Eins vorweg: der oben angegebene Steven Jay Schneider ist Herausgeber des Buchs. Die Texte stammen von 77 internationalen Filmkritiker*innen. Noch eins vorweg: den Buchtitel werde ich im folgenden als 1001 Filme abkürzen. 🙂 Wenn man so ein Buch lesen, sich zulegen oder besprechen will, stellt sich unmittelbar die Frage: was erhoffe ich mir davon? Will ich das Buch tatsächlich lesen oder will ich es als Nachschlagewerk? Zumindest sind das die zwei Anwendungsmöglichkeiten, die sich bei einem Buch von den Ausmaßen (Marke Türstopper) aufdrängen. Will ich alle Filme in der Liste tatsächlich schauen? (Viel Spaß. Und viel Spaß dabei an alle ranzukommen.) Will ich mein bestehendes Filmwissen damit geradeziehen oder nehme ich das als Anlass um anzufangen systematisch Filme zu schauen? Ich habe es tatsächlich gekauft, um mein Wissen über die Filmgeschichte zu schärfen und habe es dementsprechend Seite für Seite gelesen. Und nicht selten als Reaktion gehört „Das hast du tatsächlich gemacht?“. Ja. Und war das eine gute Idee?
Das Buch ist nach Jahrzehnten aufgebaut, beginnend mit den Nullerjahren oder genauer Die Reise zum Mond von 1902, was schon mal ein grandioser Auftakt ist. Natürlich nach einem Vorwort und dankbarerweise einer Checkliste, in der man abhaken kann, welche Filme man schon gesehen hat. Soll keine Werbung sein, aber man kann das auch via Letterboxd haben ohne ins Buch zu malen. Die mir vorliegende Auflage ist die 10. aktualisierte Neuausgabe und erschien 2013. Entsprechend reichen die Filme bis in die 2010er. Im Schnitt widmen sich ca. 100 Seiten einem Jahrzehnt ab der 1950er Jahre, in denen die Filmbranche signifikant wuchs. Dünner war es zuvor (klar), wird es aber auch wieder gegen Ende. Für die 2000er bleiben nur rund 40 Seiten. Für die 2010er gerade mal 20. Letzteres lässt sich durch das Erscheinungsdatum des Buches erklären, ersteres erschließt sich mir nicht. Die Qualität der Filme ist in dem Jahrzehnt mit Sicherheit nicht schlechter als in den 70ern oder 90ern.
Es befinden sich im Schnitt 1-4 Besprechungen auf einer Doppelseite, manchmal füllen auch großformatige Film-Stills eine Seite zur entsprechenden Review. Die Filmkritiker*innen kenne ich übrigens nicht und bin mir nicht sicher, ob ich mich deswegen schämen sollte. Die angepriesene Internationalität und allgemein die Zusammensetzung der Autor*innen könnte diverser sein. Die meisten scheinen aus dem englischsprachigen Raum zu kommen oder dort zu arbeiten. Auch vermisse ich mehr weibliche Stimmen. Die Besprechungen haben keinen zu hohen Detailgrad und sind meist knackig auf den Punkt gebracht. Zudem habe ich in den Besprechungen reichlich an (Un)nützlichem Wissen gesammelt. Vieles hat mich doch verblüfft. Beispielsweise war mir nicht bewusst, dass Terrence Malick zwischendurch auch mal 20 Jahre Pause als Regisseur gemacht hat. Oder dass Within Our Gates (1921) als frühester erhaltener Spielfilm eines afroamerikanischen Regisseurs gilt. Dass der Film Nanook, der Eskimo (1922) ein Dokumentar-Meilenstein ist, jahrelanges Filmen erforderte, aber die Negative beim Verschiffen in die USA Feuer fingen. Dass Briefe einer Unbekannten (1984) auf einem Stefan-Zweig-Roman basiert. Was mir eine der Besprechungen außerdem bewusst gemacht hat: Tim Burton castet wirklich oft entgesetzt des „Typs“ (beispielsweise Johnny Depp als wortkargen Edward mit den Scherenhänden).
Optisch ist der Band ansprechend und hochwertig. Das Layout der Seiten ist angenehm. Neben dem eigentlichen Text findet man jeweils kleinere Boxen mit Nice-to-know-Fakten und Details wie der Spieldauer, Regisseur*innen, Produktionsstätte, etc: unverzichtbar. Was ich sehr mag ist, dass sich wann immer es ging die Autor*innen bemühen einen kurzen Abriss des Inhalts zu geben. Denn ehrlich: wer sich hier durch fast 1000 Seiten müht oder beim Durchblättern Inspiration haben will, hat absolut keine Lust und keinen Mehrwert, wenn man nebenbei wo anders den Inhalt nachlesen muss.
