Wir lesen … „1984“ #WinstonsDiary (I)

Die letzte „Gemeinsam-Lesen“-Aktion ist noch nicht lange her, aber wir gehen in die Verlängerung und haben sogar Zuwachs in unserer Runde bekommen! Nachdem Kathrin von phantásienreisen.de und ich im März und April „Gehe hin, stelle einen Wächter“ gelesen haben, soll es nun der Klassiker 1984 von George Orwell sein. Zu uns gesellt sich diesmal auch Svea vom Blog Läsglädje. Wir werden immer mehr!! HA! Und wie immer könnt ihr unsere Entdeckungen, Zitat-Schätze und Gedanken bei Twitter mitverfolgen. Diesmal unter #WinstonsDiary. Meine kleine Zusammenfassung des bisher gelesenen ist weitestgehend spoilerfrei und deckt den ersten Teil des Buchs ab, das bedeutet bei dieser Ausgabe bis S. 107.

george-orwell-1984

Winstons Diary?

Der Hauptcharakter ist Winston Smith, ein 39-Jähriger Mann. Er lebt in einem fiktiven, totalitären Regime im Jahr 1984 in Airstrip One im Staat Oceania (Ozeanien). Der aufmerksame Leser weiß bald, dass sich dahinter Großbritannien verbirgt oder zumindest das, was davon nach vielen Kriegen noch übrig ist. Ob es aber wirklich 1984 ist, kann keiner so genau sagen. Das Regime im Buch nimmt es sich nämlich heraus den Menschen das Denken abzunehmen und die Geschichtsschreibung genauso leichtfertig abzuändern und neu zu dichten wie Aspekte des alltäglichen Lebens. Das beginnt im Kleinen (die Ziffernblätter der Uhr zeigen 24 Stunden) und endet im Großen (Andersdenkende werden konsequent verfolgt und vernichtet). Winston tut sich schwer mit dieser Welt in der er lebt und beginnt ein Tagebuch zu schreiben. Ein sehr gefährliches Unterfangen, denn wenn jemand das mitbekommt, dann ist er dran. Menschen verschwinden einfach, werden ‚vaporized‘ – sie werden vollkommen ausradiert. Auch aus der Gegenwart. Alle Beweise ihrer Existenz werden vernichtet. Aber Winston schreibt trotzdem. Und das trotz der totalen Überwachung.

April 4th, 1984

Das ist der Tag an dem Winston sein Tagebuch beginnt, die ersten Worte und der Zeitstempel. Das Buch 1984 ist nicht gleichzusetzen mit Winstons Tagebuch – es liest sich wie ein Roman. Der Leser erlebt aber immer und immer wieder wie Winston sein Tagebuch pflegt und füllt. Im ersten Drittel des Buches erfahren wir wie es sich in der Welt im Jahr 1984 lebt. Winstons Arbeit ist monoton. Die Welt um ihn herum grau, ärmlich und gleichförmig. Niemand lebt selbstbestimmt, aber alle sind durch das Regime vollkommen eingelullt und wurden so konsequent eingeschüchtert, dass sie es nicht einmal mehr merken und die Konformität einfach ertragen. Manche sogar genießen. Für viele ist das Leben total normal. Die allgegenwärtigen Ansprachen des großen Führers BIG BROTHER (Großbuchstaben und Wortwahl sind ganz bewusst so gewählt). Die Überwachung ist allumfassend: versteckte Mikrofone und Kameras machen es möglich. Die Leitsätze und Feindbilder werden den Menschen durch die Bildschirme und darauf laufenden Programme eingetrichtert, die allgegenwärtig sind. Andersdenkende werden vernichtet. Die Lebensmittel und Alltagsgegenstände sind rationiert und es mangelt an vielem. Bücher, Medien und Sprache werden kontrolliert. Journalismus gibt es nicht, zumindest keinen freien. Alles was veröffentlicht wird, läuft durch die Hände von Menschen wie Winston, die alles BIG-BROTHER-konform machen. Statistiken werden gefälscht und geschönt. Die Geschichtsschreibung ebenso. Außerdem ist Oceana im Krieg mit Eurasia. Das Feindbild wird überall verbreitet. Andersdenkende werden von der Thought Police, der Gedankenpolizei, geschnappt und es ist mehr als unwahrscheinlich, dass sie das irgendwie überleben. BIG BROTHER IS WATCHING YOU. Das schlimme daran ist: die Menschen scheinen sich nicht mehr annähernd zu erinnern, dass das Leben nicht so sein muss.

