ausgelesen: Neil Gaiman „Niemalsland“

Es gibt so Orte in der Welt an denen lässt man einen kleinen Teil seines Herzens zurück. Oder anders. Man nimmt mehr nach Hause mit, als man bei sich trug, als man ankam. Und damit meine ich nicht zwingend Souvenirs. London war für mich so ein Ort, ein ziemlicher fantastischer. Ich könnte direkt wieder hin. Noch ein bisschen an einem fernen Ort verweilen lässt sich aber dank Büchern sogar ganz gut in die Tat umsetzen. Mir fiel ein, dass auf meiner Liste der sechs Bücher, die ich 2016 unbedingt lesen möchte, eins steht, dass in London spielt. Aber nicht irgendwo in London, sondern in Unter-London. Einem mystischen Ort, der parallel zum geschäftigen Treibern der Millionenmetropole existiert aber für die Augen der Ober-Londoner verborgen bleibt. Einem Ort an dem Raum und Zeit anderen Gesetzen folgen, an dem der giftige Londoner Nebel noch existiert, sich Ritter und Auftragsmörder und Engel rumtreiben. Passt. Außerdem wollte ich dringend mehr von Neil Gaiman lesen, nachdem mich Americans Gods so begeistert hat.

Neil Gaiman "Niemalsland" (Neverwhere)
Neil Gaiman „Niemalsland“ (Neverwhere)

Willkommen im Niemalsland

Die Geschichte beginnt mit Richard Mayhew, der noch nicht lange in London lebt und als Banker arbeitet. Seine hochnäsige Freundin Jessica und der Rest der Welt vermitteln ihm gerne das Gefühl ein Nichtsnutz zu sein und schubsen ihn rum bis er es selber glaubt. Eines Tages liegt auf der Straße zu seinen Füßen ein schwer verletztes Mädchen. Jessica will, dass sie weitergehen und sich nicht auf irgendwelchen Ärger einlassen, aber er nimmt das Mädchen mit und rettet ihr damit das Leben. Am nächsten Tag verschwindet sie einfach. Die Begegnung der Beiden hinterlässt aber Spuren. Sie löscht das Leben aus, dass Richard bisher hatte. Niemand erkennt ihn mehr. Nicht seine Freundin Jessica, nicht seine Arbeitskollegen, nicht mal die Menschen auf der Straße nehmen ihn wahr. Es ist als hätte es ihn nie gegeben. Nur dort wo das Mädchen herkommt, scheint er noch existieren zu können: Unter-London. Er begibt sich auf eine abenteuerliche Reise in eine Parallelwelt, in der mittelalterliche Zustände herrschen, wo Magie existiert und es definitiv gefährlicher ist als im Investmentbanker-Dschungel Londons. V.A. deswegen weil Door, so der Name des Mädchens, immer noch verfolgt wird.

Fantasy ist eigentlich nicht mein Gebiet und überzeugt mich nur in Ausnahmefällen wie dem extrem coolen, düsteren, abgründigen American Gods. Auch hier finde ich die Geschichte stellenweise etwas vorhersehbar. Auch die Geschichte an sich ist nach einem relativ einfachen Schnittmuster und ich wette jeder der gern Geschichten in Buch- oder Filmform konsumiert ahnt schon, dass Richard vielleicht eine Metamorphose zum Helden durchmacht. Nichtsdestotrotz und wahrscheinlich dank des Gaimanschen Genies ist die Geschichte voller fantastischer Charaktere und einiger Wendungen, die es letztendlich doch spannend gemacht haben. Das Buch umgeht auch eine ganze Menge Klischees und v.A. ist es sehr divers. Es gibt alle Arten von Hautfarben und Gesinnungen, was ich sehr angenehm finde. Außerdem schlägt es einen Ton an, der das grau-öde Standardleben von Krawatten und Statussymbolen anprangert. Der große Clou ist aber wohl der London-Faktor, der gut kommt, wenn man schon Mal da war und sich durch das U-Bahn-System geschlagen hat oder allgemein Sightseeing in London gemacht hat. Es ist wie eine fantasievolle Liebeserklärung an die Stadt, wenn Straßen erwähnt werden, aber auch wenn man in Unter-London von der Nights Bridge spricht. Nein, nicht der Haltestelle Knightsbridge. Sondern die Nights Bridge! 😉 Und die hat es in sich, ich würde da nicht drüber gehen, sage ich euch gleich. Um nur mal ein Beispiel zu nennen für den augenzwinkernden London-Humor.

