Eigentlich wollte ich so kurz vor Weihnachten etwas anderes, gemütlicheres besprechen. Dann aber steht ja die fünfte Jahreszeit der Blogger bevor – die Rückblick-Season. 🤔 Und da wird sicherlich darüber geredet, was die besten Bücher sind, die man gelesen hat. Nino Haratischwilis Buch mit dem sperrigen Namen Das achte Leben (Für Brilka) gehört definitiv zu den besten Büchern, die ich in diesem Jahr gelesen habe. Auch ist es mit 1275 Seiten das dickste und mein erstes von Haratischwili überhaupt. Das sind viele Superlativen – und die hat das Buch auch verdient. Es war übrigens eine Empfehlung! Vielen Dank nochmal! Auch wenn Freud und Leid in dem Buch nah beieinander liegen, ich Tränen vergossen, aber eben auch viele liebenswerte Charaktere kennengelernt habe.
Erzählerin Niza gibt in acht Kapiteln ihre Familiengeschichte wieder. Beginnend bei einem Schokoladenfabrikanten in Georgien, der das Rezept zur besten Trinkschokolade überhaupt hat und sich bald schon fragen muss, ob sie verflucht ist. Das Glück will einfach nicht an seiner Familie haften bleiben und es erweckt den Eindruck, als ob das Unglück vor Allem nach dem Verzehr der süßen Köstlichkeit seinen Lauf nimmt. Eigentlich ist es aber die Weltpolitik und so manche Entscheidungen, zu denen sie seine Nachfahren zwingt oder die diese im unerschütterlichen Glauben „an die Sache“ treffen. Seine Nachfahren werden überzeugte Soldaten, gequälte Musikerinnern, fast ein Leben lang halbseitig Schleier tragen, können Geister sehen und begnadet pokern. Sie durchleben den Sturz des Zaren, mehrere politische und wirtschaftliche Systeme, Kriege und Reformen, mehrere Staaten und Diktatoren. Sie verlieben sich, bekommen Kinder, werden verlassen oder verlassen andere. Das Buch endet bei der letzten in dieser Kette, die sich selber Brilka nennt und der Niza das Buch widmet.
Der Roman ist in acht Kapitel bzw. „Bücher“ aufgeteilt, die jeweils den Namen einer Person aus Nizas Familie tragen und diese fokussieren. Aber eigentlich erzählen sie den Werdegang aller weiter. Auch vieler Nebencharaktere, von denen ich die meisten sehr ins Herz geschlossen habe. Haratischwili gelingt dabei das Kunststück es nie unübersichtlich werden zu lassen. Den Stammbaum hinten im Buch hätte ich nicht mal gebraucht. Bis auf Nizas Prolog wird chronologisch erzählt, was sehr hilfreich ist, um den Überblick zu bewahren. Eher verwirrend war für mich, dass die Dialoge mit Bindestrichen bzw. Aufzählungszeichen beginnen. Sie haben es mir manchmal schwer gemacht zu folgen, wer gerade spricht. Das mag aber sicherlich sehr subjektiv sein.
„An das East End hatte sie sich gewöhnt. Dort lebten viele wie sie. Dort fiel sie niemandem auf. Hier schien sogar ihr Schatten aufzufallen, den sie in ihrer Mittelosigkeit auf diese Straße warf, zu groß, zu rau, zu proletarisch für diesen Boden, diese Häuserwände, diese Fensterscheiben.“
p.464
Die 1275 Seiten zogen rasch an mir vorbei, was allerdings auch daran lag, dass ich in die Charaktere und ihr Schicksal sehr involviert war und spannend empfand zu sehen, wohin die Reise für sie geht. Involviert bedeutet starke Gefühle – manche von ihnen habe ich sehr abgelehnt, andere geliebt. Natürlich liegt es nicht nur daran wie Nino Haratischwili ihren Familienepos aufgezogen hat, sondern daran wie sie allgemein schreibt. Haratischwili weiß wie man Gerüche, Geschmäcker und Bilder festhält. Estragon, Granatapfel und Schokolade sind bei mir vor Allem hängen geblieben. Sie ist eine Meisterin der Aufzählungen und diese geschickt zu einer Pointe zu verflechten. Das achte Leben ist ein Schatz an Zitaten und empathischen Worten. Es blätterten kaum zehn Seiten an mir vorüber, auf denen ich mir nicht gern etwas markiert hätte.