„Ich mach mir die Welt, widewide wie sie mir gefällt“

Es ist erstaunlich, geradezu gespenstisch, wie Big Brother und die party (Partei) die Geschichtsschreibung umdichten und die Menschen es akzeptieren. Akzeptieren müssen? Von Anfang an dachte ich, dass es Andersdenkende geben muss. Winston ist einer. Er hält das System nicht aus, obwohl er nur wenig Erinnerung hat. Aber ohne einen Ankerpunkt fängt man wohl irgendwann tatsächlich an zu glauben, dass die Welt so sein muss und immer so war. Winstons Neugier holt ihn nach und nach aus der grauen Welt der Partei raus und er beginnt den Fehler im System zu sehen und sich zu emanzipieren. Aber kann es wirklich so sein, dass soviele Menschen nicht aufstehen, nicht revoltieren, sich nicht verbünden und sich nicht auflehnen? Kann man die Geschichte wirklich löschen und die Menschen vergessen wie die Welt mal war? Oder schweigen aus Angst vor Verfolgung und Tod? So weit war die Welt schon Mal, aber man kann es kaum fassen. Und kann man mit Phrasen und Schlagworten die Emotionen aus ihnen herauspressen? Sie für die Arbeit optimieren? Liest man 1984, bekommt man den Eindruck, dass das funktioniert. Und das tut sehr weh. Es fesselt, es ist spannend, es macht fassungslos, aber es tut schon weh.

Einer der Punkte, der mich immer wieder zum Kopfschütteln bringt ist Newspeak. Die vom Regime entwickelte neue Sprache setzt auf Englisch auf, ist aber auf zweifelhafte Art optimiert und gibt das Denken und das Gesellschaftsbild wider. Anstatt sehr gut oder exzellent zu sagen, ist es doch vollkommen ausreichend plusgood zu sagen. Und anstattschlecht ist es doch auch effizienter ungood zu sagen, oder? Spart auch unheimlich Vokabular. So effektiv dieses Newspeak. Aber es bleibt nicht bei solchen Verschmälerungen der sprachlichen Vielfalt. Unperson ist ein Andersdenkender. Goodsex ist der Geschlechtsverkehr zum Zwecke ein Kind zu zeugen. Ein aufrechtes Mitglied der Gesellschaft, einen treuen Arbeiter – ja das ist eine gute Sache. Wer zu einem anderen Zweck Sex hat, begeht sexcrime. Das lässt durchschimmern was die Gesellschaft in 1984 missbilligt oder gefälligst zu missbilligen hat. Aber es hat sich noch nicht eindeutig durchgesetzt: Newspeak wird stets weiterentwickelt und das Ziel ist, dass die Leute nur noch Newspeak sprechen. Das tun sie aber nicht. Es konnten auch noch nicht alle Bücher und Gegenstände der alten Welt vernichtet werden. Die Welt ist im Wandel und der ist noch nicht abgeschlossen. Hier zeigt Orwells Klassiker: das geht nicht von heute auf morgen. Und lässt eine düstere Vorahnung durchscheinen: wie lange dauert es wohl noch bis man Menschen vernichtet, die die alte Welt noch kennen? Aber halt … Andersdenkende werden ja schon längst vernichtet. Vaporized.