Eine kleine Überraschung ergab sich für mich aus der Danksagung. Manchmal leiste ich bei Büchern keine vorherige Recherchearbeit, sondern will mich einfach überraschen lassen. Daher habe ich erst durch die Worte des Autors am Ende des Buchs erfahren, dass er anfangs beauftragt wurde das Drehbuch für eine Fernsehserie anzufertigen und später daraus diesen Roman machte. Ich wusste nur, dass es ein Hörspiel zu Neverwhere (so der Originaltitel) gibt, dass sehr prominent besetzt ist (James McAvoy, Benedict Cumberbatch, viele gute Argumente …). Tatsächlich gibt es aber auch eine BBC-Mini-Fernsehserie, deren Erfolg scheinbar nicht besonders groß war. Aber damit steht trotzdem fest, dass ich mir die irgendwie anschauen muss, denn die ersten Clips sahen zwar etwas retro aus, aber haben mich doch sehr neugierig gemacht.

Auszug aus Neil Gaiman "Niemalsland" (Neverwhere) mit zweifelhafter Übersetzung ...
Auszug aus Neil Gaiman „Niemalsland“ (Neverwhere) mit zweifelhafter Übersetzung …

Das Ding mit den Übersetzungen … oder: der ewige K(r)ampf

Die Entscheidung für die deutsche Ausgabe fiel recht spontan. Zuerst wollte ich die englische kaufen, habe aber dann gesehen, dass es in Deutsch auch erschienen ist. Na also … warum dann nicht mal auf Deutsch. Seit ca. eineinhalb Jahren lese ich oft die englischen Ausgaben und bin seitdem hin- und hergerissen was für ein Exemplar ich mir zulege. Manchmal fällt die Entscheidung einfach aufgrund eines ziemlich profanen Kriteriums. Welches Cover ist hübscher? Wo stimmt das Preis/Leistungsverhältnis mehr? Hier hat mich der Vergleich gereizt. Meine Erinnerungen an den einfachen, aber pointierten Schreibstils Gaimans ist durch American Gods noch frisch. Ideal also um mal vergleichen zu können, ob deutsche Übersetzungen mithalten können oder ob sie so schlecht sind wie ihr Ruf, wenn man manchen Buchliebhabern glaubt, die ja nur auf Englisch lesen. An der Stelle muss ich gestehen, dass mich diese Einstellung ehrlich gesagt nervt, weil ich sie zu eindimensional finde. Das ist ungefähr so wie wenn man sagt „alle Deutschen sind Pedanten und haben keinen Humor“. Außerdem bin ich ein Fan des Übersetzer-Berufs und ich finde Sprachen und Sprachen lernen faszinierend.

Tatsächlich gibt das Buch den Grundton des Gaimanschen Humors und Schreibstils wieder, allerdings wirkt er auf Deutsch etwas profaner und einfacher. Vielleicht ist das der Effekt, den viele umgehen wollen, die in der Fremdsprache statt der Muttersprache lesen. Eine für mich wichtige Erkenntnis war also: ja, eine Übersetzung kann den Ton und Sprachstil des Autors einfangen. Definitiv in diesem Fall. Und jetzt kommt das Aber. Aber richtig gut ist die Übersetzung nicht und das ist ziemlich offensichtlich. Zum Einen liegt es daran, dass manche Scherze und Wortwitze kaum oder nur sehr schwer übersetzbar sind, wenn man erstens die Bedeutung und zweitens den Humor genauso vermitteln möchte. Ein sehr schwierige Aufgabe. Stichwort: Krawatten-Witz. Was aber noch mehr verwirrt sind die kleinen Stellen mit missglückten Übersetzungen wie dem oben zu sehenden Cheshire-Cat-Unfall. Wollte man es nicht als Grinsekatze übersetzen? Kannte man einfach nicht Alice im Wunderland? Oder dachte man, dass die Cheshire Cat eine bekannte englische Rassekatze wäre (das möchte ich sehen)? Oder wollte man keine Alice-im-Wunderland-auf-Englisch-Leser erzürnen? Es könnte alles sein. Es ist nicht einfach Bücher zu übersetzen, die so durch ihre fantastischen Wortneukreationen leben wie im Fantasybereich. Daher werde ich das nächste Mal wohl auf gerade bei Neil Gaiman wieder auf eine englische Ausgabe zurückgreifen.

