ausgelesen: Harper Lee „Gehe hin, stelle einen Wächter“

Harper Lee ging in die Geschichte ein als die Autorin des Südstaaten-Romans „To Kill A Mockingbird“ (dt.: „Wer die Nachtigall stört“), der die Rassendiskriminierung im Alabama der 1930er Jahre aus Sicht der achtjährigen Jean-Louise, genannt Scout, behandelt. Mit kindlicher Naivität hinterfragt Scout nicht nur einmal warum Menschen andere Menschen so schlecht behandeln. Harper Lee wurde Pulitzer-Preisträgerin und sorgte für Kontroversen, weil sie kein weiteres Buch geschrieben bzw. veröffentlicht hat. Ihr Atticus Finch, der Vater von Scout, ist der Archetyp des moralischen Menschen, dem Hautfarben egal sind und der Gerechtigkeit verkörpert und einfordert, aber sogar noch für die mit einem engen Weltbild Verständnis aufbringt. Sie seien schließlich so aufgewachsen, sie können nichts dafür. Das ist eine der atticus-schen Erklärungen. Sehr aufrecht. Dann aber passiert was unerwartetes: ein zweiter Roman namens „Go set a watchman“ (dt.: „Gehe hin, stelle einen Wächter“) von Harper Lee wurde angekündigt. Er sei 1957 entstanden, To Kill A Mockingbird wurde 1960 veröffentlicht. Gehe hin, stelle einen Wächter spielt allerdings nach den Geschehnissen in To Kill A Mockingbird. Eine erwachsene Jean-Louise kehrt darin nach Maycomb, Alabama zurück.

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Was Jean-Louise dort findet ist aber nicht ganz das, was sie erwartet hat. Und auch nicht, was der Leser erwartet. Atticus ist inzwischen arthritisch und das Alter nagt an ihm: es ist nicht mehr alles so leicht wie früher. Deswegen ist auch seine Schwester Alexandra wieder zu ihm gezogen und sorgt mit ihrem starren Kaffeekränzchen-Weltbild für viel Stirnrunzeln bei Scout. Die junge Frau selber arbeitet in New York wo das Leben und die Unterschiede zwischen den Menschen natürlich gehandhabt werden. In Maycomb ist scheinbar die Zeit stehen geblieben. Der Leser sieht das etwas anders: das Ableben eines aus To Kill A Mockingbird liebgewonnenen Charakters macht einem zu schaffen und sorgt dafür, dass sich alles erstmal etwas fremd anfühlt. Man könnte an der Stelle sagen: so spielt das Leben. Kein Stillstand, Veränderungen – überall. Eine solche Veränderung ist auch Henry, der Kindheitsfreund von Scout, der ihr nun einen Heiratsantrag macht. Jean-Louises Leben hat sich schwer verändert. Als sie aber herausfindet, dass ihr Vater und Henry an einer Versammlung ‚besorgter Bürger‘ teilnehmen, gerät ihr Weltbild ins Wanken. Die aufrechten Männer, die sie liebt, hören seelenruhig zu wie dort über Schwarze aufs Übelste hergezogen wird? Sie mit Tieren verglichen und als ’schwarze Pest‘ bezeichnet werden. Ihre Welt bricht zusammen. Wie konnte es passieren, dass diese aufrechten und guten Menschen sich von den Werten abwenden, die Atticus ihr selbst beigebracht hat, als sie noch ein Kind war?

„Die Insel eines jeden Menschen, Jean-Louise, der Wächter eines jeden Menschen ist sein Gewissen.“

Jeder kann sich vorstellen, dass das für Kontroversen gesorgt hat. Man kann nicht eben einfach mal in einem Buch den Archetyp des moralischen Gutmenschen kreieren und im nächsten Buch dieses Monument wieder einreißen. Die Fans haben aufgeschrien und die Gerüchte gingen um. So wird beispielsweise bezweifelt, dass Harper Lee der Veröffentlichung des Buches zugestimmt hat, sie sei zu krank gewesen. Lee litt an den Folgen eines Schlaganfalls. Hier und da fällt sogar das Wort Ghostwriter und steht die Frage im Raum, ob ein solcher das Buch komplettiert hat. Nachdem ich es nun gelesen habe, erhärtet sich für mich der Verdacht, dass es zwar schon Harper Lees Buch ist, aber dass es mehr als unfertig ist. Schlaues Marketing und ein bisschen Sensationsgeilheit könnten da ihre Finger mit im Spiel haben – aber was weiß ich schon? Was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass man Gehe hin, stelle einen Wächter nur schwerlich wie die Fortsetzung zu To Kill A Mockingbird lesen kann. Man ist zwangsläufig enttäuscht über den Wandel der Charaktere, das Ableben eines geliebten Helden, die neuen Figuren, die sich eingeschlichen haben. Es passt nicht ins Weltbild, dass die Vergangenheit in Gehe hin, stelle einen Wächter anders verlaufen ist, als es in To Kill A Mockingbird passierte. Ganz recht: die Versionen der Handlung sind nicht deckungsgleich. Das stößt einen vor den Kopf.

