ausgelesen: Bela B. Felsenheimer „Scharnow“

Gemessen daran, dass auf den ersten dreißig Seiten von Bela B.’s Romandebut ein Literaturblogger von einem Buch getötet wird, sollte ich mich wohl vorsehen. Vielleicht ist das der heimliche Grund, warum es soviele extrem gute Bewertungen im Netz gibt? 😉 Wer so einleitet, muss es auch auf den Punkt bringen. Scharnow ist ein Buch für Fans von Trash. Es wird viel gesoffen, gekotzt und es hat einen Fantasy- bzw. Science-Fiction-Aspekt. In dem Buch kommen Tiere zu schaden, aber keine Sorge: Tierschützer kommen auf ihre Kosten. Mit brandenburgischen Dörfern hat das alles eigentlich nichts zutun, obwohl das Buch teilweise sehr stark damit beworben wird, weil das wohl ein witziger Aufhänger ist. Trotz dem Überschuss an Körperflüssigkeiten hat das Buch seinen Charme und einige Momente, die die Verrohung der Menschen adressieren und andere ernste Themen wie Kindesmissbrauch. Ein Hauch Satire und Realität ist klar dabei, aber in einer Mischung, die wegen des Humors nicht in jedem einen Fan finden wird. Wer das nochmal in Langform bracht – kann die haben. 🙂

In Scharnow, einer kleinen Gemeinde in Brandenburg in der Nähe Berlins, ist nicht viel los. Eins der wenigen Möglichkeiten für Essen auszugehen ist ein Döner-Imbiss. Der lokale Plattenbau (liebevoll Silo genannt) ist das höchste Gebäude und es gibt genau einen Polizisten und einen Supermarkt. Das ist für ein Dorf schon ganz schön viel. Trotzdem scheint dort nicht der Bär zu steppen. Am Tag X aber, als eine Gruppe Nackter den Supermarkt überfällt, die Verschwörungstheoretiker nicht mehr nur theoretisch gegen die Verschwörung angehen, das Manga-Mädchen Nami den netten Syrien-Flüchtling Hamid kennenlernt, ein Killer-Buch versucht einige Menschen dranzukriegen und der fliegende Mann eine furchtbare Nachricht erhält und Amok läuft, verändert es das Leben vieler in Scharnow.

Scharnow ist also kein langweiliges Dorf. Oder in Wirklichkeit sind alle Dörfer so abgedreht, behalten es aber für sich. Bela B.’s Roman ist als eine Episodengeschichte angelegt, in der wechselnde Protagonisten in der Ich-Perspektive (oder auch mal als Erzähler aus der Sicht einer dritten Person) ihren Alltag bestreiten. Dankbarerweise gibt es zu Beginn des Buches ein Personenverzeichnis, sodass man einen Überblick behält, wer jetzt zum „Pakt der Glücklichen“ oder dem „BsB“, dem „Bund skeptischer Bürger“, gehört. Die Leute in Scharnow sind bei weitem nicht so langweilig wie brandenburgische Dörfer üblicherweise dargestellt werden – zumindest der Teil ist absolut wahr 😉 Aber ihre Berufe und Überzeugungen sind schon sehr abgedreht. Da gibt es beispielsweise den Waffenfanatiker, Pornosternchen, einen Mann mit Superkräften (der das aber vor der Welt geheim hält) einen Literaturblogger mit dysfunktionalem Internet und eine Menge Rentner. Manches davon wirkt realistischer als anderes. Bela B. hat durchaus eine gehörige Portion Satire in seinem Roman. So erwähnt er beispielsweise Eltern, die nur deswegen bei Sagida (einem Pegida-Ableger) mitmachen, weil sie wollen, dass ihre Kinder sich für sie schämen und dadurch rechtsradikalem Gedankengut automatisch entsagen. Solche Szenen sind golden, da kann man sagen was man will. Auch bei der „genialen“ Idee des Nackt-Raubs musste ich sehr lachen. Aber insgesamt richtet sich das Buch eher an Fans von Fäkalhumor und Trash.

Man muss Körperflüssigkeiten und -ausdünstungen abkönnen. Es wird viel gesoffen, gekotzt, gefurzt in dem Buch. Assis, die den Tag damit zubringen bis zur Besinnungslosigkeit zu saufen und Horror-Trashfilme zu schauen, sind einige der Protagonisten, die viel Raum einnehmen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ihre Entwicklung im Buch hat zwar schon wieder was, aber bis dahin muss man sich durch eine Menge geistigen Dünnpfiff von Protagonisten durchkämpfen, die nicht weiter als bis zur nächsten Hausecke denken können. Polizisten mit übersteigertem Ego, die sich für Clint Eastwood halten und allgemein sehr viele Leute, die so wirken, als ob ihnen etwas mehr Bildung ganz gut tun würde. Klar, Satire muss weh tun und Bela B. hat mit Sagida und Verschwörungstheoretikern (wer muss jetzt an Reichsbürger denken?) einiges aufgegriffen, dass unumstritten aktuell ist. Aber auf soviel Kotze und Besäufnis muss man Lust haben, sonst macht es keinen Spaß. Wie im echten Leben. Sprachlich ist das Buch einfach gehalten und eher beschreibender Natur. Zwar sind manche Passagen etwas hölzern, aber andererseits kann man nicht behaupten, dass Bela B schlechter schreibt als T.C. Boyle oder andere hochdekorierte Autoren. Es ist mehr das narrative Handwerk und verschenkte Potential der als obskur angelegten Geschichte. Andeutungen wie, dass es viele Tode geben wird, bleiben leere Phrasen. Oder bedeuten eben, dass das ohnehin relativ offene Ende ein noch offeneres ist. Mit verschenktem Potential meine ich beispielsweise Charaktere wie Niels, der sich für einen Zeitreisenden hält. Angeblich erzählt er immer mal irre Geschichten von Zeitreisen. Leider bekommen wir ausgerechnet die nicht zu hören. Auch bleibt das Schicksal einiger Charaktere offen oder wird nur angedeutet.

