz aus, aber auch mit der Hoffnung auf „The Power of Love“. Der „Frankie goes to Hollywood“-Song ist jedenfalls prominent platziert und in dem Zusammenhang – wunderschön.

Ein etwas schwieriges Geschmäckle hat das auch am Ende, wo das erste Aufeinandertreffen zwischen Harry und Adam nochmal wichtig wird. Zumindest klingeln da auch alle Alarmglocken als dort der verzweifelte und angetrunkene Harry vor Adams Tür stand. Adam bittet ihn anfangs ja nicht herein und tut das auch aus Einsamkeit nicht. Aber auch aus Selbstschutz. Wie bewerte ich das nach dem Ende des Films? Das bringt mich zum Nachdenken, hat vielleicht keine Lösung und beeinflusst meine Wertung (die deswegen nicht höher ausfiel). Also ja, es gibt was zu diskutieren. Zeichen eines guten Films? Auf jeden Fall Zeichen eines Films, der uns was zum Nachdenken mitgibt. Und der nicht nur wegen dieses einen Details, sondern wegen der Summe seiner Teile lange nachhallt.

All of Us Strangers, UK/USA, 2023, Andrew Haigh, 105 min, (8/10)

Sternchen-8

Der Beitrag erscheint zwar etwas spät, mein Kinogang ist schon ein paar Tage her, aber nicht ganz ohne Grund. Er erscheint heute, weil ich es für einen großen Oscar-Snub halte, dass „All of Us Strangers“ ausgespart wurde. Ansonsten scheint es so oder so das Jahr für Andrews Scott zu sein (und seine Fans). Zuerst mit diesem wunderbaren Film, dann mit „Ripley“ im April auf Netflix. Steht schon in meinem Kalender. Hattet ihr auch noch das Glück „All of Us Strangers“ im Kino zu sehen?

2 Antworten

  1. All of Us Strangers hat mir ein ganzes Kino voll schniefender Menschen gegeben der Film geht wirklich sehr ans Herz… und offensichtlich ähnlich wie du, musste ich auch gleich nach dem Roman suchen, bin aber auch nicht fündig geworden.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ja in dem Kinosaal, in dem ich saß, wurde auch einige Male geschnieft und nach den Taschentüchern gesucht. Als die Endroll lief, gab es auch komplett keine Bewegung, weil alle noch etwas gelähmt waren von den Eindrücken.
      Wie hast du aber die Endbotschaft aufgefasst? Ich meine … Fremden eine Chance geben, ja verstehe ich. Aber wenn Fremde betrunken vor deiner Tür stehen? Ich finde das ist echt noch was zum diskutieren.

      Vielleicht wird das Buch ja nochmal auf den Markt geschmissen durch den Erfolg des Films!?

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