Auch die Kritik der Leser und Atticus-Fans kann ich nachvollziehen, muss aber ermahnen: lest nochmal drüber. Wo ist die Logik, wenn ein Gutmensch wie Atticus plötzlich ein Rassist wird? Im Buch wird erklärt wie es dazu kommt. Und ganz unplausibel finde ich das nicht. Wer sich darüber aufregt, tut schließlich dasselbe wie Scout. Auf über 200 Seiten nur darüber nachdenken und fluchen und schimpfen und sich mit nebulösen Erklärungen abspeisen lassen. Es wird viel geredet in Gehe hin, stelle einen Wächter, aber wenig gehandelt. Bevor Scout endlich mal jemanden darauf anspricht wie der Rassenhass ihre Familie infizierte vergeht einfach so viel Zeit. Und dann nochmal, weil ihr keiner direkt sagen will, was abgeht. Die Geschichte wird zusätzlich künstlich aufgebläht mit Rückblicken in ihre Kindheit. In To Kill A Mockingbird waren die kindlichen Passagen spaßig und eine gelungene Abwechslung zum harten Thema Rassendiskriminierung. Aber hier funktioniert das nicht mehr, denn es macht die ohnehin konfliktarme Geschichte nur noch zäher. Alles wirkt belanglos und Scout hysterisch, wo man doch eigentlich nur wissen will, was faul ist im Staate Alabama. Dabei hat die Geschichte eindeutig ihre Momente und weiß zu fesseln. Aber die Pausen dazwischen sind langatmig und belanglos. Damit war die Rückkehr nach Maycomb für mich kein gutes Leseerlebnis. Durch diese Mängel am Erzählfluss funktioniert Gehe hin, stelle einen Wächter nicht mal als eigenständiges Buch, das man ohne Kenntnis von To Kill A Mockingbird lesen kann. Denn ohne Kenntnis der Vorgeschichte ist Atticus einfach nur ein Mann. Aber das ist ja der Knackpunkt. Das Unerhörte. Das, was Scout erschüttert. Wie kann diese Geschichte funktionieren? Das tut sie nur in Auszügen. Die Aussage, dass Menschen manchmal aus guten Gründen unschöne Maßnahmen ergreifen ist eine Pointe und eine Lehre, aber eine die nur sehr unzureichend und mit viel zu viel Balast erzählt wurde.

Mein Dank geht an dieser Stelle an Kathrin von Phantásienreisen.de. Das Beste an der Leserei war letztendlich unsere gemeinsame Leseaktion. 🙂 Bei To Kill A Mockingbird haben wir das bereits gemacht und jetzt nochmal beim „Wächter“ und es hat mir wieder viel Spaß gemacht. Wir waren diesmal zwar nicht so synchron wie beim letzten Mal, aber ich fand unseren Austausch sehr spannend und sage: gerne wieder! 😀

Fazit

Lest lieber nochmal ‚To Kill A Mockingbird‘.

Zu den Artikel der gemeinsamen Leseaktion:
Kathrin 26.03. Ankündigung
Booleana 06.04. Rückblick Teil I
Kathrin 10.04. Rückblick Teil I
Booleana 13.04. Rückblick Teil II
Kathrin 17.04. Rückblick Teil II

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

7 Antworten

  1. Ich habe schon kurz nach Erscheinen des Buches beschlossen, es nicht zu lesen, und bin inzwischen auch völlig davon überzeugt, dass das die richtige Entscheidung war.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Die vielen negativen Meinungen habe ich eigentlich auch gelesen, aber manchmal muss man sich selber ein Bild machen. Und dann kommt noch die Neugier dazu …

      1. Ja, klar, ich habe auch überlegt, letztlich hat aber meine Liebe zu den Charakteren, so wie sie in dem eigentlichen Buch sind, gesiegt 🙂

  2. Sehr schön auf den Punkt gebracht! Ich kann das alles eigentlich so auch nur für mich unterschreiben. Wie du denke ich mir z.B.wie das Buch ohne den Mockingbird gewirkt hätte. Es ist so schon alles andere als gut und ohne Kenntnis des Mockingbirds wären viele Teile für die Leser völlig effektfrei – der Rückblick auf den Gerichtsfall und die Sache mit Zeebos Sohn wären nichtssagend geblieben und Atticus einfach nur ein Vater, den Scout immer überidealisiert hat; nie wäre rüberkommen, warum Scouts Welt so erschüttert wird… Nein, der „Wächter“ funktioniert auf keinen Fall ohne den „Mockingbird“, mit ihm allerdings auch nicht so recht.

    Es war interessant, zu lesen, was Harper Lee ursprünglich geplant hatte, aber gute Schriftstellerei ist was anderes.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Jepp – Zustimmung in allen Punkten 🙂 Zumindest wir sind uns einig, auch wenn das Buch sehr widersprüchlich war 😉
      Es wird schon ein bisschen ad absurdum geführt was im Mockingbird passiert ist. Zum Beispiel, dass der Gerichtsfall hier angeblich gewonnen wurde. Wo bleibt die Lehre darüber wie verbohrt und vernagelt die Welt ist? Seufzzz … schwierige Kiste.
      Ich hätte ehrlich gesagt nicht erwartet, dass das Buch tatsächlich so weit hinter meinen Erwartungen zurückliegt und für mein subjektives Empfinden so schlecht ist. Beim vorsichtigen Anlesen und Querlesen der Meinungen da draußen in der Welt dachte ich die ganze Zeit, dass die möglicherweise überreagieren. Aber diesmal waren die Aufschreie wohl nicht übereilt.

  3. […] in unserer Runde bekommen! Nachdem Kathrin von phantásienreisen.de und ich im März und April „Gehe hin, stelle einen Wächter“ gelesen haben, soll es nun der Klassiker 1984 von George Orwell sein. Zu uns gesellt sich diesmal […]

  4. […] ein schöneres Erlebnis. Meine Review mit Links zu allen unseren Beiträgen dazu findet ihr hier. Und jetzt gehts in eine neue Runde. Wir lesen diesmal zu dritt 1984 von George Orwell wie Kathrin […]

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