Ah … endlich wieder ein Murakami. Zwar habe ich den Roman schon vor einigen Wochen gelesen, aber die Review passt doch ganz gut in den Kalender. Schließlich wurde bei dem Rätselraten darüber wer den Literatur-Nobelpreis dieses Jahr bekommen wird wieder der Name Murakami in den Raum geworfen. Nun, er bekommt ihn wieder nicht wie wir inzwischen erfahren haben. Tatsächlich bin ich mir auch unsicher, was einen Literatur-Nobelpreis ausmacht – wie muss so ein Buch sein? Ihr könnt mich meinetwegen mit Mistgabeln und brennenden Fackeln verfolgen, aber ich wüsste nicht, welches Buch ich als solches erwarten würde. Ein interessantes. (Klingt banal.) Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt war interessant. So wie viele Murakami-Romane. Sie sind immer wieder so als ob man ein seltenes Tier beobachten würde. Eins von dem es nicht mal Abbildungen in Büchern, Wikipedia oder Suchmaschinen gibt. Aber irgendwie gefallen mir seine Bücher auch ohne das Label Nobelpreis und kommen mir dann ein bisschen mehr wie ein geheimer Schatz vor.
Hard-Boiled Wonderland ist die Realität unseres namenlosen Protagonisten, der sich im Tokyo der nahen Zukunft durch seinen Alltag schlägt. Er ist Kalkulator, d.h. er verschlüsselt Daten allein mit seinem Kopf. Das ist eine zuverlässige Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, die nicht über das Internet übertragen muss. Tatsächlich redet kaum einer vom Internet in diesem Buch. Da aber nur er die Daten entschlüsseln kann, ist sein Beruf nicht ganz ungefährlich. Will jemand die Daten, dann trachtet man ihm ggf. nach dem Leben. Und so kommt es, dass er nach einem Job für einen Professor, der im Untergrund an der Wahrnehmung der Menschen forscht und Schädel zum klingen bringt (wortwörtlich), zur Zielschreibe feindlicher Firmen wird. Während er für das System arbeitet, sind auch die von der Fabrik hinter den entschlüsselten Daten her. Oder wollen sie an den Einhornschädel, den der Alte ihm geschenkt hat?
Zeitgleich lernen wir auch Das Ende der Welt kennen, eine zweite Geschichte, die sich im Roman kapitelweise mit Hard-Boiled Wonderland abwechselt. Der Protagonist ist ebenso namenlos, das Setting komplett anders. Die Welt wirkt reduziert, fast mittelalterlich. Von einer hohen Mauer umgeben, es gibt Wälder und einen Fluss, einen Uhrenturm im Zentrum. Und Einhörner. Unser Held in dieser Welt bekommt eine Aufgabe. Er wird Traumleser. Und er liest sie aus Einhornschädeln. Er kann es kaum in Frage stellen, was er da tut. Schließlich hat er keine Erinnerung an sein Leben bevor er in die Stadt kam. Er hat sie mit seinem Schatten zusammen am Tor beim Wärter abgeben müssen. Aber da sind all die brennenden Fragen. Was ist außerhalb der Mauer? Warum muss er denn überhaupt seinen Schatten zurücklassen? Und wie lang wird der ohne ihn überleben?
Murakami at its best. Klingt surreal? Ist es. Man merkt schon – es gibt Schnittpunkte zwischen beiden Realitäten. Letztendlich wird man sich nicht nur der Frage stellen müssen, was die beiden Protagonisten miteinander zutun haben, sondern man wird sich fragen müssen, sind sie ein- und dieselbe Person? Das hat der Murakami wieder ganz interessant arrangiert. Der Roman ist von 1985 und gilt als einer der Klassiker unter den Murakami-Romanen und als einer der ganz beispielhaften für sein Verzahnen von Alltagsgeschichten und Surrealismus. Wobei mich die Handlung stark an 1Q84 erinnert, das ich früher gelesen habe, das aber später erschien als Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt. Auch in 1Q84 wird ein männlicher Held, Tengo, unfreiwillig in ein großes Desaster verwickelt. Verschiedene Realitäten bzw. Welten spielen hier auch eine Rolle. Auch wenn ich den Held aus Hard-Boiled Wonderland für einen Schwätzer halte und Das Ende der Welt um ein vielfaches interessanter fand, ist unumstritten die Suche nach den Zusammenhängen und der Lösung das spannendste und der eigentliche Motor und Antrieb, der im Leser geweckt wird.