Was allerdings auch klar ist: der Backstein fordert die Handgelenke beim Lesen ziemlich. Mein Start mit dem Buch war aber aus anderen Gründen sehr holprig, weil ich Spoiler nicht mag und insbesondere im ersten Drittel Besprechungen das Ende verraten. Hier kann man schon die erste von mehreren Debatten der Filmkritik eröffnen. Braucht es für die Besprechung eines Films und Einordnung seines Mehrwerts in der Filmgeschichte das Verraten des Endes? Ich bin immer dafür, dass man das Ende in das Urteil einbezieht und verbalisiert ohne zu spoilern. Soviel zum Dienst an der Menschheit. Rein persönlich: ich hasse Spoiler. Wirklich sehr. Dementsprechend war ich gar nicht begeistert. Was den Fakt relativiert ist, dass man bei 1001 Filmen schon mal ein gespoilertes Ende vergisst.
Die nächste große Debatte kommt mir direkt wieder unter bei Besprechungen von „Birth of a nation“ und offenkundigen NS-Propagandafilmen von Leni Riefenstahl, die wegen ihres cinematografischen Mehrwerts aufgenommen wurden. Das mag sein, dass die Filme abgesehen von ihrer Botschaft, ihrem Zweck und ihrem Gedankengut künstlerische oder handwerklich bemerkenswerte Aspekte haben, aber ich bin immer sehr dafür, dass man die Einordnung in gesellschaftliche und historische Aspekte nicht außen vor lässt. Zwar wird das nicht ausgeklammert oder verschwiegen, aber es hätte für meinen Geschmack noch deutlicher vorgetragen werden können, was an dem Film schwierig ist. Obwohl ich kein Fan von Erasure bin, frage ich mich, ob die Filme wirklich in diesen Band unter diesem Titel mussten (zur Erinnerung: “ … die sie sehen sollten, bevor das Leben vorbei ist“). Darin liegt die zweite große Debatte. Natürlich wird man nie alle mit der Auswahl und solchen „Bestenlisten“ zufrieden stellen. Was ist drin, was nicht? Das hat wie man an dem Beispiel deutlich merkt nicht nur etwas mit Handwerk und Vision zutun, sondern auch mit der Vorstellung von Objektivität und Subjektivität.
Auch abgesehen von den zwei Begegnungen relativ zu Anfang habe ich mich allgemein mit den ersten paar hundert Seiten schwer getan, was aber wahrscheinlich ein rein subjektives Problem ist. Die ersten Jahrzehnte des Filmemachens sind für mich sehr dröge zu lesen und begleitet von immergleichen Motiven, Genres und klar: technischen Limitationen. Als Kind meiner Zeit waren die Filme der beispielsweise 1910er und 20er für mich einfach nicht so fesselnd. Wem es ähnlich geht, aber nicht den Anspruch hat das Buch linear von vorn bis hinten durchzulesen ist gut beraten, vielleicht einfach zur Abwechslung zwischen den Jahrzehnten zu springen. Das lineare Lesen hilft aber natürlich die Entwicklung des Films zu beobachten, was insbesondere etwa ab der Einführung des Farbfilms, der Blockbuster und von Animationsfilmen sehr wertvoll ist. Es ist als ob die Filmindustrie plötzlich blüht. Dementsprechend wurde es mit zunehmender Seitenzahl (für mich) interessanter zu lesen und man kennt zunehmend immer mehr Filme und hat „ach, der!“-Momente.
Was bedeutet das jetzt für den Überblick über die Filmgeschichte? Das kann ich Interessierten hier kurz wiedergeben. 1001 Filme und über ein Jahrhundert des Films in a nutshell zum Aufklappen.
In den 30ern werden Filme abwechslungsreicher und ich kenne inzwischen mehr der Vorgestellten. Dass häufig das Ende des Films verraten wird, bleibt leider so. Tonfilm ist jetzt an der Tagesordnung, Farbfilm noch nicht. Wir stecken in den 40erJahren. Kriegsfilme und Film Noir sind stark vertreten und weichen langsaaam den Komödien der Nachkriegsjahre. Dann die 50er: die letzten Ausläufer des Film Noir, (Anti-)Kriegsfilme werden langsam weniger, Western erleben einen Boom und die Nouvelle Vague bricht aus. Dank ihr entsteht das Autoren- und Independentkino. Außerdem gibt es hier ein bisschen Tati/Hulot und japanische Genreklassiker von Kurosawa und Ozu. Was ich nicht kannte: die indischen Filme, u.a. die Apu-Trilogie. Jetzt die Sechziger: Nouvelle Vague ist immer noch ein Ding, Kunst- und Experimentalfilm erleben ihre Anfänge. Es wird auch mal expliziter (Gewalt- und Sexszenen im Film sind jetzt weniger subtil, möglicherweise immer noch Skandal), das Sozialdrama bzw. der Realismus hält Einzug in den Film und außerdem gibt es reichlich(!!) Ingmar Bergman. Habe noch nix von Bergman gesehen … sollte ich mal nachholen. Irgendwie hatte ich mehr Flower Power erwartet.