„Er hatte vergessen wie es sich anfühlte zu fühlen.“ (p. 271)
Ist Trauma vererbbar? Ich habe sowas mal gelesen: dass Trauma in die DNA übergehen kann. Nur erschien mir das nicht sehr wissenschaftlich. Vielleicht können Mangel, bestimmte Ängste und Sichtweisen die Erziehung beeinflussen – also quasi vererbbar/erlernbar sein. Aber bis in die DNA? Wenn man Das achte Leben liest und die Personen kennenlernt, die am Ende dieses Stammbaums stehen, allen Voran Niza und Brilka, dann könnte man aber denken, dass Trauma tatsächlich bis in die DNA einweicht. Es springt einem aber doch ins Auge, dass inmitten dieses niedergeschriebenen Stammbaums und dieser Chronik die Frauen diejenigen sind, denen am übelsten mitgespielt wird. Das heißt nicht, dass nur sie leiden. Auch die Männer sind Opfer ihre Umstände. Nur sehen sie das oft nicht so, geben den Umständen verhältnismäßig oft nach, sind feige oder werden Täter. Häufig ohne das zu sehen oder zu hinterfragen. Außer wenn es zu spät ist.
Den Frauen in diesem Roman wird nicht zugehört, Gewalt angetan, sie werden sitzen gelassen, sie suchen ihre Männer und Kinder im Krieg, müssen fliehen oder werden zur Flucht gezwungen. In einer der für mich schockierendsten Szenen wird eine von ihnen gefoltert. Wobei das Wort „Folter“ hier noch ein fast schonendes Synonym ist. Ihr Schicksal hat mich nach langer Zeit mal wieder beim Lesen eines Buches zu Tränen bewegt und bis in den nächsten Tag hinein gelähmt. Kein Wunder also, dass die Ambitionen der Frauen im Keim erstickt werden. Zu Beginn des Buches wollen sie Tänzerin werden, reiten durch die Steppe, sind mutig, wollen Mathematik studieren, hauen übergriffigen Männern eine rein und trotzen der Welt. Am Ende ihrer jeweiligen Geschichten wird man mehrere Male versucht haben sie zu brechen. Mal durch die politische Lage, Ignoranz und Mysogynie, durch Mangel, durch die „besseren Pläne“ ihrer Großväter und Väter oder durch die Umstände, die ihnen gewaltsam aufgezwängt werden.
„Und es ist traurig, dass du, egal wie viele Heldentaten du für dein Land noch vollbringen magst und welche Orden sie dir dafür noch überreichen werden, immer schwach bleiben wirst, schwach vor den Frauen, denn du hast es anscheinend nicht gelernt, sie zu deinen Freunden zu machen.“
p.586, Nana zu Kostja
„In seinen Augen hatte sie die besten Voraussetzungen für ein glanzvolles Leben, alles, worauf er beim weiblichen Geschlecht Wert legte: einmalige Schönheit, die angeborene Fähigkeit, ihren Willen tänzelnd und lächelnd durchzusetzen, die traumwandlerische Selbstsicherheit, die mit solch einer Schönheit einhergeht, und den Gehorsam eines dressierten Zirkuspferds.“
p.682, über Kostja und Daria
„Ja, wenn der Osten einen einmal umarmt und festgehalten, wenn man sich einmal am Osten verschluckt hat, dann bleibt er.“ (p.579)
Obwohl oder gerade weil es ein Familienepos ist, erzählt der Roman nebenbei die Geschichte Georgiens, der Sowjetunion und Osteuropas wie sie von sechs Generationen durchlebt wird. Bis ganz zuletzt im Roman bleiben manche der Personen unter Pseudonymen, die sie offenbar auch ganz gut charakterisieren. Stalin wird hier der „Generalissimus“ genannt, Lawrenti Beria ist der „Kleine Große Mann“. Andere werden bei Namen genannt. Die einzelnen Abschnitte innerhalb der acht Leben bzw. „acht Bücher“ sind durch Propaganda-Wahlsprüche, Liedtextauszüge und Zitate gegliedert, die den jeweiligen Zeitgeist helfen einzufangen. Es wirkt als ob man mehrere Länder um die Familie herum zerbröckeln sieht und erinnert sich an die eigenen Privilegien. Nur Brilka, die am Ende dieser Kette steht, kann das nicht so sehen. (Trauma erben?) Aber sie hat eine echte Chance dem Fluch zu entgehen. Der weniger mit Trinkschokolade zutun hat.
