Ich war im Urlaub. Und da wo ich im Urlaub war, lief in den Kinos bereits ‚Mr. Holmes‘. Sehr zu meiner Freude! Kinostart in Deutschland ist leider erst im Dezember und ich fieberte dem Film bereits sehr entgegen, weil ich auch schon seit meiner Kindheit ein Sherlock-Holmes-Fan bin. Dass der großartige Sir Ian McKellen ihn nun verkörpert, erscheint mir wie ein unumstößlicher Fakt. So als ob es schon immer bestimmt gewesen wäre so zu sein und man sich fragt: warum erst jetzt?? So stand beim Blick auf das Kinoprogramm sofort fest, welchen Film ich anschauen würde. Und dann auch noch im O-Ton. Perfekt. Spoilerfrei.
Worum gehts?
Sherlock Holmes (Ian McKellen) ist inzwischen stolze 93 Jahre alt und sein Gedächtnis lässt ihn im Stich. Das Wort senil hängt im Raum. Sein legendärer Ruf umgibt ihn immer noch wie eine Aura. Die Menschen denen er begegnet sagen „Ist er das? Ist das nicht … ?“ Seine Haushälterin Mrs. Munro (Laura Linney) sieht das etwas anders. Für sie ist er lediglich ein alter, zänkischer Mann. Ihr Sohn Roger (Milo Parker) ist fasziniert von der Auffassungsgabe von Sherlock und von seinen Fällen. Er eifert dem inzwischen alten Mann nach, während der krampfhaft versucht seinem müden Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen und den Fall zu lösen, bei dem er scheiterte. Wenn er sich doch nur erinnern könnte.
Hintergrund
Mehr als 70 Schauspieler haben bisher die Figur Sherlock Holmes verkörpert. Gleichbedeutend mit dem Umstand, dass es weitaus mehr als 70 Adaptionen des Holmes-Stoffes von Sir Arthur Conan Doyle gibt. Dazu zählen auch Comics und Spiele aller façon. Man geht davon aus, dass es sich dabei um den am meisten adaptierten Stoff überhaupt handelt. Kein Wunder, Sherlock Holmes und Dr. Watson sind berühmt. Damals wie heute. Sherlocks kurzweiliger Roman-Tod hat die Leute damals sogar dazu bewegt schwarze Armbinden zu tragen und öffentlich zu trauern. Und das für eine fiktive Figur! Mich nimmt sowas ja auch immer sehr mit 😉 In der Zwischenzeit gab es zahlreiche, kreative Abwandlungen des Stoffes in Film und TV. Filme über Sherlock als Kind, das bereits Fälle löst. Sherlock als gefeierter Detektiv, obwohl Watson in Wirklichkeit die Fälle löst. Sherlock als Drogensüchtiger. Sherlock und John Watson im heutigen London (BBCs Sherlock mit Benedict Cumberbatch und Martin Freeman). Und auch eine weibliche Interpretation von Watson: Joan, gespielt von Lucy Liu in Elementary. Oder Sherlock und John als Ärzte in Dr. House. Wo wir gerade über Watson sprechen: der tritt in diesem Film übrigens nicht direkt auf. Und um noch einen drauf zu setzen bei diesem kleinen Rückblick und der Diskussion über den Bekanntheitsgrad der Figuren: ich kenne Leute, die wirklich viele Jahre lang dachten, dass es Sherlock Holmes und Dr. Watson wirklich gegeben hat. Schade, dass ich ihnen diese schöne Illusion nehmen musste. Der Film ist übrigens die Adaption des Romans A Slight Trick of the Mind von Mitch Cullin, also keine Holmes-Geschichte vom Erfinder der Figuren Sir Arthur Conan Doyle.
Wenn man sich all das vor Augen hält, ist es schon eine bittere Ironie, dass so eine bekannte Figur mit so einem scharfen Verstand eines Tages beginnt sein bewegtes Leben zu vergessen. Eine Tragödie. Und tatsächlich ist Mr. Holmes mehr ein Drama, als ein wirklicher Krimi. Aber ein charmantes Drama.
