Inhalt
Alan Mathison Turings Biografie aus der Feder von Andrew Hodges beginnt mit Turings Eltern, Alans Geburt 1912 und seiner Kindheit und bewegt sich von da an geradlinig durch die Geschichte. Alan Turings Schulzeit und wichtige Momente seines Lebens werden geschildert als die eines Kindes, das ein bisschen anders ist als die anderen. Ein empfindsamer Junge, der sich seinen Experimenten auf den Gebieten der Chemie, Physik und Astronomie widmet. Und der sich in seinen Mitschüler verliebt. Dieser Junge wird später zu einem Logiker, einem Mathematiker, einem vielseitigen Wissenschaftler, einem geheimen Kriegshelden und er wird als Verbrecher gebrandmarkt werden, einzig und allein wegen seiner sexuellen Orientierung. In einer Zeit in der Homosexualität strafbar war, scheint niemand zu sehen was Turing in Bletchley Park verrichtet hat. Dort wo die Enigma und der Code der deutschen Wehrmacht im zweiten Weltkrieg entschlüsselt wurde. Mit seinen Lehren und Ideen legte er danach den Grundstein zur Informatik. All diese Momente von Turings Lebens werden in der Biografie aufgegriffen und bis ins kleinste Detail recherchiert dargelegt. Bis zum bitteren Ende.
Hintergrund
1983 erschien erstmalig Andrew Hodges Biografie von Alan Turing, die daraufhin große Ansehen genoss, oftmals neu aufgelegt wurde und jüngst als Grundlage für die Verfilmung von Turings Lebensgeschichte diente. Kein Wunder, dass Hodges als der Turing-Kenner schlechthin gilt: sein Wälzer von einer Biografie ist extrem gründlich recherchiert und widmet sich abwechselnd Turings Lehren, seinem öffentlichen Leben, seiner Familie und seinem privaten Leben. Das schließt u.a. ein wie er mit seiner sexuellen Orientierung umgegangen ist. Besonders auffällig ist aber der Detailgrad der in den wissenschaftlichen Passagen liegt, sowie in der Schilderung damaliger Werte und geschichtlicher Aspekte. Dass Hodges Fotografien einbindet, habe ich gehofft. Dass er aber so viele Briefe und ein so akkurates, viele Seiten umfassendes Quellenverzeichnis vorzuweisen hat, ist gigantisches und lässt andere Biografien aussehen wie einen 5-Groschen-Arztroman. (Besonders Biografien gewisser C-Prominenz … .)
Ich habe Informatik studiert und hatte daher vorher schon Kontakt mit Turings Lehren und Turings Leben. Und ich war sehr nervös, als es hieß, dass der Stoff rund um Enigma, Bletchley Park und Turing verfilmt wird. Und das auch noch mit Benedict Cumberbatch – einem meiner erklärten Lieblingsschauspieler. Allerdings war ich eher unzufrieden mit der filmischen Umsetzung. Mein Eindruck war, dass die Geschichte etwas ausgeschlachtet und Turing verweichlicht und extra sonderbar-nerdig dargestellt wurde. Wie das gängige Vorbild des Mathematikers oder Informatikers, dem nachgesagt wird, nicht gut mit Menschen zu können. Einige technische Darstellungen und Behauptungen waren meines Erachtens nach auch einfach falsch. Wurde das möglicherweise angepasst, um dem Massenpublikum gerecht zu werden? Mit Sicherheit.
Umso mehr Ansporn hatte ich mir jetzt tatsächlich die Biografie zu Gemüte zu führen. Dazu wird in den kommenden Tagen ein eigener Artikel erscheinen, aber mein Urteil nehme ich vorweg: der Film hat hier und da einige Punkte aus Turings Leben herausgegriffen, ist aber ansonsten scheinbar weiter vom tatsächlichen Geschehen weg, als ich erwartet hatte. Viele Details wurden überdramatisiert oder gar erfunden. Besonders krass ist wie stark das Geschehen in Bletchley verfremdet wurde – auch in rein technischer und mathematischer Hinsicht. Turings Charakter schien wirklich spleenig zu sein – er hatte Eigenheiten. Wenn ihm jemand langweilig erschien, hat er sich auf dem Absatz umgedreht und ist weg gegangen. Er galt als schüchtern und hat selten Blickkontakt gesucht. Auch gab er nicht viel auf Äußerlichkeiten. Aber im Buch kommt er doch sehr anders rüber, als in dem Film. Dass er es schwer mit Menschen hatte, kommt mir sogar wie eine Erfindung des Films vor. Im Buch kann man sich davon überzeugen, dass er nicht wenige Freunde hatte, mit denen er regelmäßig schrieb, Urlaub machte etc. und dass er sogar ein gewisses Ansehen genossen hat und insbesondere jüngere Wissenschaftler zu ihm aufsahen. Unumstritten ist aber, dass ihm so oder so viel weniger Aufmerksamkeit zuteil wurde, als er verdient hätte. Bedingt u.a. dadurch, dass seine Arbeit in Bletchley Park Geheimsache war.