In den Siebzigern feiert nun das Blockbuster-Kino seine zarten Anfänge. Der Slasher wird geboren mit Wes Cravens Halloweenreihe. Lumet, Herzog, Spielberg, Allen und Scorsese prägen das Filmjahrzehnt. Hatte zwar erst bei den 80ern damit gerechnet, aber inzwischen kennt man doch jeden dritten Film hier oder „wollte den schon längst mal gucken“. Es macht deutlich mehr Spaß als am Anfang. In den 80ern sind wir dann beim Antikriegsfilm und den Nachwehen Vietnams. Regisseur*innen der 80er sind Zhang Yimou, David Lynch, Michael Mann und es gibt Anime-Klassiker. Yay. In den 90ern bin ich zuhause – hier war ich auch schon Filmfan. Dementsprechend waren die Kapitel für mich ganz spannend und viel bekanntes dabei. Es ist das Jahrzehnt von Super-Blockbustern wie Titanic, das Jahrzehnt von Spielberg und Cameron. Aber auch das von Tykwer und Matrix. Das von Dogma95 und dem Revival des japanischen Horrorfilms. Almodóvar, von Trier, Anderson und Malick. Spannend. Dass die 2000er so kurz kommen ist schade.
Nach dem Durchflug durch soviele Jahrzehnte des Films liegen zwei große Pluspunkte deutlich auf der Hand. Man lernt Filme kennen. Es gibt einige wenige Besprechungen anhand derer aus der Review nicht hervorgeht, warum der Film einer ist, den ich gesehen haben muss, „bevor mein Leben vorbei ist“. Bei den meisten schon. Die Chemie, die Erzählung, Meilensteine der Cinematografie, man kann das schon größtenteils gut nachvollziehen und der Band wirkte auf meine Watchliste stark erweiternd. Und auf meinen Wissensstand bereichernd. Erstens kann ich nun einige der Regisseur*innen besser einordnen und ihre Bedeutung für die Entwicklung der Filmbranche. Zum Anderen auch die historischen Einflüsse. Ich hatte beispielsweise nicht erwartet, dass es nach dem dem zweiten Weltkrieg auch soviele „Heile-Welt-Film“ gab, bevor der klassische (Anti-)Kriegsfilm geboren wurde. Auch habe ich Filmreihen und Regisseure anderer Kontinente kennen gelernt, von denen ich zuvor nicht mal gehört hatte. Raus aus der Blase – immer sehr spannend.
Letzten Endes habe ich aber ca ein halbes Jahr mit dem Buch verbracht, weil auch nicht immer Lust da war zu lesen. Dass so ein Buch ein ziemliches Commitment ist, sollte Interessierten bewusst sein. Hier kann ich nur wieder auf die Frage oben verweisen, was man sich von dem Buch erhofft. Es als Coffee Table Book rumliegen haben und mal bei Bedarf rumblättern, ok. Wer aber den Mehrwert des Überblicks, des Lernens und Kennenlernen anderer Filme außerhalb der bisherigen Blase erleben will, kommt um das Lesen nicht herum und das dauert und ist schwer. V.A. weil das Buch schwer ist.. .
Fazit
Könnte diverser sein, gibt aber einen tollen Überblick. Es ist empfohlen sich vorher zu fragen, was man sich genau von dem Band erwartet und wie man es lesen will.
Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-283-01161-1, Edition Olms Verlag
Wie steht ihr zu solchen Büchern bzw wie lest ihr sie bevorzugt? Mal zur Hand nehmen, wenn Lust und ansonsten „Coffee Table“? Welche filmzentrierten Bücher könnt ihr empfehlen? Im Zusammenhang mit dem Buch kam in den letzten Monaten öfter mal die Frage, ob ich mir vornehme alle 1001 zu schauen. Die Antwort ist ein klares „Nein“. Erstens gibt es darin eine Menge Filme, an die es kein rankommen gibt. Ich habe mir bspw. sehr viele film noir notiert, die ich im Zuge des „Noirvember“ schauen wollte und durch das Buch sehr gehyped war. Leider konnte ich von ca 8 Filmen nur 2 auftreiben. Von daher … . Zweitens habe ich gar kein Interesse daran alle 1001 zu schauen. Bei vielen ist der Funke nicht übergesprungen. Ich denke aber auch nicht, dass das Ziel ist – auch wenn der Buchtitel ist wie er ist. 😉 Aber ich habe mir eine Liste von so rund 20 Filmen gemacht, die ich gern demnächst schauen würde. Mir sind auch einige blinde Flecken in meinem bisherigen Cineasten-Dasein aufgefallen. Ich werde wohl doch mal meinen ersten Ingmar Bergman schauen.
Schreibe einen Kommentar