Es war unser erstes Buchclub-Buch dieses Jahr, außerdem mein erstes von Martin Suter. Suters Die Zeit, die Zeit spielt aber auch so leichtfertig mit unantastbaren Größen, dass es offenbar nicht allen gefallen kann. Die Meinungen waren gespalten. Mir gefiel es gerade wegen der abstrusen Prämisse. Denn was hier passiert ist der Versuch zweier Männer die Zeit zurückzudrehen. Es ist keine Science-Fiction, es gibt keine Zeitmaschine. Aber beginnen wir am Anfang. An dem erleben wir die Routine Peter Talers, Buchhalter. Er kocht Spaghetti, steht am Fenster, trinkt zuviel Rotwein. Er hält den Ablauf tag um tag aufrecht, seit seine Freundin Laura starb. Ihr Zimmer hat er nicht angerührt, obwohl sie nun inzwischen schon über ein Jahr tot ist. Sein Buchhaltungsjob ödet ihn an. Nicht zuletzt, weil seine Kollegen der Meinung sind nach einem Jahr müsse mit der Trauer und Rücksicht auch mal wieder gut sein. Da fällt ihm etwas seltsames in seiner Nachbarschaft auf. Der Garten des als ein bisschen verrückt geltenden Nachbars Knupp scheint sich kaum zu verändern. Er stellt Knupp zur Rede. Mit einem überraschenden Ergebnis.
„Taler schwieg. Das, was er sagen wollte, durfte er nicht, und etwas anderes fiel ihm nicht ein.“ p.42
Knupp erklärt ihm, dass auch er trauert. Seine Frau starb infolge einer Malaria-Erkrankung nach einer gemeinsamen Reise. Das Ziel hat er ausgesucht und so gibt Knupp sich die Schuld an ihrem Tod. Daher will er die Zeit zurückdrehen und das Geschehene ungeschehen machen. Peter ist zu rational, um das normal zu finden. Knupp erklärt sich ihm im Folgenden als ein „Kerbelianer“. Die glauben nicht an „die Zeit“. Zeit wäre lediglich etwas von Menschen definiertes und ausgedachtes. Es gäbe lediglich Veränderung. Würde er also den Zustand eines Tages kurz vor dem Beginn der Reise wiederherstellen, so wäre wirklich wieder dieser Tag und Knupp kann alles anders machen. Peter kann nun zumindest nachvollziehen, warum der Alte sich Schönheitsoperationen unterzieht und frenetisch die Haare dunkel färbt. Auch warum er die Pflanzen im Garten austauscht. Warum er vieles tut, was ihm in der Nachbarschaft seinen Ruf als schräger Typ einbringt. Knupp sagt ihm aber noch mehr. Er bittet Peter ihm zu helfen. Als Gegenleistung hilft er ihm den Umständen von Lauras Tod nachzugehen.
Für Peter, der eh nicht loslassen kann, ist das zwar immer noch schräg, aber abschlagen kann er es auch nicht. Schließlich sind beide in der Zeit, oder in ihrem Leben, stehen geblieben. Was ist da schon Zeit? Nach und nach verschiebt sich Peters Motivation und er beginnt unterschwellig sogar zu hoffen, dass Knupps Idee auch Laura zurückbringen könne. Peters Trauer und Teilhabe an dem „Projekt“ ist lakonischer, ein Stück weit rationaler als Knupps. Das Projekt aber wird ein größenwahnsinniges, das immer ausschweifendere Dimensionen annimmt. Peter gibt alles und versenkt sich in die Mammutaufgabe einen Tag von vor ca. zwanzig Jahren wieder herzustellen. Inneneinrichtung, Außenanlagen, Zeitungen vom selben Tag. Knupps und Peter Vision nimmt Gestalt an, trifft auf überraschende Hürden und hat zwischenzeitlich etwas von einem Finanzkrimi. Für Lesende stellt sich bald die Frage wie weit die Beiden bereit sind zu gehen.
