Es erfüllt mich mit Melancholie. Zum Einen ist unsere Leserunde #atStation11 die vermutlich letzte wie sie in dieser Form auf der Plattform stattfand, die wir mal als Twitter kannten. Kathrin und ich lasen unter dem Hashtag Emily St. John Mandels Roman Station Eleven. Auch das Buch versprüht zwischen den Zeilen melancholische Vibes. Es handelt von der Zeit vor, nach und während einer grausamen Pandemie, die den überwiegenden Teil der Weltbevölkerung vom Spielbrett nahm und das Quasi-Ende der Zivilisation bedeutete. Während wir das Buch lasen und auf einer Plattform besprachen, die heute einen anderen Namen trägt, erinnerten wir uns dabei an Corona, an Lockdowns, vielleicht auch an Impfgegner:innen, Maskenverweigernde und fragen uns – haben die schon mal Station Eleven gelesen? Vielleicht sollten sie.
„Because survival is insufficient“
(Zitat p.58) Station Eleven konfrontiert uns als erstes mit dem Tod eines Schauspielers auf der Bühne. Anfangs ist es schwer vorstellbar, dass dieser tragische Umstand irgendwas mit der nachfolgenden Katastrophe zutun hat. Aber er hat auf jeden Fall eine Menge mit den Menschen zutun, die sich gegen die noch unsichtbare Pandemie wehren und in den nächsten Jahren um das Überleben kämpfen müssen.
Der Schauspieler heißt Arthur Leander. Zwar hat er die Georgia Flu genannte Grippe nicht mehr erlebt, aber sein Tod ist trotzdem wie ein Buschbrand. Er steckt Jeevan Chaudhary in Brand, der zu ihm auf die Bühne stürzte und versuchen wollte ihn zu retten. Ohne Ausbildung. Auf irrsinnige Weise fand er darin vielleicht seine Berufung. Und eine gewisse Resilienz, die er auch brauchen wird, wenn er später am Abend sein zweites traumatisches Erlebnis hat. Wenn die Grippe ausbricht, er den Anruf bekommt sich in Sicherheit zu bringen. Wenn er sich Vorräte anlegt und von Menschen fernhält. Er beschließt sich mit seinem Bruder zu verbarrikadieren.
„Of all of them there at the bar that night, the bartender was the one who survived the longest. He died three weeks later on the road out of the city.“ (p.15)
Arthur Leanders Tod hat auch Auswirkungen auf die Kinderdarstellerin Kirsten. Für sie war er ein Mentor und ein Idol. Jahre später wird Kirsten mit der Travelling Symphony genannten Schausteller:innen-Truppe in der Post-Grippe-Gegenwart Menschen mit Musik und Theater begeistern. Wenn sie kann, sucht sie nach jedem noch so kleinen Hinweis auf Arthur Leander. Sind Klatschzeitungen also doch noch zu etwas gut. Kirsten trägt aber auch eine Messer-Tätowierung. Zwei Messer bedeuten zwei Morde. Bedeuten sich zwei Mal verteidigen zu müssen. In Wirklichkeit war es viel öfter.
Diese Welt, durch die Kirsten streift, ist eine ohne medizinische Versorgung wie wir sie kennen. Ohne Straßenbahnen, Computer, Smartphones und Elektrizität. Kühlschränke und die Cloud sind Märchen, die man den Kindern erzählt, die nach dem Jahr 0 geboren sind und die das für Wunder halten. Aber der Blick geht stets zurück. Hier ist wieder die oben angesprochene Melancholie. Sich nach Star Trek Voyager sehnen oder wie Kirsten alle Aspekte über ihren einstigen Mentor suchen und natürlich den Comic – Station Eleven.
Denn ja, das hat Kirsten neben der Begeisterung für das Schauspielern auch von Arthur Leander: den Comic Station Eleven. Sie hat ihn nie irgendwo anders gesehen, er ist für sie unersetzlich und sie hütet ihn wie einen Schatz. Bald schon aber wird die Travelling Symphony durch das Terrain des Propheten reisen. Der kidnappt einige ihrer Mitglieder – und zitiert dieselben Textstellen wie Kirsten sie aus Station Eleven kennt. Wer ist er? Woher kennt er Station Eleven?
„I repent nothing“
(Zitat p.89) Emily St. John Mandels Roman lebt von vielem und ist reich an vielem. Von dem neugierigen Blick über den Zaun der Fiktion. Wie würde es mit uns Menschen weitergehen, wenn eine Supergrippe uns fast alles nimmt? Würden wir überleben oder wären wir aufgeschmissen beim Tritt in den ersten rostigen Nagel? Oder ohne googeln zu können wie man in der Natur überlebt? Welche Pflanze essbar ist? In Gedanken immer das bequeme Es-war-einmal. Ein großer Teil des atmenden Organismus Station Eleven sind dann aber eben auch die Charaktere.
Neben Kirsten, Jeevan und dem Propheten spielen noch eine Menge mehr Personen eine Rolle. Ich würde sie gern alle aufzählen, weil sie alle wichtig sind. Und v.A. weil sie alle füreinander wichtig sind. Alles ist verbunden gilt mittlerweile als Plattitüde und viel zu oft beanspruchtes Muster. Aber hier fühlt man noch, dass diese Begegnungen Bedeutung haben. Trotzdem kann ich keine vollständige Aufzählung machen und fast alles ist ein Spoiler, eine Entdeckung, die ich euch nicht nehmen will. Natürlich wird es eine zentrale Frage wer von ihnen die Grippe überlebt, es schafft mit seinem oder ihrem Leben trotz Allem weiterzumachen.
Das Spiel geht aber natürlich nicht nur in eine Richtung – sehen, was aus ihnen geworden ist. Lernen, warum survival insuffient ist. Verstehen, ob I repent nothing wahr ist. Sondern auch beim Blick zurück, wenn wir beispielsweise lernen wie der Prophet wurde, was er ist. Und wir verstehen, woher seine abstrusen und gefährlichen Gedankengänge kommen.
Es ist denke ich korrekt zu sagen, dass Kathrin und ich eine Menge Spaß dabei hatten all das zu sezieren. Zwar kannte ich schon die Serienadaption des Romans, aber es gab trotzdem eine Menge zu entdecken und nochmal zu fühlen. Die Serie ist letzten Endes ein ganzes Stück anders. Wir haben auch die Vermutung geäußert, dass wir ohne Corona und unsere eigenen Pandemieerfahrungen die Supergrippe im Roman für etwas unwahrscheinlicher gehalten hätte, alles etwas überdramatisch. Nun, so fühlt sich das nicht mehr an. Und alles an dem Buch ist nahbar. Das Sehnen nach dem Früher, das Sehnen nach verlorenen Lieben, das Sehnen nach dem „das war schon mal leichter“, das Sehnen nach dem Bekannten und das suchen, suchen, suchen.
„That first year everyone was a little crazy.“ (p.243)
Fazit
Unfassbar schönes Buch, das sich keinem Genre zuverlässig zuordnen lässt.
Besprochene Ausgabe: ISBN 978-1-4472-6897-0, Picador
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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