Fazit
Bill Condon hat schon einmal mit Sir Ian McKellen zusammengearbeitet: für den Film Gods and Monsters, ein ebenso exzellentes Charakterdrama. Umso mehr hat es mich überrascht, dass er auch The Twilight Saga: Breaking Dawn Teil 1 und 2 gemacht hat … das Leben hält immer wieder Überraschungen bereit. Condon beweist in seiner Umsetzung sehr viel Gespür für die richtige Mischung aus Rückblicken und Stimmungen. Mr. Holmes spielt auf 3 Zeitebenen. Dabei fühlt man sich als Zuschauer in keinem Moment so verwirrt wie es sich für den gealterten Sherlock anfühlen muss, kann die Situationen trennen und jederzeit identifizieren. Ian McKellen spielt das einzigartig – sein Sherlock ist ein alter, gebrechlicher Mann, der mich ehrlich gesagt sehr an meinen eigenen Großvater erinnert, weshalb ich viel Mitgefühlt für ihn hatte und fast ein Tränchen im Auge. Dieser Sherlock leidet unter dem nahenden Verlust seiner Erinnerungen und versucht dem entgegen zu wirken. Mit Notizbüchern, Krakeleien und scheußlich schmeckendem japanischen Pfeffer (prickly ash). Seine Bewegungen sind die eines gebrechlichen Mannes, er schläft ein, obwohl er gar nicht will und ist herrlich störrisch und nörglich und gibt sich keine Mühe mehr das zu verstecken. Sie haben Ian McKellen die Maske eines 93-Jährigen mitsamt Altersflecken und schlaffen Gesichtszügen verpasst und McKellen spielt das komplett aus. Die müden Gesichtszüge, die träge Zunge, der abwesende Ausdruck, die Gesten sehr alter Menschen – wie mag sich das für McKellen angefühlt haben, der selber auch kein junger Hüpfer mehr ist? Gleichzeitig spielt er aber auf einer anderen Zeitebene einen Sherlock, der zwar auch bereits nicht mehr jung, aber noch fit ist. Stolz, agil, britisch, ein bisschen einsam und von einer scharfen deduktiven Auffassungsgabe. Und wenn man ihn so dabei beobachtet, denkt man: McKellen war es schon immer. Er ist Sherlock. Es ist als würde er alles auslöschen, was davor gewesen ist. Zumindest war das für mich so und das sage ich als großer Fan der BBC-Serie nicht leichtfertig.
Auch die anderen Darsteller liefern exzellente Leistungen. Ich war sofort ein Fan von Roger und habe auch Mrs Munro ihren inneren Kampf abkaufen können. Laura Linney sehe ich wegen ihrer Natürlichkeit sowieso gern. In einer Nebenrolle ist Hiroyuki Sanada zu sehen, für den ich mir einen größeren Auftritt und mehr screen time gewünscht hätte (ich hab ein déjà-vu – das sage ich jedes Mal, oder? Warum hört auch kein Filmmacher auf mich!?) Die Atmosphäre changiert in einem perfekten Maß zwischen der Spannung eines gediegenen Krimis in bester Holmes-Manier, einer augenzwinkernden Komödie und einem Charakterdrama. Das Drehbuch greift Elemente der Sherlock-Holmes-Geschichten auf: Watson und wie er die Fälle aufschrieb, der (fiktive) Diogenes-Club, Sherlocks Hang zur Imkerei und die Einsamkeit, die mit einem klugen Geist manchmal einhergeht. Es finden sich aber auch kritische Aspekte, die mit Vorurteilen aufräumen wie die Mütze und die Pfeife, die angeblich Sherlocks Markenzeichen sind. Inwiefern das auch so in der Literaturvorlage von Cullin erwähnt wird, kann ich nicht sagen, weil ich sie nicht kenne. Aber jeder Sherlock-Fan weiß um diese Pseudo-Merkmale und die Entstehung durch die Zeichnungen Bescheid, oder? 😉 Alles in allem ist es für mich ein rundum gelungener Film mit einem tollen Cast und dem perfekten Gefühl für das Mittelding aus Drama, Krimi und leichter Komödie. Neben all den actiongeladenen Guy-Ritchie-Sherlock-Filmen und der Anhäufung an scheinbar irrelevanten Adaptionen (Elementary, I’m looking at you), könnte man fast sagen: brauchen wir denn noch einen Sherlock-Film? Eher nein. Aber den hier brauchen wir auf jeden Fall.
(9/10)
Fiebert ihr dem Film auch so entgegen? Wart ihr schon Mal im Ausland im Kino und wie waren eure Kinoerlebnisse da? War dort irgendwas anders? Lief dort alles im OTon oder mit Synchro? Auf welchen Film wartet ihr dieses Jahr noch sehnsüchtig? Und welche Sherlock-Personifikation empfindet ihr bis jetzt als die gelungenste?
Ich sollte ab jetzt immer ins Ausland ins Kino fahren … Moment …
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