Kann man die Zeit austricksen? In unserer Leserunde war die Idee, dass es die Zeit nicht gibt, mehrheitlich eine hinkende. Nicht selten fiel das Wort Spinner bei denen, die dem Buch nicht viel abgewinnen können. Bei mir war das anders. Ich mag timey-wimey Zeug. Und so irre finde ich die Prämisse nicht – die Zeitmessung ist eine ausgedachte Sache und die Zeit keine direkt beobachtbare physikalische Größe. Wie testest du die Zeit? Gar nicht. Es gibt nur indirekt beobachtbare Indizien. Was wäre, wenn sich der Mensch nicht an den Gestirnen (die Rotation der Erde, der Stand der Sonne, usw) orientiert hätte um Zeit zu messen!? Martin Suter hat sich die Kerbelianer, die diesen Gedanken als Dreh- und Angelpunkt ihrer Philosophie nehmen nicht komplett ausgedacht, nur fiktionalisiert. Der Gedanke fußt eigentlich auf Henri Salles Buch Gravimotion, über das ich allerdings wenig herausfinden konnte. Der Begriff Kerbelianer und das im Buch erwähnte Buttonpond-Experiment sind ausgedacht. Trotzdem ist der Gedanke die Zeit zurückdrehen zu können ein Wunsch, der mir ur-menschlich erscheint und den wir alle schon mal hatten. Zumindest bevor wir über die Dinge, die uns belastet haben, hinweg gekommen sind. Etwas, zu dem Peter und Knupp nicht in der Lage sind. Damit hat Martin Suter einen Winkel im menschlichen Verstand erwischt, der für kurze Zeit bereit ist zu schauen wo das ganze hinführt. Sich für das abwegige zu öffnen. Vielleicht sogar zu hoffen?
Und wer wie ich an diesem Gedankenspiel auch nur das mindeste Interesse hat, wird Die Zeit, die Zeit vielleicht auch genauso gern lesen wie ich. Leicht macht es auch, dass Suter hier mehrere Elemente vereint, die den Roman in keine Schublade drücken. Ein bisschen Drama, ein bisschen Krimi, ein Hauch Größenwahn – wann kann man sich dem schon mal hingeben, wenn nicht in der Fiktion? Suter legt dabei eine Sprache an den Tag, in der er auf angenehme Weise für große Gefühle wenig Worte braucht. Das Feststecken Peters macht beklommen. Er versucht Rituale Lauras und Erinnerungen an sie aufrecht zu erhalten. Für ihn ist auf metaphorische Weise die Zeit bereits nicht mehr existent. Suter hat ein Gespür für Bewegungen des Körpers, für kleinste Verschiebungen in Mimik und Gestik, für die Emotionen dahinter. Er ist kein großer Romantisierer, aber er versteht die Kuriosität der Menschen, des Miteinanders, der eigenen uns übertölpelnden Gefühle. Ein gewisser Reiz liegt auch daran das Buch zu lesen und zu durchschauen wie Laura nun wirklich zu Tode gekommen ist und für alle einigermaßen physikinteressierte wohl auch den Fehler in Knupps Theorie zu finden. Und vor Allem: zu sehen, ob es klappt.
„Jetzt erst bemerkte er, dass sich die Augen des alten Mannes mit Tränen gefüllt hatten. Er hob hilflos die Schultern, ließ sie fallen und legte seinen Kopf auf die Unterarme, die er vor sich auf dem Tisch verschränkt hatte.“ p.230
Ganz kritikfrei bin ich aber auch nicht, obwohl ich das Buch sehr gern gelesen habe. Es gibt einen Aspekt, der viel zu einfach durchschaubar ist. Davon abgesehen bin ich dankbar für das Gedankenexperiment und wie sehr mich Die Zeit, die Zeit zum Nachdenken brachte. Mit einer gewissen Leichtigkeit entfernt es sich von Science-Fiction in eher philosophische und geradezu bürgerliche Methoden, um die Zeit auszutricksen. Erfrischend, aber nicht weniger tragisch. Wenn ihr könntet, zu welchem Zeitpunkt würdet ihr die Zeit zurückdrehen? Und würdet ihr es tun?
Fazit
spannendes Gedankenexperiment, das sich zu einer größenwahnsinnigen Mammutaufgabe hochschraubt und eskaliert
Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-257-24261-4, Diogenes Verlag
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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