Fazit

schöne fantastische, witzige, Odyssee; nicht zu anspruchsvoll; gut zum zwischendurch lesen – aber vielleicht zur englischen Ausgabe greifen

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

14 Antworten

  1. Huuuuh da war ich jetzt kurz besorgt, eine Rezension zu einem meiner Lieblingsbücher, was wenn das ein Verriss würde 😉 Aber – Glück gehabt, Du mochtest es auch.
    Das mit der Verfilmung wußte ich nicht – danke für den Tipp, muss ich mir auf jeden Fall anschauen. Und ja zur englischen Ausgabe. Habe vor ein paar Jahren mal den kompletten 1. Weihnachtstag durchgelesen als ich es geschenkt bekommen habe. Literarisch vielleicht nicht mega wertvoll, aber ich liebe es einfach heiß und innig. Gibt auch einen ganz interessanten Comic dazu. Liebe Grüße 🙂

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ja – kein Grund zur Sorge 🙂 Aber ich kenne das, bin auch manchmal sehr enttäuscht, wenn ich irgendwo einen Verriss lese. Gerade hier wars aber schwierig, weil Geschmäcker verschieden sind und ich Fantasy nicht immer so viel abgewinnen kann. Aber der Gaiman der schaffts irgendwie immer wieder. Der kriegt mich mit seinen Geschichten, wo mich viele Fantasy-Schinken kalt lassen.
      Es gibt auch einen comic!? Wieder was gelernt – muss ich direkt mal in den Untiefen des www suchen. 🙂

  2. Du musst dir unbedingt das Hörspiel anhören – ich fand es großartig!!! Habe es schon ein paar Mal angehört: James McAvoy ist einfach perfekt für Richard Mayhew, und sich seinen schottischen Akzent stundenlang anzuhören, ach, das ist einfach ein Genuss! 🙂

    Das Buch habe ich auch (auf Englisch) bei mir liegen, aber seit ich das Hörspiel mehrfach gehört habe, erscheint es mir irgendwie überflüssig, den Roman zu lesen…

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ist fest eingeplant, dass ich mir das mal anhöre. Bei dem Cast muss man einfach mal reinhören 🙂
      Ja, das kann ich mir vorstellen, dass das nicht so viel Sinn macht das Buch hinterher zu lesen. Würde ich wahrscheinlich auch nicht tun. Mal gucken wie es mir in der anderen Richtung gefällt.

  3. Oh….das habe ich vor einer gefühlten Ewigkeit von bestimmt 25 Jahren gelesen und fand es so faszinierend….ich habe zwar das meiste vergessen, aber das Gefühl, dass es ein besonderes Buch war, das blieb…ich habe gerade Sternenwanderer abgeschlossen….war auch toll zu lesen….ich mag seinen Stil…Coraline fand ich auch gut..obwohl mir der Film besser gefiel…LG

  4. Das Buch mochte ich auch sehr gerne – ich habe es auf Deutsch gelesen und mir dann noch das englische Hörspiel angehört, das mir auch sehr gut gefallen hat! Die Serie dazu (mit Peter Capaldi als Engel Islington :D) steht auch auf meiner Watchlist. Und „American Gods“ wartet auch schon in meinem Regal, sogar auf Englisch 😉