Wäre da nicht dieses interessante, unbekannte, rätselhafte, die Suche nach der Antwort und den Zusammenhängen, dann wäre es definitiv nicht mein Lieblings-Murakami. Das liegt an Hard-Boiled Wonderland. Ein Teil der Geschichte, der mich nicht nur wegen des unsympathischen Protagonisten abgestoßen hat, sondern auch wegen des Surrealismus, der hier mir hier wenig gefiel und den ich schwerer akzeptieren konnte. Die Ursache liegt zum einen in der Darstellung des Daten-Krieges. Zwar erinnert mich der Gedanke des Menschen als Datenträger oder Verschlüsselungsmechanismus an den Film Vernetzt – Johnny Mnemonic und ich finde den Gedanken spannend, aber das alles wird so abgesondert von Computern, Internet und Algorithmen dargestellt, dass ich als Softwareentwicklerin das weder als real, noch als surreal wahrnehmen kann. Es ist für mich weder Fisch, noch Fleisch. Dazu der Gedanke, dass fischähnliche, menschenfressende Wesen unterhalb von Tokyo hausen und er und die Enkelin des Professors durch glitschige Gänge eilen, das war mir zuviel creature horror und zu wenig Erklärung. Was mich all das bei 1Q84 besser akzeptieren ließ, obwohl es doch so ähnlich war, kann ich kaum erklären. Das Ende der Welt hat mich hingegen auch auf literarischer und sprachlicher Ebene mehr angesprochen. Die Sinnsuche und die Metaphern dieser kargen Welt, gaben Hard-Boiled mehr Tiefe als die Handlung erst vermuten lässt.
„Dann gab er mir eine Brille mit dunklen Gläsern und sagte, dass ich sie außer beim Schlafen ständig tragen müsste. So verlor ich das Sonnenlicht.“ (Das Ende der Welt, S. 50)
Das Ende der Welt konfrontiert uns letztendlich, ohne spoilern zu wollen, mit einem ganz interessanten Gedankenexperiment. Ist eine Welt ohne Wünsche, Lustempfinden oder Gefühle, ohne Erfahrungen, ohne Seele – wenn man es so zusammenfassen möchte, eine ruhigere? Friedlichere? Eine der zentralen Fragen, die sich der Protagonist stellen muss. Und das zu einem Zeitpunkt an dem der Leser schon weiß, wie die möglichen Entscheidungen des Helden enden und beide mit diesem Wissen irgendwie hoffnungslos wirken. Das Zusammenspiel aus allem und v.A. das Entschlüsseln der Zusammenhänge macht Hard-Boiled Wonderland einfach zu einem interessanten Buch, das trotz murakami-typischer Motive (Surrealismus, Kreaturen, Parallelwelten bzw. Welten außerhalb der Wahrnehmung der Menschen, viel italienisches Essen, Whiskey, alte Filme, sowjetische Literatur und klassische Musik, Sex, … ich könnte noch so weitermachen) wirkt wie etwas noch nie dagewesen. Etwas Neues, das man enträtseln will. Und trotz allem, was mir an dem Buch nicht in den Kopf gehen wollte, was mich sogar genervt hat (Stichwort ‚Schwärzlinge‘), konnte ich nicht aufhören zu lesen. Das ist dieses Ding mit Murakamis Büchern. Das ist aber zu schwer greifbar und zu schwer zu erklären, um es mit sowas wie einem Literatur-Nobelpreis zu labeln. Kein Wunder also, dass er ihn wahrscheinlich nie bekommen wird. Fun-Facts am Rande: der Übersetzer des Hard-Boiled Wonderland-Teils war mit Änderungen an der aktualisierten Version nicht zufrieden und möchte daher nicht genannt werden. Und laut Buch kommen Einhörner aus der Ukraine.
Fazit
Großer Tipp für alle, die Surrealismus mögen.
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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