„Schokolade war nur noch ein Andenken an eine andere Epoche, und ohne Schokolade vergaß man die Süße und ohne Süßes vergaß man die Kindheit und ohne Kindheit vergaß man den Anfang und ohne den Anfang erkannte man nicht das Ende.“
p.281
Einige der Sowjet-Marken habe ich aus den Erzählungen meiner Eltern aus der DDR wiedererkannt – oder gar noch aus meiner eigenen Kindheit. Das achte Leben zu lesen war wie Bindeglieder zwischen all den losen, historischen Fakten über Osteuropa zu bekommen. Als ob jemand mein übrig gebliebenes Geschichtswissen genommen und zusammengekittet hätte. Dankbarerweise mit einem Ausflug in ein Land, über das ich bisher wirklich wenig wusste, außer dass die Schrift hübsch aussieht, dass es sich vor Putin fürchtet. Was meistens zu recht ist und jetzt verstehe ich noch viel besser warum. Es ist fast bittere Ironie, dass während ich den Roman las, auch Nachrichten aus Georgien über den Bildschirm flimmerten, in denen die Bevölkerung darin demonstrierte, dass entgegen ihres Willens die EU-Beitrittsbemühungen aufgeschoben werden. Währenddessen „ordnet“ das nächste Staatsoberhaupt an, dass es keinen Maidan in Georgien geben würde. Schreibt sich die Geschichte über das Buch hinaus weiter, fragte ich mich?
„Du hast gemeint, es sei ein Lied über die Kindheit, und mich damals gefragt, wo man die Kindheit denn aufbewahre, und ich weiß noch, dass ich dir geantwortet habe, man halte sie zwischen den eigenen Rippen versteckt, in den kleinen Leberflecken und Muttermalen, im Haaransatz, oberhalb des Herzens, in den Ohren oder im Lachen.“
p.879, Niza zu Brilka
Mit Brilka kam ich gar nicht so gut klar, muss ich gestehen. Kostja hat mich maßlos aufgeregt. Kitty hätte ich gern in den Arm genommen und gesagt, dass alles gut wird. Georgi hätte ich gern gesagt: öffne die Tür nicht, als sein Freund davor stand. Ida hingegen hätte ich gern gesagt: öffne die Tür! Am Ende sind es sogar noch viel mehr als diese acht Leben, die erschüttern, bewegen und lange nachhallen. An dieser Stelle dürfte kein Zweifel mehr bleiben. Das achte Leben (für Brilka) ist kein Fun-Buch. Aber es ist ein sehr gutes und eins, das wohl immer aktuell bleiben wird.
„Und wenn du nicht weißt, wer du bist, such dir aus allen Möglichkeiten deines Ichs die Unmöglichste aus und werde es, […].“
p.1068, David zu Niza
Fazit
Spannender Familienepos, der die Geschichte Georgiens und Europas scheinbar mühelos erzählt, darüber hinaus tief berührt.
Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-548-28927-4, Ullstein Verlag
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂 Dieser Beitrag ist außerdem Teil des Booleantskalenders 2024 – unter dem Link findet ihr alle anderen Türchen zur Vorweihnachtszeit.
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