„Die Vermessung der Welt“ war ein großer internationaler Erfolg. Die New York Times führt das Buch weit vorn in einer der Liste der weltweit meistverkauften Bücher 2006 auf. Als es den großen Durchbruch feierte, war ich bereits eine begeisterte Leserin, steckte aber eher so bei Thriller und Horror fest und dachte noch nicht daran was über Gauß und von Humboldt zu lesen. Als ich studierte, wurde „Die Vermessung der Welt“ in meiner Uni-Stadt als Theaterstück aufgeführt und ich sah ein paar Ausschnitte davon. Aber der Welt-Bestseller ging einfach so an mir vorbei. Ich hatte sogar schon was vom Kehlmann gelesen. Neulich war ich auf der Suche nach einem Hörbuch und streifte sehr lang durch die digitalen Listen und Angebote und letzten Endes war es eher ein Impuls ohne viel Erwartungen oder Nachdenken als ich letzten Endes das Hörbuch wählte. Und feststellte: was habe ich damals verpasst!
Carl Friedrich Gauß ist nicht begeistert als Alexander von Humboldt ihn 1828 zur Tagung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte einlädt. Die Fahrt von Göttingen nach Berlin wird beschwerlich. Und Gauß reist sowieso schon nicht gern. Über die Eigenarten und das Gemecker des Samtkappen-Trägers kann Humboldt nur müde lächeln. Schließlich reiste er sein ganzes Leben. Gauß, seines Zeichens Mathematiker und Geodät, und Hombold, Naturforscher und Begründer der Geografie, sind inzwischen betagte alte Herren. Sie stehen seit Jahren in Korrespondenz und ein Treffen ist selten. Mit diesem Ankerpunkt blickt das Buch zurück auf das Leben der beiden Forscher, das kaum unterschiedlicher hätte verlaufen können und doch je älter sie werden umso mehr Ähnlichkeiten aufweist. Gauß wächst in Armut auf und sein mathematisches Talent wird eher zufällig entdeckt und immens gefördert. Eigentlich hat ihn ja Latein mehr interessiert. Humboldt wird in eine reiche Familie geboren, aber steht quasi seit der Geburt in einem (stellenweise sogar tödlichen) Konkurrenzkampf mit seinem Bruder. Beide werden immer mal wieder sanft in Bereiche gedrängt, die sie so gar nicht betreten wollten. Bald schon wird aber der eigensinnige Gauß der Fürst der Mathematik, Ehemann und Vater und Alexander von Humboldt erkundet zusammen mit Aimé Bonpland Südamerika und testet die Grenzen der eigenen Belastbarkeit aus. Mitsamt psychedelischer Trips und Experimenten am eigenen Körper.
Das klingt jetzt vielleicht seltsam, aber trotz des Hypes habe ich nicht erwartet, dass es auch nur annähernd so witzig, unterhaltsam und interessant ist. Der Gauß ist ein Stinkstiefel, Goethe und Schiller sind ganz schön wichtig, Alexander von Humboldt hat eine fragwürdige Beziehung zu seinem Bruder und ich weiß jetzt wie der Referenz-Meter festgelegt wurde und dass das Cyanometer misst wie Blau der Himmel ist. Woah. Tatsächlich wechselt Kehlmann ausgesprochen schnell zwischen Tragik und Humor, was dem Roman einen tragikomischen und satirischen Unterton gibt. Die Forscher werden hier auf’s Korn genommen als welche, die sich für etwas besseres halten als andere Menschen, aber dank zahlreicher Marotten, Allüren und Tragiken umso menschlicher gezeichnet werden. Es ist urkomisch! Manchmal bissig, manchmal dramatisch. Auch Gauß, der sich für unantastbar hielt, spielt plötzlich angesichts des Ausschlagens seines Heiratsantrages an seine Liebste mit dem Gedanken sich das Leben zu nehmen. Große Forscher sind eben auch nur Menschen. Bei all der Satire ist es wichtig, die fiktiven Forscher nicht vollkommen mit den historischen Personen gleichzusetzen. Denn es mag viel geliehen worden sein, aber nicht alles. Und das bewusst. Kehlmanns Buch ist mitsamt seiner Ungenauigkeiten und Umdichtungen eine Satire auf den Forschungsbetrieb und die verkrampft vergeistigte Haltung der Forschenden. Vielleicht lässt er seine Forscher dabei gerade deswegen gegen Ende spüren wie die nächste Generation sie entmündigt, ihnen davon läuft und der Fortschritt umso schneller galoppiert. Die Kunst ist wie er die Grauschattierungen wählt. Er schafft es, dass man sie nie komplett für Ekelpakete hält. Dass man trotzdem ihre Errungenschaften sieht.
„Ulrich Noethen liest »Die Vermessung der Welt« von Daniel Kehlmann (Kapitel 1 +2)“, via Argon Verlag (Youtube)
Das Hörbuch aus der argon Edition wird von Ulrich Noethen gesprochen, der eine sehr angenehme und unaufgeregte Stimme hat. Er bringt den trockenen Humor auf den etwas über acht Stunden Laufzeit sehr angenehm rüber – man hört sich nicht satt. Mein Problem ist, dass ich zu oft von einem Hörbuch erwarte, dass es ein bisschen mehr wie ein Hörspiel ist. Zwar ist das Hörbuch hier ein tadelloses Stück, aber ich kann nicht ganz verdrängen, dass ich doch bei den fiebrigen Geschichten Humboldts aus Südamerika das Flirren der Moskitos und Zikaden gern gehört hätte. Es gibt eine 45 Minuten lange XXL-Hörprobe, die ich hier mal für Unentschlossene einbette. Ein bisschen fühlt es sich ja schon an als wäre ich zu spät zur Party gekommen. Und alle räumen schon den Sekt weg und fegen das Konfetti auf. Der betrunkene Onkel liegt schon in der Ecke und die Freunde sind schon weg. Aber ich bin froh, dass ich das nachgeholt habe und mache (fast nahtlos) mit Tyll weiter.
Erzählt mal: wart ihr pünktlich zur Party? 🙂 Und falls ihr das Buch/Hörbuch kennt, wie hat es euch gefallen? Was von Kehlmann könnt ihr noch empfehlen? Und habt ihr vielleicht auch den Film gesehen? Übrigens wurde das Buch an meiner Hochschule als Theaterstück aufgeführt, weil Humboldt tatsächlich eine Zeit lang in der Stadt war. Und um meine Schande noch zu vergrößern: ich bin damals bei der Inszenierung eingeschlafen. Zu meiner Verteidigung: ich war echt fertig. Und es war immerhin nicht im piekfeinen Theater, sondern zu einem Open-Air-Event. D.h. es ist bestimmt nicht aufgefallen … rede ich mir ein.
Schreibe einen Kommentar