Meinung
Wo fange ich da nur? Mit einer Warnung. Alan Turing: Enigma ist keine Unterhaltungslektüre. Es ist ein wahnsinnig gutes Buch, eine extrem detaillierte Biografie und sehr wissenschaftlich. Das Vorbild, die Urmutter aller Biografien über einen Wissenschaftler. Aber es ist keine Unterhaltungslektüre. Die wissenschaftlichen Passagen sind relativ allgemein gehalten, sodass man die Ausführungen zu Astronomie, Chemie und Biologie sehr gut verfolgen kann. Aber dann ist da die Mathematik, Informatik und Maschinenbau. Das ist gleichzeitig Fluch und auch Segen für diejenigen, die sich an die Biografie rantrauen. Ich kannte die deutliche Mehrzahl der Theoreme, Theorien und mathematischen Lehren, konnte dem ganzen folgen, hatte ein paar Aha-Effekte („So war das damals also!“ oder: „Die haben parallel daran geforscht!“), fühlte mich aber auch ein bisschen wie in eine Vorlesung zu Linearer Algebra oder Automatentheorie versetzt. Da ich oft in den Abendstunden lese, war das manchmal aber auch ermüdend. (Ich bin Softwareentwicklerin und habe den ganzen Tag Quelltext und Zahlen um mich…) Und es war ein Wechselbad der Gefühle. Fand ich es im einen Moment noch langweilig, wurde plötzlich mit so vielen bekannten Namen um sich geworfen (Shannon, Nyquist, Gödel, Newman, Lovelace, McCulloch & Pitts, unvm), dass ich mich ehrlich gefreut habe, so viele Dinge aus meinem Studium hier wiederzufinden. Und das obwohl ich so manchen mathematischen Beweis an der Uni eher gehasst habe …. . Nun stellt sich mir die Frage: ist das spannend für jemanden, der sich damit nie auseinandergesetzt hat? Schließlich ist das fundamental anders als Schulmathe und für die meisten sicherlich sehr trocken. Daher: keine Unterhaltungslektüre. Ich würde soweit gehen und dem Leser raten, diese wirklich sehr gute Biografie zu lesen, wenn 1. man mit den vielen wissenschaftlichen Passagen leben und sie überlesen kann oder 2. wenn man einen entsprechenden Hintergrund hat und sich sehr dafür interessiert.
Etwas woran ich wirklich weniger Gefallen gefunden habe, war wie ausgesprochen ausführlich das Buch ist. Die ersten hundert Seiten habe ich als sehr dröge empfunden. D.h. beispielsweise Turings Kindheit, das Schulsystem zu der Zeit, wie sich seine Eltern kennenlernten usw. Das ist alles sehr in die Länge gezogen und hat es mir eher schwer gemacht. (Danach gings los mit Mathe 😉 yay.) Um noch einigen Erwartungen vorzubeugen: verlasst euch nicht darauf eine so ausführliche Schilderung der Zeit in Bletchley vorzufinden. Diese Jahre nehmen nur einen verhältnismäßig geringen Teil des Buches ein. Möglicherweise, weil einfach vieles Geheimsache war. Nichtsdestotrotz hatte ich viel Spaß mit der Biografie und habe auch einige bittere Minuten gehabt. Schließlich wissen wir schon wie es ausgeht, nicht wahr? 🙁 Eine großartige Erkenntnis entstand außerdem aus dem Lesen des Romans: wie lebhaft und fortschrittlich die Mathematik und beginnende Informatik damals war. Wieviele ineinandergreifende Theorien geboren wurden, wieviele Wissenschaftler im Austausch miteinander standen! Ist das heute noch so lebendig? Ich glaube nicht. Und Turing ….? Hat über das elektrische Gehirn gesprochen, über Maschinen die eines Tages wie Menschen denken werden und war der erste, der sagte, dass eine Maschine einmal alles können wird und nicht nur eine Aufgabe verrichten wird. Nicht nur dekodieren oder rechnen oder Schach spielen. Alles. Er war seiner Zeit voraus. Dieser Alan Turing wird als liebenswert auf seine eigene Art beschrieben, mit einer wissenschaftlichen Sturheit, einem „Erklärgeist“, seinen Macken, mit Hintergedanken und Bildern von Männern in seinen Büchern, mit dem Wunsch nach einem Sexualleben – er lebt nicht nur von Zahlen, seiner enormen wissenschaftlichen Bandbreite und dem tiefen Gefühl nicht genug gewürdigt zu werden. Und mit ein paar verdammt guten Sprüchen auf Lager. Und einer, dem ich gerne einmal in meinem Leben begegnet wäre, auch wenn er mich wahrscheinlich so langweilig gefunden hätte, dass er sich einfach umdrehen und weggehen würde. 😉
Fazit:
Für Leute die 1. entweder viel Ahnung von Mathematik und Informatik haben, oder 2. über entsprechende Passagen mit viel Ausdauer hinweglesen können. In jedem Fall aber für Leute, die sich sehr sehr stark für Alan Turing interessieren. Aktuell ist die englisch-sprachige Taschenbuchausgabe am günstigsten mit rund 15€ im Gegensatz zu deutschen „Sammlerausgaben“.
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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