  5. Schöner, vielschichtiger Beitrag. Das mit der Grinsekatze ist wirklich grenzwertig. Ich bevorzuge Alice ja in der englischen Ausgabe, allein wegen der Sprachspiele und Witze, und ich glaube, dass es auch deutsche Übersetzungen gibt, in denen die Katze als Cheshire-Katze vorgestellt wird, aber im weiteren Verlauf trotzdem immer als Grinsekatze betitelt wird. Dennoch ist im Deutschen der Name Grinsekatze einfach allen (auch unbelesenen) Menschen ein Begriff – ganz im Gegensatz zur Cheshire Cat. Daher hat für mich bei Anspielungen auf diese Katze auch nur der Begriff Grinsekatze Sinn. Wenn sich in einem Buch Anspielungen auf Enid Blytons „Hanni und Nanni“ fänden, käme doch auch niemand auf die Idee die englischen Originalnamen zu nehmen (Hanni und Nanni heißen eigentlich Patricia und Isabel).

    Was das Buch an sich betrifft: Auf meiner Merkliste steht seit Ewigkeiten das Hörspiel, aber ich kann mich nicht dazu durchringen. Ich finde zu Neil Gaiman bislang einfach keinen Zugang. Ein paar seiner gruseligen Kurzgeschichten gefielen mir, aber ansonsten hat mich bislang keiner seiner Romane oder seiner Kurzgeschichten gepackt. „Coraline“ steckt z.B.ebenfalls voller Elemente aus den Alice-Büchern, allerdings ist das so erzwungen eingesetzt, dass es nur nach Copy Cat und nicht nach stilvoller Hommage wirkt. In meiner Blogroll und Twitter-Timeline scheinen alle immer durchweg begeistert von Gaiman, aber ich bin wohl gegen seinen „Zauber“ immun … oder hab bisher einfach zu den falschen Werken gegriffen?! :-/

  6. Lustig, das Buch lese ich gerade. Auf englisch übrigens. Und es war etwas kurios, wie ich dazu kam, mir einen Gaiman zuzulegen. Eigentlich wollte ich das ja schon seit sehr langer Zeit und als ich letztens aufgrund einer Konzerterfahrung über die werte Amanda Palmer sinniert habe, ist mir natürlich wieder Neil Gaiman, ihr Göttergatte, eingefallen. Und zack, schon lese ich „Neverwhere“… 😉

  7. Ich bin ja im Moment immer noch bei „American Gods“… 😉

    „Neverland“ fand ich damals ganz unterhaltsam, auch wenn ich mich selbst leider an überhaupt nichts mehr erinnern kann.

  8. übrigens kommt bald eine neuübersetzung heraus: http://www.luebbe.de/eichborn/buecher/fantasy/niemalsland/id_5839247
    vielleicht hättest du mit dem kauf noch warten sollen 😀
    das „ertmals ungekürzt“ auf dem cover ist ohne genauere angaben etwas irritierend. kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass heyne in den 90ern noch gekürzt hat… könnte mir vorstellen, dass es vielleicht bonus wie die how the marquis got his coat back short story enthält.

  9. […] Neil Gaiman „Niemalsland“ (Neverwhere) […]

  10. […] gab es eigentlich nicht. Aber ein wenig enttäuscht war ich von den ziemlich flachen Charakteren in Niemalsland von Neil Gaiman. Da bin ich was anderes gewöhnt von dem Author. Was mich ähnlich abgestoßen hat, […]

  11. […] dass mir das Hörbuch zu Neil Gaimans Neverwhere so gut gefällt, obwohl mir die deutsche Ausgabe Niemalsland letztes Jahr beim Lesen ehrlich gesagt nicht besonders gut gefallen hat. Aber die Charakter-Stimmen […]

  12. […] Hörbuchvariante von Neverwhere mit James McAvoy, Natalie Dormer und Benedict Cumberbatch. Gaimans Buch hat mir ja leider nicht besonders gefallen, aber die Hörbuchfassung gibt den Charakteren irgendwie […]

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