Literarische Fundstücke: Darüber, die Stelle im Buch zu finden, die den Titel erklärt I

Es wirkt eine regelrechte Magie auf mich aus und manchmal jage ich richtig danach: der Stelle im Buch, die den Hinweis auf den Titel gibt. Es gibt sicherlich genügend Beispiele, bei denen es sich erübrigt den Titel zu suchen. „Good Omens“ von Terry Pratchett und Neil Gaiman beispielsweise. Oder Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand – das ist schon ziemlich „in your face“, da braucht niemand eine Erklärung. Man kann als Leser sicherlich auch gut Leben ohne eine Erklärung zu bekommen oder ohne auf die Stelle aufmerksam zu werden. Schließlich zählt das, was uns das Buch sagen will. Und trotzdem fühlt es sich in einigen Fällen an, als ob man gerade einen Schatz vom Meeresboden geborgen hätte. Und in einigen Fällen erhellt es uns noch einmal mehr. Eine Ode an die Stelle im Buch, die den Titel erklärt.

„Never let me go“ (dt. Titel: „Alles, was wir geben mussten“) Kazuo Ishiguro

Der deutsche Titel gibt nicht viel her (pun intended 😉 ). Warum er anders gewählt wurde liegt aber wahrscheinlich auf der Hand. Vermutlich wollte man den englischen Titel nicht behalten, weil sonst der geneigte Leser, der des Englischen nicht so gut mächtig ist, im Irrglauben flüchtet, dass es ein englisches Buch wäre. Und übersetzen wäre nur halb so sinnvoll, weil Never let me go der Titel eines Songs ist. Und das würde wohl den Moment verfremden, in dem Kathy den Song hört und in dem sich der Titel des Buches und seine Bedeutung enthüllt. Die Szene ist wahrlich eine Schlüsselszene, denn darin bemerkt Kathy wahrscheinlich das erste Mal, dass sie anders ist. Madame ertappt in dieser Szene Kathy beim Hören des Songs in ihrem Zimmer wie sie gedankenversunken nachstellt, worum es ihrer Meinung nach in dem Lied geht. Nämlich darum, dass einer Frau ihr Baby weggenommen wurde. Als Madame sieht wie emotional Kathy wird, wie sehr das Lied sie rührt, ist Madame zutiefst erschrocken und beginnt selber zu weinen. Zu diesem Zeitpunkt ist bereits klar, dass das eine Reaktion auf Kathy und die Aufgabe der Kinder ist, über die Madame Bescheid weiß. Der Songtitel allgemein ist ein guter Spiegel dessen, was nicht nur Ruth, Kathy und Tommy empfinden, sondern bevor es mit uns oder unseren Lieben zu Ende geht wahrscheinlich wir alle. Wer nicht so recht weiß, worum es in dem Buch geht, kann hier nachlesen, warum es so großartig ist.

„Die Ermordung des Commendatore“ Haruki Murakami

Als der neue Murakami rauskam, war der Titel ziemlich rätselhaft. Welcher Commendatore wird denn da umgebracht? Opern-Liebhaber hatten vielleicht vorher schon eine Ahnung. Don Giovanni … da war doch irgendwas? Tatsächlich ist es aber ein Bild, das den Titel Die Ermordung des Commendatore trägt, das den Buchtitel erklärt und Anstoß all dessen zu sein scheint, was unserem namenlosen Protagonisten hier passiert. In Band zwei allerdings geschieht etwas, dass dem Buch (und Buchtitel) noch etwas mehr Substanz gibt. Denn dann wird der Buchtitel wahr. Zweierlei Erlebnisse mit dem Titel eines Buches. Eine Kunst für sich. Buch eins Eine Idee erscheint und Buch zwei Eine Metapher wandelt sich, habe ich im Blog besprochen und hatte sehr gemischte Gefühle – mal abgesehen vom Entdecken der Bedeutung des Buchtitels. Das ist meistens ein gutes Erlebnis.

„Fahrenheit 451“ Ray Bradbury

Ray Bradburys Roman ist unser zuletzt im Buchclub gelesenes Buch und man erfährt bereits auf der ersten Seite, noch bevor die Geschichte anfängt, woher der Titel rührt. Eine Erklärung ist hier aber auch angebracht – der Titel erschließt sich nicht so leicht. Es sei denn man kombiniert gut und weiß schon, worum es in dem Buch geht. Bradburys Dystopie erzählt von einer Welt, in der Bücher verboten sind. Findet man doch welche, werden sie verbrannt. Und Fahrenheit 451 ist die Temperatur, bei der ein Buch beginnt zu brennen.

Header image/photo credit: Janko Ferlič

Ist das jetzt ein Downer mit dem ich schließe? 🙂 Dann frage ich euch lieber schnell was zum ablenken … sucht bzw. findet ihr auch so gerne die Stellen in Büchern, die den Buchtitel erwähnen oder klären? Oder hat das eher wenig Bedeutung für euch? Welcher Buchtitel hat sich euch eventuell nie erschlossen? Und welchen habt ihr zuletzt interpretieren müssen? Wie ihr an der römischen I im Titel seht, soll es dazu noch mehr Ausgaben geben. Allerdings muss ich da etwas tiefer im Bücherregal wühlen. Leider habe ich in der Vergangenheit nicht immer die Stellen markiert.