Beklemmend

So fühlt es sich an 1984 zu lesen: wirklich beklemmend. Und es kommt einem bekannt vor. Zwar kenne ich (bisher) keine der Verfilmungen des Stoffs, aber es ist ganz deutlich, dass sich Filme wie Equilibrium einiges bei 1984 abgeschaut haben. Mal abgesehen von Storys die viele kennen wie den Apple-Werbespot, der an 1984 angelehnt ist, ist außerdem auffällig, dass doch recht viele Sprüche und Schlagworte im Buch zu finden sind, die zu unserem Wortschatz gehören. Die uns durch die Medien schon längst begegnet sind. Die man mal in Gesprächen irgendwo hört. Beispielsweise der Satz, dass die Uhr 13 schlägt oder „BIG BROTHER IS WATCHING YOU“.

Was mir fehlt ….

Revolte! Auflehnung! Wo sind die Andersdenkenden außer Winston? Sind die schon alle vaporisiert worden? Winston ist kein Held. Winston ist ein Antiheld. Er ist phlegmatisch, er ist vorsichtig. Und das muss er auch sein. Aber ich warte darauf, dass er eine Untergrundorganisation trifft. Revoluzzer. Wo sind sie? Gibt es die Brotherhood? Wo sind sie??? Es muss die doch geben? Das erste Drittel des Buches ist eine konsequente Schilderung der Welt, aber gegen Ende des ersten Teils hat mir das nicht mehr gereicht. Ich wollte nicht noch mehr Horrorstorys dieser nicht-lebenswerten Welt. Ich wollte Fortschritte. Aber da ich inzwischen etwas weitergelesen habe, weiß ich, dass die kommen.

Besonderheiten des gemeinsam lesens

Zu den kleinen Besonderheiten des gemeinsamen Lesens zählt auch, was man denn genau liest. Bei den letzten beiden Leseaktionen mit Kathrin hatten wir sogar dieselben Ausgaben vorliegen. Der Bonus: bei Angabe der Seiten wussten wir immer ganz genau, an welcher Stelle die andere gerade ist. Diesmal haben wir drei aber drei verschiedene Ausgaben vorliegen – spannend! V.A. weil Kathrin und ich englisch lesen und Svea deutsch. Irgendwie witzig und man lernt im besten Fall die deutschen Entsprechungen von Newspeak gleich mit. Orwells dicht konstruierte Welt zu übersetzen hat mit Sicherheit Fingerspitzengefühl benötigt.

Dazu kommen dann auch die individuellen ‚Lesegeschichten‘. Ich habe beispielsweise anfangs total verschwitzt, dass wir ja eine Leseaktion geplant hatten (Sorry!!) und habe schon Mal ein paar Seiten gelesen. Da war es übrigens der 4. April. Derselbe Tag an dem Winston im Buch beginnt sein Tagebuch zu schreiben. Und ich saß in einem Flugzeug. Für diejenigen die es interessiert hier übrigens die Eckdaten meiner Ausgabe:

1984, George Orwell, Sprache: Englisch, Verlag: Penguin Books, 2008, ISBN: 978-0-141-03614-4

Zu den bisherigen Artikeln

Kathrin 29.04. Ankündigung

Kennt ihr das Buch schon? Was hat es für einen Eindruck auf euch gemacht? (Aber bitte keine Spoiler.) Habt ihr schon die Verfilmungen gesehen und welche ist in euren Augen die sehenswerteste? Lust aufs gemeinsam lesen bekommen? 🙂

13 Antworten

  1. Avatar von fassung
    fassung

    Die (Akzeptanz der) Ausweglosigkeit des Systems empfinde ich als niederdrückend.
    Interessant und unterhaltsam emfand ich mitunter die Parallelen zur aktuellen Gesellschaft – insbesondere unter Berücksichtigung, dass das Buch 1950 geschrieben wurde. (Wir gehen mal nicht davon aus, dass das Buch im Nachhinein ohne Hinweis rektifiziert wurde. ;)) Die Wechselwirkung zwischen einer Gesellschaft und ihrer Sprache ist auch ein interessanter Gedanke. Russisch soll z.B. sehr logisch aufgebaut sein.
    Die Verfilmung aus dem Jahre 1984 empfand ich als beeindruckend. Die anderen Verfilmungen kenne ich nicht.
    Wann ist denn der Artikel zu Part II bei euch geplant?