Was mir ein bisschen schleierhaft bleibt ist die Ausrichtung des Verlags- bzw. der Verlagssparte, in der auch Scharnow erschien. Heyne Hardcore untertitelt sich mit Alles, nur kein Mainstream. Wahrscheinlich bin ich nicht die Zielgruppe, denn das um „Krassheit“ bemühte Programm ist für meinen Geschmack recht mainstream-ig. Scharnow selber ist überraschend schnell gelesen. Die Hardcover-Ausgabe bringt es zwar auf knapp über 400 Seiten, aber es gibt viel „Whitespace“, d.h. einige Leerseiten zwischen den Kapiteln und auch viel Leere vor und nach den Unterkapiteln, die selber auch oftmals nur drei bis fünf Seiten fassen. Über die Entscheidung des Layouts lässt sich streiten. Dass die Kapitel so kurz geraten sind, ist aus meiner Sicht eigentlich ein Plus. Es gestaltet das Lesen abwechslungsreich und dient auch der Geschichte, da sehr viel parallel geschieht. Zu sehen wie Charaktere „aufeinander zugehen“ und sich letztendlich ihre Wege kreuzen, macht Spaß. Dass das Buch aber künstlich auf so eine Dicke getrimmt wurde, wirkt unnötig. Auch lässt es sich nicht vermeiden, dass ein Buch nicht des Buches wegen, sondern des Autors wegen gehyped wird. Ich mag die Ärzte und finde, dass Bela B. eine coole Sau ist. Aber ich bin kein Fangirl. Warum also Scharnow? Und für wen ist Scharnow?

Ich habe Scharnow gekauft, weil ich aus einem brandenburgischen Dorf stamme, dort aufgewachsen bin. Fast zwanzig Jahre meines Lebens habe ich da gelebt und das eigentlich sehr gern, auch wenn es mich für Studium und Job dann wo anders hingezogen hat. Denn soviel sei leider gesagt: Jobs sind rar und Ablenkung ist es zuweilen auch. Heute scheint das übrigens besser zu sein. Wenn ich mal wieder in die Heimat fahre, dann sehe ich dort genug Plakate mit Veranstaltungen. Es hat sich gemacht. Aber wenn ich an meine Kindheit und die Atmosphäre im Post-DDR-Brandenburg denke, wo alle nennenswerte Industrie und viele Arbeitsplätze dicht gemacht wurden, gäbe es einige Geschichten zu erzählen, die Tragödie und Dramatik nicht entbehren. Das Dilemma der Landbevölkerung ist, dass es in den meisten Dörfer eben nicht diesen einen Polizisten (den aus dem Buch braucht man allerdings auch nicht), keinen Supermarkt und nicht mal einen Döner-Imbiss gibt. Sondern nichts, keine Gelegenheit einzukehren und auch keine Arbeitsplätze. Killer-Bücher, fliegende Männer und Pornostars gehörten nicht zu diesem Alltag. Das Buch wird also vielleicht etwas anders vermarktet als es dem Stoff gut tut. Einerseits ist es erfrischend, dass das tatsächliche Dilemma der Dörfer und Landbevölkerung keine Rolle spielt und es in Scharnow eigentlich sehr spannend zu sein scheint, andererseits kann man je nachdem was man über Scharnow gelesen hat, etwas ganz anderes erwarten. Vielleicht haben meine Erläuterungen oben geholfen, herauszufinden, ob es was für euch ist. Was ich in jedem Fall immer noch ziemlich cool finde ist, dass Bela B. damit Spiegel Bestseller geworden ist und das auf sehr sympathische Art gefeiert hat.

Fazit

Für Fans von derbem (Fäkal)Humor, Trash und Episodengeschichten

Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-459-27136-4, Heyne Hardcore

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

2 Antworten

  1. […] Booleana las Bela B.’s „Scharnow“ und berichtet, ob der Schauplatz einem typischen brandenburgischen Dorf entspricht und ob das Buch […]

  2. […] Sprünge helfen lassen. Tatsächlich war ich mit zwei Büchern dieses Jahr mal nicht so zufrieden. Scharnow traf nicht meinen Geschmack und Norma von Sofi Oksanen war mir zu weird. Die rauchen Haare und […]

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