10 Antworten

  1. Sehr spannende Beitragsidee! Manchmal gibt es ja auch Bücher, deren Titel sich nach dem Lesen noch immer nicht recht erschlossen hat (oder aufgrund der Übersetzung scheinbar aus dem Nichts kommt oder gar total beliebig ist).

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Danke, das freut mich sehr, dass es dir gefällt. 😀 Für mich war das oftmals ein kleiner Heureka-Moment, die Stelle gefunden zu haben. Manchmal gibt es ja auch einen Zusammenhang, der sich wirklich schwer erschließt. Leider habe ich diese Passagen aber bisher nicht markiert, weswegen mir einige „bessere“ Beispiele durch die Lappen gegangen sind.
      Aber ja auch das ist sehr spannend: woher der Titel rührt, wenn er sich nicht so einfach erschließt. Darüber kann man bei dem einen oder anderen Buch Stunden reden. Im Buchclub wurde bspw. neulich heiß diskutiert, warum „Die Vegetarierin“ so heißt und nicht auf „vegan“ abzielt, da die Protagonist offensichtlich vegan ist und sogar noch darüber hinaus geht. Hast du so ein Buch kürzlich mal gelesen, in dem sich der Titel nicht erklärt?

      1. Spontan fallen mir da keine Beispiele ein. Aber du inspirierst mich gerade dazu, mich einmal näher mit Titeln zu beschäftigen, z. B. indem ich mein Regal dahingehend mal prüfe oder mir in Zukunft bei besonders gelungenen oder misslungenen Fällen eine Notiz mache. 😀

        1. Avatar von Miss Booleana
          Miss Booleana

          Haha, Ziel erreicht 😀 Das finde ich sehr spannend, wenn du auch deine Literarischen Fundstücke zeigst 😉

  2. Das will vermutlich keiner hören, aber Til Schweiger Film-Titel funktionieren ähnlich und hängen sich an einen winzigen Randaspekt auf, siehe Keinohrhasen oder Kokowääh.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Also da ich kein Till-Schweiger-Fan bin, sondern (zumindest in letzter Zeit) eher weglaufe, wenn er irgendwo mitspielt, habe ich kein Problem damit XD Ist ja auch so … .
      Aber es sind nicht immer Randaspekte, die als Buchtitel herhalten, sondern Ideen und Konzepte, die den Kern des Buches durchaus gut rausbringen. Beispielsweise bei „Never Let Me Go“

  3. Oh, ich liebe sowas sehr gerne.

    Am besten sind die englischen Titel, die klingen immer so mysteriös und manche von ihnen haben auf dem ersten Blick nichts mit dem Genre im Buch zu tun. Viele deutsche Titel finde ich immer so grässlich, selbsterklärend und austauschbar. Da gucke ich sehr gerne nach, wie die Übersetzung im Original heißt.

    Haruki Murakami hat sehr viele tolle Titel, die glücklicherweise auch im Deutschen gut klingen. „Südlich der Grenze, westlich der Sonne“, was ja aus dem Japanischen übernommen wurde, klingt doch tausendmal besser als ursprünglich „Gefährliche Geliebte“. Und der Titel hat mit einem Lied (South of the Border) und mit einer Geschichte im Buch zu tun (westlich der Sonne), ist toll, wenn man beides zu einem Titel kombinieren kann. 🙂

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Das stimmt – meistens finde ich die englischen Titel auch schöner. Bspw. „The Handmaids Tale“ Das deutsche „Die Geschichte der Dienerin“ oder „… der Magd“ spricht mich nicht so sehr an. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob da nicht (trotz sicherlich guten Englischkenntnissen) eine Art „Fremdsprachen-Exotik“ die Ursache ist. 😉

      Das stimmt, die Titel von Murakami Bücher sind sehr schön. Sie erschließen sich meistens vorher überhaupt nicht, aber wenn man beginnt zu lesen, dann ist der Titel ziemlich „in your face“. „Südlich der Grenze, westlich der Sonne“ und „Gefährliche Geliebte“ sind ein schönes Beispiel 😉 Übrigens werde ich das dieses Jahr noch lesen – also die Neuübersetzung. 😀 Habe ich mir fest vorgenommen.
      Aber ich glaube, dass wir die „Gefährliche Geliebte“ der amerikanischen Ausgabe und Übersetzung zu verdanken haben. Habe mal in einem Vortrag von Ursula Gräfe gehört, dass das damals zu zerrissene Buch eigentlich eine Übersetzung aus dem amerikanischen war und dass deswegen soviel von der Bedeutung daneben ging. Klingt schon arg banal „Gefährliche Geliebte“ ….

  4. […] Booleana sinniert über den Lesemoment, in dem sich der Buchtitel erklärt. Außerdem präsentiert sie uns auf ihrem Kunstblog eine Animation, die mich immer wieder an […]

  5. […] Sinne des Wortes. Nämlich das Finden der Passagen in Büchern, die die Aufschluss über den Buchtitel geben. Für solche Fundstücke muss man etwas geben, Zeit investieren, Aufmerksamkeit schenken. Und […]

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