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ja, das ist auch das was mich am meisten schockt. Wie Winston frage ich mich, ob die anderen Leute keine Erinnerungen und keine Neugier haben? Haben sie nicht das Gefühl, dass das Leben mehr für sie bereithalten muss? Oder was denken sie, wenn sie Liedern begegnen die die proles singen? Regt sich da nix bei ihnen? Kann man das echt so abtöten?
      1950 bzw. so um 1948 entstanden, weswegen wohl auch vermutet wird, dass der Buchtitel ein Zahlendreher in Anlehnung an das Entstehungsjahr ist. Ich habe gerade erst angefangen ein bisschen über die Entstehung und die geschichtlichen Bezüge zu lesen, weil ich nicht in Spoiler rennen will. Aber dass das Rausretuschieren in Ungnade gefallener Personen beispielsweise in der Sowjetunion so gehandhabt wurde, fand ich schon … interessant. Genau wie die aktuellen Bezüge, die du schon angesprochen hast. Oh man… der Überwachungsstaat und so. :-/

      Über Russisch weiß ich so ziemlich gar nichts! Newspeak ist ja auch schön logisch, aber hat auch diese eingeimpfte Doktrin. Schönes Beispiel wie Sprache beeinflusst.

      Öhm. Bei uns ist eigentlich gar nichts durchgeplant. 🙂 Jeder liest so wie er gerade Zeit findet. Wir teilen es auf Twitter unter dem Hashtag wenn wir wollen und wenn uns danach ist, dann schreiben wir in den Blogs eine Zusammenfassung. Da ich gerade Urlaub hatte, kam ich viel zum lesen und ich schätze mal, dass ich meinen zweiten Artikel jetzt irgendwann schreibe und vielleicht in der ersten Juni-Woche online schicke.

  2. Es ist ewig her, dass ich das Buch gelesen habe, sollte ich vielleicht mal rereaden. Newspeak ist auch deshalb besonders interessant, weil man inzwischen weiß, dass die Sprache tatsächlich die Wahrnehmung und die Denkweise beeinflusst. Ich hab ein Buch auf meiner Liste, in dem es unter anderem darum geht: Through the Language Glass. Bin sehr gespannt darauf.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Mensch, das wär doch gewesen, wenn du bei unserer Leseaktion mitgemacht hättest 😉 Wobei du wahrscheinlich viel schneller als wir fertig geworden wärst XD Aber so ne Leseaktion … 🙂 Du bist glaube ich nicht mehr in dem Goodreads-Buchclub oder? Wenn du mal Bock auf ein gemeinsames Lesen hast und wir ein Buch finden, dass wir beide Lesen wollen, würde ich mich freuen. 🙂

      Das mit dem Buch klingt sehr interessant! Muss ich mal nachschlagen – du hast es auch noch nicht gelesen, oder?
      Kann mir das nämlich sehr gut vorstellen, dass Sprache auch den Menschen formt. Im Prinzip verbirgt sich ja in Newspeak diese ganze Doktrin und das eingeimpfte Gesellschaftsbild, inklusive der Vorstellung was gut und schlecht ist. Schon ziemlich krass. Ich bewundere sehr wie Orwell darauf gekommen ist und das gebildet hat.

      1. Nee, die Lesegruppe hat sich ja selbst zerstört 😉 Das können wir gerne einmal machen 🙂 Ja, auf das Buch bin ich sehr gespannt. Ich hab nur so extrem viele Bücher, die ich gerade dringend lesen möchte 😉

        1. Avatar von Miss Booleana
          Miss Booleana

          Ach die hat sich selbst zerstört?? Oh schade 🙁
          Lass mich mal wissen, wenn ein Buch auf deinem SuB ganz oben liegt, dass ich zufällig auch auf der Liste haben könnte 😉

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